Neu im Kino/FIlmkritik: „Drive“ – Endlich startet die James-Sallis-Verfilmung bei uns

Es hat lange gedauert, bis „Drive“ verfilmt wurde. Denn Hollywood hatte die Filmrechte an dem Noir von James Sallis bereits nach seinem Erscheinen 2005 gekauft.
In dem 160-seitigem Buch erzählt James Sallis schnörkellos die Geschichte eines namenlosen Fluchtwagenfahrer, der nach einem Überfall in eine Gangsterfehde verstrickt wird und, mit sehr ungewissen Überlebenschancen, um sein Leben kämpfen muss. „Drive“ ist auch sein zugänglichstes Buch und mit diesem Roman wurde Sallis, nachdem seine vorherigen Krimis bereits für entsprechende Krimipreise nominiert waren, auch für ein breiteres Publikum ein bekannter Name.
Hollywood dachte wohl, dass das mit Lob überhäufte Buch einfach zu verfilmen sei. Eine einfach Gangstergeschichte. Ein schmales Buch. Kurze Kapitel. Viele Dialoge. Das müsste doch ganz einfach gehen. Aber es dauerte dann doch sechs Jahre, in denen man immer wieder etwas von einer geplanten Sallis-Verfilmung hörte, bis der Film fertig war.
Eine lange Zeit.

Aber das Warten hat sich gelohnt.
Denn Regisseur Nicolas Winding Refn („Pusher“, „Bronson“) zaubert mit Hauptdarsteller Ryan Gosling (zuletzt „The Ides of March“) einen schnörkellosen Oldschool-Gangsterfilm mit guten Schauspielern, schönen Bildern, atmosphärischer Musik und extrem wenigen Dialogen, der, wie schon die im Gegensatz zum Film nicht chronologisch erzählte Vorlage, weniger an Innovationen, die oft ja nur Pseudo-Innovationen sind, und überraschenden Wendungen, sondern am Erzählen einer bekannten Geschichte mit einem neuen Touch und einem Spiel mit den Konventionen des Genres und den Erwartungen des genrekundigen Zuschauers, der natürlich die Vorbilder und Inspirationen identifizieren kann, interessiert ist.
Denn der titelgebende, namenlose Driver ist ein Profi, der vor allem deshalb bis jetzt überlebt hat, weil er der Beste ist und sich bislang keine Emotionen leistete, wozu auch ein Leben in selbstgewählter Einsamkeit zwischen seinen Jobs als Automechaniker, Stuntman und Fluchtwagenfahrer zählt.  Dass er einen bösen Fehler begeht, als er seiner neuen Nachbarin, der alleinerziehenden Irene (Carey Mulligan), hilft, ist von der ersten Zehntelsekunde an offensichtlich. Zuerst hilft er ihr nur bei ihrem Auto, dann wird er zum Ersatzvater für ihr Kind und am Ende will er ihrem gerade aus dem Knast entlassenem Mann Standard (Oscar Isaac), der bei einigen Gangstern Schulden hat, die er mit einem Überfall begleichen kann, helfen.
Der Driver hilft bei dem Überfall, der mit dem Tod von Standard endet und er hat plötzlich eine Tasche voller Geld, das er gar nicht will, und einen Haufen Gangster, die ihn nur umbringen wollen, an der Backe.
Dass er nur seine Ruhe haben will, verstehen die Gangster nicht und Genrefans können sich an einer spiegelbildlichen Variation der Richard-Stark-Verfilmungen „Point Blank“ und „Payback“ erfreuen.
Daneben erinnert „Drive“ natürlich, um nur einige der offenkundigen Referenzen, die Refn geschickt verarbeitet, zu nennen, an Walter Hills „Driver“ über das archetypische Duell zwischen einem Fluchtwagenfahrer und einem Polizisten, William Friedkins Gerald-Petievich-Verfilmung „Leben und Sterben in L. A.“ oder die Filme von Michael Mann. Vor allem natürlich „Heat“ und „Collateral“.
Nicolas Winding Refn erzählt diese altbekannte Geschichte, nach einem Drehbuch von Hossein Amini („Die Flügel der Taube“, „Killshot“ und gerade an einer Adaption von John le Carrés „Verräter wie wir“), in kühl stilisierten Bilder von Los Angeles, in denen er  eine Geographie der Stadt, vor allem der Vororte und Industrieviertel, in die kein Tourist sich freiwillig verirrt, zeichnet. Das ergibt das Bild einer Stadt, die sich, wie das Leben des Drivers, nur an ihrer Funktionalität orientiert, bis man eine Sekunde zögert.
Dazu gibt es Retro-Klänge von Cliff Martinez, lange Autofahrten, einige schockierende Gewaltausbrüche und einige, wenige, knappe Dialoge. Neben dem grandiosen Stummfilm „The Artist“ dürfte „Drive“ in diesem Kinojahr der dialogärmste Film sein.
„Drive“ ist ein feiner Film, der in den vergangenen Monaten überall so abgefeiert wurde, dass es fast schon ein Wunder ist, dass er nicht gegenüber den hohen Erwartungen enttäuscht.

Drive (Drive, USA 2011)
Regie: Nicolas Winding Refn
Drehbuch: Hossein Amini
LV: James Sallis: Drive, 2005 (Driver, später wegen des Films „Drive“)
mit Ryan Gosling, Carey Mulligan, Bryan Cranston, Albert Brooks, Oscar Isaac, Christina Hendricks, Ron Perlman, Kaden Leos
Länge: 101 Minuten:
FSK: ab 18 Jahre

Vorlage
James Sallis: Drive
Poisoned Pen Press, Scottsdale/Arizona 2005

Deutsche Erstausgabe
Driver
(übersetzt von Jürgen Bürger)
Liebeskind, 2007
160 Seiten

Taschenbuchausgabe bei Heyne unter dem Originaltitel und jetzt auch mit einem neuen Cover

Heyne, 2012
160 Seiten
7,99 Euro

Hinweise

Amerikanische Homepage für „Drive“

Deutsche Homepage für „Drive“

Film-Zeit über „Drive“

Rotten Tomatoes über „Drive“

Wikipedia über „Drive“ (deutsch, englisch)

Cannes: Presseheft für „Drive“

Homepage von James Sallis

Thrilling Detective über Turner

Eindrücke vom Berlin-Besuch von James Sallis

Meine ‘Besprechung’ von James Sallis’ „Deine Augen hat der Tod“ (Death will have your eyes, 1997)

Meine Besprechung von James Sallis’ „Driver“ (Drive, 2005)

Meine Besprechung von James Sallis’ „Dunkle Schuld“ (Cypress Groove, 2003)

Meine Besprechung von James Sallis’ „Dunkle Vergangenheit“ (Cripple Creek, 2006)

Meine Besprechung von James Sallis‘ „Dunkles Verhängnis“ (Salt River, 2007)

Meine Besprechung von James Sallis‘ „Der Killer stirbt“ (The Killer is dying, 2011)

James Sallis in der Kriminalakte

7 Responses to Neu im Kino/FIlmkritik: „Drive“ – Endlich startet die James-Sallis-Verfilmung bei uns

  1. […] Cliff Martinez spricht über seine Musik für die James-Sallis-Verfilmung „Drive“ […]

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  3. […] Elmore-Leonard-Verfilmung „Killshot“ und Nicolas Winding Refns James-Sallis-Verfilmung „Drive“. Jetzt wollte ich wissen, wie sie die Geschichte von Schneewittchen und den sieben Zwergen […]

  4. […] dass Nicolas Winding Refn, der Regisseur der „Pusher“-Trilogie und der James-Sallis-Verfilmung „Drive“, Regie […]

  5. […] einer Novelle, wirklich Spaß; – auch wenn ich beim Lesen immer die Verfilmung „Drive“ von Nicolas Winding Refn mit dem grandiosen Ryan Gosling als Fahrer im Kopf hatte und „Driver […]

  6. Ritter sagt:

    1 Punkt zum Inhalt: Gewalt-Lektüre und Filmisches aus den Staaten gibt es en masse – alles ist in Driver schon dagewesen. Es fehlt dem Text an Originalität. Der Autor beschränkt sich eben nur auf 160 Seiten. Ging die „Luft“ aus? Ein 160-Seiten-Krimi von deutschen Autoren wird kaum unter Vertrag genommen. Große Publikumsverlage wollen zudem nicht selten schon 5 bis 8 Seiten Exposé.
    Der Autor versucht kaum, Haupt- und Nebenpersonen psychologisch überzeugend darzustellen – sie vegetieren dahin, mordend oder sich aus der Affäre lavierend. Gleich von Beginn an fängt es an zu bluten, und auf Seite sieben eine Art Höhepunkt – möglicherweise ist Sallis mit seinem oft trashigem Jargon zufrieden. Und die Leser? Beispiel: „Blut als seiner Halswunde hatte sich im Waschbecken gesammelt als dicker Pudding (!) …“
    Abgesägte Schrotflinten reißen große Wunden – patronierte Munition lässt den Gewehrlauf Eisen und Blei ausspucken, und zwar aus nächster Nähe. Die Wirkung wird allzuoft gravierend beschrieben – woher soll die „rote Suppe“ denn auch kommen! Erkennbar wird zudem Sallis´ „Schmalspurballistik“ als Recherche. Frage an Sallis: „Wozu gibt´s Kurzwaffen? Im Bundesstaat Arizona benötigt man keinen Waffenschein.“
    Zum Glück gibt es Leser, die mit 1 Stern bewerten. Anders in Thrillern mit Substanz: „Antiquitätenmarder … noch lebe ich!“
    Lizenzankauf bleibt attraktiv – er ist eben wirtschaftlicher, als sich z. B. mit „Newcomer-Texten lektoratsseitig auseinanderzusetzen. Vergessen werden Probleme bei Übersetzungen.Fakt ist, bei „Driver“ wäre noch viel zu feilen, nicht nur auf Seite 8: „Dann hörten die Geräusche auf. Überhaupt kein Gefühl mehr im Arm. Er hing einfach nur bewegungslos da …“ Und dann das inflationäre „Hatte“ …

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