„Was ist Spannung?“, fragte dpr vor einigen Tagen in die Runde. Ich schrieb, Larry Beinhart zitierend, Spannung sei „die Ankündigung – oder Drohung, Verlockung oder Andeutung -, dass etwas geschehen wird.“
Ein gelungenes Beispiel für Beinharts These liefert H. R. F. Keating mit „Inspector Ghote reist 1. Klasse“. Dieser Kriminalroman hat keine Toten, keine wilden Verfolgungsjagden (naja, einmal muss Inspector Ghote einem Zug nachlaufen), keine Action und auch kein Rätsel. Denn das Ende ist von der ersten Zeile an offensichtlich.
Und trotzdem ist diese fast vierzig Jahre alte Geschichte spannend. Das liegt an der genial einfachen Konstruktion der Geschichte.
Inspector Ghote soll in Kalkutta den verhafteten Schwindler Battacharya abholen. Ghote beschließt mit dem Zug von Bombay nach Kalkutta zu fahren. Die Times of India bringt eine kleine Meldung mit einem Bild von Ghote. Ganz in der Nähe von Ghotes Büro liest der Schwindler Battacharya – in Kalkutta wurde der falsche Mann verhaftet – die Meldung und er beschließt, incognito mit Inspector Ghote zu reisen. Er verkleidet sich und setzt sich neben den nichts ahnenden Inspector Ghote.
Die gesamte Hinfahrt wird von der Frage beherrscht, wie (dass Ghote Battacharya enttarnt ist klar) er den Schwindler enttarnt.
Am Ende der Fahrt verhaftet Ghote Battacharya. In diesem Moment sind wir genau in der Mitte der des Romans. In der zweiten Hälfte schildert Keating die Rückfahrt. Jetzt will Battacharya flüchten. Außerdem soll Ghote ihn zu einem Geständnis bewegen.
Am Ende der Fahrt kann Ghote den Schwindler seinen Kollegen übergeben.
Das ist die auf knapp 200 Seiten erzählte Geschichte.
Auch das Ende – immerhin hat niemand ernsthaft geglaubt, dass Ghote den Bösen entwischen oder sich von ihm korrumpieren lässt – ist absolut nicht überraschend, aber befriedigend.
Warum ist das so?
Keating, einer der Großen der britischen Kriminalliteratur und langjähriger Krimikritiker der „Times“, beherrscht die Grundlagen. Gleich auf der ersten Seite verspricht er uns ein Duell zwischen einem kleinen, unauffälligen Inspector, der Stolz darüber ist, dass sein Bild in der Zeitung erschien, und einem begnadeten, aber überheblichen Schwindler. Es ist ein Kampf zwischen David und Goliath, der für Ghote noch aussichtsloser ist, weil Battacharya ihn einfach nur düpieren will. Ghote hat eigentlich keine Chance zu gewinnen.
Als Leser verfolgen wir die erste Runde des Duells. In ihm muss Ghote Battacharya enttarnen. Weil er ein guter Beobachter ist, gelingt es ihm. Auf der Rückfahrt muss er eine Flucht verhindern. Auch hier hat Battacharya wieder ein vollkommen anderes, ebenso genau definiertes Ziel. Er will flüchten. Dabei ist er, im Gegensatz zu dem unbeholfenen, gewöhnlichen Ghote, ein welterfahrener Charmeur. Die Mitreisenden lassen sich gerne von ihm blenden. Außerdem behauptet Battacharya, dass er Verbündete habe, die ihm helfen würden. Kurz: Ghote ist bei dieser langen Zugfahrt vollkommen auf sich allein gestellt.
Als Leser wollen wir jetzt wissen, wie Ghote die Flucht von Battacharya verhindert.
Dabei können wir nur auf eines Vertrauen: H. R. F. Keating als Lokführer wird uns sicher zum Ziel bringen.
Und das ist das Geheimnis von Spannung: Am Anfang verspricht uns der Autor ein spannendes Abenteuer. Wir folgen ihm. Und am Ende bringt er uns wieder sicher zurück. Er löst das anfangs gegebene Versprechen auf eine abenteuerliche Zugfahrt ein.
H. R. F. Keating: Inspector Ghote reist 1. Klasse
(übersetzt von Mechtild Sandberg-Ciletti)
Unionsverlag, 2007
192 Seiten
9,90 Euro
Originalausgabe:
Inspector Ghote goes by train
Collins, London, 1971
Deutsche Erstausgabe:
Inspector Ghote reist 1. Klasse
Rowohlt, 1975
Die Übersetzung wurde für die aktuelle Ausgabe überarbeitet und ergänzt.
Weitere Informationen:
Unionsverlag über Keating:
http://unionsverlag.ch/info/person.asp?pers_id=1750
Krimi-Couch über Keating:
http://www.krimi-couch.de/krimis/h-r-f-keating.html
Wikipedia (englisch) über Keating:
http://en.wikipedia.org/wiki/H._R._F._Keating
H. R. F. Keating empfiehlt 100 Kriminalromane: http://www.classiccrimefiction.com/keating100.htm
Das Zitat von Larry Beinhart ist aus seinem empfehlenswerten Buch „Crime – Kriminalromane und Thriller schreiben“ (How to write a Mystery, 1996)
