Im Verhörzimmer: Kristina Schippling über ihren Roman „Intoxikation“

Mai 13, 2024

Mitten in der Nacht hört Kara Kowalski in ihrem Atelier ein Geräusch. Sie sieht eine Gestalt, hält sie für einen Einbrecher und stößt ihn über das Treppengeländer. Als die Malerin das Licht einschaltet, sieht sie, dass der Einbrecher ihr Ex-Freund Leon Löschner ist. Weil sie befürchtet, dass sie als Mörderin angeklagt und ihre Karriere als erfolgreiche Künstlerin vorbei wäre, ruft sie nicht die Polizei an, sondern versteckt die Leiche in ihrer Badewanne. Mit der Hilfe verschiedener Chemikalien will sie die Leiche spurlos in die Kanalisation verschwinden lassen.

Kurz darauf erhält sie eine Erpresser-E-Mail mit einem Video, das sie mit der Leiche zeigt. Als sie die Epresserin kennen lernt, verliebt sie sich sofort in die gut aussehende, jüngere Malina Morgenstern und will ihr bei der Publikation ihres ersten Romans helfen. Diese scheint ihre Gefühle zu erwidern.

Mit ihrem Psychothriller „Intoxikation“ haben Kristina Schippling und Matthias A. K. Zimmermann einen Berlin-Krimi geschrieben, der mit einigen ungewöhnlichen Figuren und unvorhersehbaren Wendungen prächtig unterhält und nichts mit dem deutschen Krimieinerlei von Serienkillerthrillern, Regiokrimis und Krimischnurren zu tun hat.

„Intoxikation“ beginnt als fast normaler Kriminalroman mit einer Mörderin, einer Erpresserin, neugierigen Nachbarn und einem penetranten Kommissar. Dann schwenkt er Richtung Psychothriller, zwinkert Richtung Magischem Realismus und endet als Horrorroman.

Für die Kriminalakte war das ein guter Grund sich mit Kristina Schippling über „Intoxikation“, ihre Zusammenarbeit mit Matthias A. K. Zimmermann und ihre weiteren Arbeiten, wie den hochgelobten Dokumentarfilm „The Sound of Cologne“ über die aus Köln kommende elektronische Musik, zu unterhalten.

Das Interview wurde am 2. Mai 2024 in Berlin (Moabit) aufgezeichnet.

Kristina Schippling/Matthias A. K. Zimmermann: Intoxikation

Kulturverlag Kadmos, 2024

336 Seiten

25 Euro

Lesung

Am Donnerstag, den 6. Juni 2024, stellt Kristina Schippling im Buchstabenmuseum (Stadtbahnbogen 424, Hansaviertel, 10557 Berlin, Nähe S-Bahnhof Bellevue, Nähe U-Bahnhof Hansaviertel) um 18.00 Uhr im Rahmen einer Type&Wine-Veranstaltung ihren Roman „Intoxikation“ vor. Anmeldung zur Lesung hier.

Im Roman besuchen Kara und Malin, frisch verliebt, einmal das Buchstabenmuseum und sehen sich die Ausstellung an.

Hinweise

Kulturverlag Kadmos über den Roman

Homepage von Kristina Schippling

Homepage von Matthias A. K. Zimmermann

Wikipedia über Kristina Schippling und über Matthias A. K. Zimmermann


Impressionen aus Berlin: Diskussionskultur

April 1, 2024


Frohe Ostern!

März 31, 2024


Impressionen von der Leipziger Buchmesse 2024: Lauter nette Krimiautor*innen

März 24, 2024

Nächstes Jahr sollte ich auf der Leipziger Buchmesse endlich die vielen Cosplayer*innen aus dieser und allen anderen Welten fotografieren. Die scheinen das Posieren zu genießen. Deadpool – auch ihn habe ich auf der Messe gesehen – wohl auch.

Dieses Jahr habe ich Interviews mit Christine Lehmann (über „Alles nicht echt“), Stefán Máni (über „Abgrund“) und Anthony J. Quinn (über „Frau ohne Ausweg“) geführt. Ich muss sie die Tage noch etwas bearbeiten.

Bis dahin gibt es einige Schnappschüsse von gutgelaunten Krimiautor*innen mit ihren neuesten Kriminalromanen. In alphabetischer Reihenfolge:

Frauke Buchholz ist mit „Skalpjagd“ (Pendragon) am Ende einer Trilogie um den kanadischen Profiler Ted Garner, die vielleicht doch eine aus vier (oder mehr) Romanen bestehende ‚Trilogie‘ wird. Sie meinte, es gebe noch offene Fragen.

Jürgen Heimbach entführt uns in seinem neuen Krimi „Waldeck“ (Unionsverlag) in die sechziger Jahre zum ersten Burg-Waldeck-Festival. Während dort noch heute bekannte Musiker klampfen, sucht Journalist Ferdinand Broich einen untergetauchten SS-Arzt.

Chrstine Lehman lässt in ihrem 13. Lisa-Nerz-Krimi „Alles nicht echt“ (Ariadne) ihre Heldin in der Nachrichtenredaktion eines ÖRR-Senders ermitteln. Sie soll herausfinden, wer einige Daten aus dem Sender geklaut hat. Kurz darauf sucht sie einen Mörder.

Stefán Máni führt in Island seinen jungen Helden an den „Abgrund“ (Polar). Der Naivling glaubt, irgendetwas mit dem Verschwinden einer jungen Videothek-Mitarbeiterin zu tun zu haben. „Abgrund“ ist auch der erste Roman mit Kriminalpolizist Hörður Grímsson.

Anthony J. Quinn ist mit einer untergetauchten, aus Osteuropa kommenden „Frau ohne Ausweg“ (Polar) und seinem Ermittler Celcius Daly im irisch/nordirischen Grenzgebiet unterwegs. Daly sucht den Mörder ihres Zuhälters. Troubles garantiert

Das sind jetzt mindestens fünf leichengesättigte Lesetipps für den qualitätsbewussten Krimifan.


Impressionen aus Berlin

März 18, 2024

Zwischen „Ghostbusters: Frozen Empire“ angucken und Leipziger-Buchmesse-Vorbereitungen. Wenn alles klappt, gibt es nach der Messe einige Interviews.


Impressionen aus Berlin: 8. März – Internationaler Frauentag

März 8, 2024

Ein Feiertag in Berlin. Trotzdem kein Demobild, sondern eine Wandmalerei.


Cover der Woche: Garry Disher: Moder

Februar 13, 2024

Der bislang letzte Wyatt-Roman: dieses Mal will Profieinbrecher Wyatt (kein Vorname) den betrügerischen Finanzberater Jack Tremayne ausrauben. Treymayne hat deswegen inzwischen Probleme mit dem Gesetz. Eine Haftstrafe droht ihm. Er will sie vermeiden, indem er mit einem Koffer voller Geld flüchtet. Dieses Geld will Wyatt klauen. Aber der einfache Einbruch läuft ziemlich schnell ziemlich spektakulär aus dem Ruder.

Moder“ stand 2019 auf der Shortllist für den Ned Kelly Award.

Garry Disher serviert in seinem neunten Wyatt-Krimi gewohnt spannende Lektüre. Der von ihm erfundene Profigangster ist erkennbar Parkers australischer Bruder ist und wer die Parker-Krimis von Richard Stark (Donald E. Westlake) liebt, wird auch Dishers Wyatt-Romane mögen.

Moder“ ist ein absoluter Lesebefehl für Fans von gut abgehangenen Hardboiled-Gangsterromanen.

Danach kann man die davor erschienenen acht Wyatt-Romane lesen. Die Reihenfolge ist egal.

Die deutschen Ausgaben sind bei pulp master erschienen. Und 4000 hat für alle das Cover gestaltet.

Das Foto von Garry Disher mit seinen damals neuesten Büchern „Moder“ und „Stunde der Flut“ (Unionsverlag, ein lesenswerter Polizeikrimi; ach eigentlich sind alle seine Bücher lesenswert) schoss ich im Oktober 2022.

Garry Disher: Moder

(übersetzt von Ango Laina und Angelika Müller)

pulp master, 2021

320 Seiten

14,80 Euro

Originalausgabe

Kill Shot

The Text Publishing Company, 2018

Hinweise

Homepage von Garry Disher

Wikipedia über Garry Disher (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Garry Dishers „Dirty Old Town“ (Wyatt, 2010)

Meine Besprechung von Garry Dishers „Kaltes Licht“ (Under the cold bright lights, 2017)

Meine Besprechung von Garry Dishers „Hitze“ (The Heat, 2015)

Garry Disher in der Kriminalakte

 


Impressionen aus Berlin: Von der #WirSindDieBrandmauer-Demonstration vor dem Bundestag

Februar 3, 2024

Einige Impressionen von der heutigen Demonstration #WirSindDieBrandmauer. Voll war es vor dem Bundestag. Nach Angaben der Polizei kamen 150.000 Menschen zur Demonstration. Das veranstaltende Bündnis Hand in Hand spricht von 300.000 Menschen. Die Stimmung war gut. Das Wetter weniger.

Hinweise

Homepage von Hand in Hand (veranstaltendes Bündnis)

RBB-Newsticker zur Demo (weil ich jetzt zu faul bin, einen langen Bericht über die Demo zu schreiben, heute jede Nachrichtenseite/-sendung darüber berichtet und in einem halben Jahr dieser Link als gut als Auffrischung dienen kann)


Impressionen aus Berlin: Schneeräumung?

Januar 19, 2024

Heute Nachmittag in Moabit; aber auch in anderen Kiezen sind Gehwege in Teilen zu regelrechten Eisbahnen geworden.

Aus mir unbekannten Gründen ist es in der Hauptstadt nicht möglich, den Schnee schnell zu räumen.


Impressionen aus Berlin

Januar 17, 2024

Ein großartiger Film.


1. 1. 2024

Januar 1, 2024


24. Dezember 2023

Dezember 24, 2023

Da war doch was?


Impressionen aus Berlin: Abendstimmung

November 13, 2023

Bei diesem Bild, gemacht auf dem Weg zur S-Bahn-Station Westhafen, wollte ich nur ausprobieren, was herauskommt, wenn ich direkt in die noch ziemlich hoch am Himmel stehende Abendsonne hineinfotografiere. Ich dachte, dass das ein weiteres „Aha, so geht es nicht.“-Bild wird.

Wurde es nicht.


Impressionen aus Berlin: Karlsruhe/Rastatt-Edition

Oktober 28, 2023

Ehe die Bilder auf meiner Festplatte den Weg ins digitale Vergessen finden, poste ich einige Postkarten-Impressionen von meinem jetzt auch schon gut zwei Wochen zurückliegendem Besuch in Karlsruhe und Rastatt (das Schloss, das Schloss, der Fluss):

P. S.: Also, ehrlich, wenn ein Postkartenverlag…


Im Verhörzimmer: Wim Wenders über “Anselm – Das Rauschen der Zeit”

Oktober 14, 2023

Kurz vor dem Kinostart von “Anselm – Das Rauschen der Zeit” durfte die Kriminalakte mit Wim Wenders über sein bildgewaltiges Künstlerporträt und seinen nächsten, in Japan spielenden wundervollen Film “Perfect Days” (Kinostart: 21. Dezember 2023) reden.

Anselm Kiefer ist einer der, vielleicht sogar der größte lebende deutsche Künstler. Er beschäftigt sich in seinem Werk immer wieder mit der deutschen Vergangenheit und deutschen Mythen. Über die überschwängliche Anerkennung im Ausland wurde er in den achtziger Jahren auch in Deutschland anerkannt. Die Verleihung des Wolf-Preises 1990 sorgte für eine weitere Revision der bundesdeutschen Kiefer-Rezeption. Gleichzeitig erweiterte Kiefer seinen Themenkreis von der deutschen Geschichte hin zu orientalischen Kulturen, jüdischer Mystik, Astronomie und Kosmogonien.

Seine Werk umfasst Fotografie, Künstlerbuch, Holzschnitt, Malerei, Skulptur, Bühnenbild, Installation und Architektur. Seine Werke sind oft sehr groß. In Barjac, das sich grandios als Kulisse für eine Spielfilm-Dystopie eignet, gibt es mehrstöckige Häuser, ein Amphitheater und viele weitere Installationen, die – wenn man nicht das Freilichtmuseum besuchen will – auf einer großen Kinoleinwand überwältigend gut aussehen. Wim Wenders zeigt das in „Anselm – Das Rauschen der Zeit“.

Wim Wenders ist ebenfalls Jahrgang 1945 und er ist einer der wenigen weltweit anerkannten und bekannten deutschen Regisseure. Zu seinen bekanntesten und wichtigsten Filmen gehören “Alice in den Städten”, “Im Lauf der Zeit”, “Der amerikanische Freund”, “Paris, Texas” und “Der Himmel über Berlin”. Noir-Fans lieben auch seine Joe-Gores-Verfilmung “Hammett”. Neben den Spielfilmen inszenierte er zahlreiche Dokumentarfilme, wie “Tôkyô-ga“, “Pina“, “Das Salz der Erde” und, zuletzt, “Papst Franziskus – Ein Mann seines Wortes“.

Wim Wenders über die erste Begegnung mit Anselm Kiefer und wie es zu „Anselm“ kam:

Das war im Februar 1991. Ich war damals in Berlin und habe einen meiner Filme geschnitten. Abends bin ich immer zu Fuß in mein Lieblingsrestaurant, das „Exil“, gegangen. Anselm hat zur gleichen Zeit mehrere Wochen lang seine Ausstellung in der Nationalgalerie vorbereitet. Eines Tages kam er in das „Exil“. Es war ihm wohl empfohlen worden. Es gab nur einen Tisch mit einem freien Platz. Das war meiner. Er hat sich zu mir hingesetzt. Ich wusste, wer er ist. Und er wusste wohl auch, wer ich war. Wir haben, etwas schüchtern, angefangen, uns zu unterhalten. Wir verstanden uns gut. Er bot mir sogar eine seiner Zigarren an. In der Zeit war das „Exil“ immer unglaublich verqualmt.

Am Ende des Abends verabredeten wir uns für den nächsten Abend. Das haben wir fast zwei Wochen lang gemacht und viel über uns erfahren.

In den zwei Wochen kam dann irgendwann der feste Plan für einen Film auf. Ich wusste, dass Anselm ein Maler war, der auch eigentlich Filme machen wollte. Er wusste, dass ich ein Filmemacher war, der eigentlich Maler werden wollte. Wir dachten, dass wenn wir zwei was machen würden, daraus etwas Interessantes entstehen könnte.

Das hat dann Gott sei Dank dreißig Jahre gedauert. Ich weiß nicht, was damals aus unserer Idee geworden wäre.

Über seinen ersten Besuch in Barjac, die Dreharbeiten und den Schnitt:

Vor dreißig Jahren wäre es jedenfalls ein völlig anderer Film geworden. Ich habe ja erst langsam die Möglichkeiten des Dokumentarfilm entdeckt. Dass ich „Anselm“ in 3D drehen würde, wusste ich nach meinem ersten Besuch in Barjac. 2019 lud mich Anselm dorthin ein. Er gab mir eine Karte vom Gelände und hat mich allein gelassen.

Das mache ich sehr gerne, dass mir niemand was erklärt und ich alles allein erkunde. Im Museum nehme ich keine Audioguides mit. Städte erkunde ich lieber mit einem Stadtplan als mit einem Navi. Ich möchte einfach gucken. Und wenn ich dann was verpasse, dann ist das völlig egal.

Ich verbrachte dann den ganzen Tag auf dem Gelände. Zehn Stunden. Es war ein schöner Sommertag. Ich habe mich in den Gängen verloren und musste manchmal wieder zurückgehen, um den Weg rauszufinden. Ich sah das Amphitheater, die ganzen Häuser und die Himmelspaläste.

Am Abend haben wir uns wieder gesehen. Und dann habe ich eigentlich gleich, als wir uns hingesetzt haben, gesagt: „Ich weiß, warum du mich eingeladen hast.“ Er sagte: „Ich werde älter und möchte nicht, dass wir den Film erst machen, wenn ich sowieso alles vergessen habe.“ Danach versprachen wir uns, dass wir bald mit dem Film anfangen würden.

Als ich das erste Mal in Barjac drehte, wusste ich noch nicht, wie der Film am Ende aussehen sollte. Ich sagte ihm, wann ich wo drehte. Beim Dreh im Odenwald war er nicht dabei. In Rastatt nur am Schluss. In Barjac haben wir sieben Mal gedreht. Während des zweieinhalbjährigen Drehs schnitten wir den Film. Der Rohschnitt hat dann beeinflusst, was wir drehten. So wussten wir irgendwann, dass auch Anselms Zeit im Odenwald und seine Kindheit in den Film gehörten.

Ganz am Schluss bemerkten wir, dass wir Anselm noch nicht in einer Ausstellung gezeigt hatten. Da erzählte er mir von seiner geplanten Ausstellung im Dogenpalast in Venedig. Diese Ausstellung war der letzte Dreh. Kurz danach war der Film fertig.

Im Nachhinein ist vielleicht einiges zu kurz gekommen. Aber ich wollte nicht alles zeigen. Ich will die Zuschauer mitnehmen in dieses Universum von Anselm Kiefer.

Über die Zusammenarbeit mit Anselm Kiefer:

Anselms Ästhetik ist in jedem seiner Gebäude und all seinen Werken, die in Barjac stehen. Barjac ist ein großes Gesamtkunstwerk, unter und oberirdisch.

Er arbeitet gerne alleine und mitten in der Nacht, wenn keine Seele mehr wach ist. Dann steigt er in seine Schluppen und zieht den Bademantel an. Er malt dann bis die Sonne aufgeht. Danach geht er wieder schlafen.

Auf die Gestaltung des Films hat er keinerlei Einfluss gehabt. Er wollte das auch absolut nicht. Er sagte mir: „Du sagst mir, was du drehen willst und dann bin ich da.“

Der einzige Widerspruch von ihm war, als er bei einem langen Gespräch sagte: „Findest du nicht auch, dass es das Langweiligste ist, einen Maler beim Malen zu sehen?“ Ich sagte ihm, dass ich ihm gerne dabei zusähe. Dann hat er ein bisschen gegrummelt, aber weil er mir ja vorher gesagt hatte, ich könne machen, was ich wolle, hat er letztlich zugestimmt.

Vor den Dreharbeiten: Gespräche mit Anselm Kiefer und die Bedeutung des Rheins für Kiefer und Wenders:

Zur Vorbereitung des Films haben Anselm und ich erst einmal lange geredet. Wir haben uns an zehn Tagen getroffen und für jeden Tag ein Thema gehabt. Wir haben uns ziemlich gut an das für den Tag vorgegebene Thema gehalten und in allen Facetten, auch mit Beispielen aus seinen Arbeiten, beleuchtet. Wir haben alles aufgenommen. Daraus wurden allen Ernstes 1200 Transkriptseiten, die mein Büro schreiben musste.

Aber es war gut, denn so musste ich ihn später nicht mehr über sein Leben und seine Ansichten befragen. Ich habe ihn auch beobachtet. Wenn man sich genauer kennenlernt, merkt man auch, wie viel Kind in jemand übrig geblieben ist. Ich habe dafür einen besonderen Blick. Ich will in einem Erwachsenen eigentlich immer das Kind erkennen, das er oder sie mal war. Manchmal sieht man nichts. Bei vielen Menschen sieht man es nicht mehr. Ich weiß nicht, wie das bei mir selbst ist, aber es liegt auch an anderen, das zu sehen. In Anselm habe ich das Kind gut gesehen.

Damals habe ich nicht gedacht, dass seine Kindheit im Film vorkommen würde. Ich wollte nur, dass wir über alles, was mir wichtig schien, reden.

Nachdem wir schon einige Male gedreht hatten, bemerkte ich, dass ich das Thema Kindheit nur über Text behandelte. Dabei wollte ich im Film nichts sagen. Ich wollte auch nicht, dass Anselm im Film viel redet.

Da habe ich gedacht: dann muss ich es inszenieren. In dem Moment hat mir geholfen, dass ich zu dem Zeitpunkt das Haus entdeckte, in dem Anselm als Kind lebte, und das er zurückgekauft hatte. Sein Vater unterrichtete an dieser Grundschule. Anselm wohnte in einem Zimmer unter dem Dach, das immer noch so erhalten ist.

Seine Kindheit habe ich dann in dem Zimmerchen unter dem Dach und dem nahen Rhein inszeniert. Ich wusste, dass er viel Zeit am Rhein zugebracht hat.

Das verband mich mit ihm. Der große Abenteuerplatz meiner Kindheit war der Rhein. In Düsseldorf gab es auch nichts anderes. Da gab es den Rhein und die Rheinwiesen. Vieles war verboten. Trotzdem sind wir als Kinder dann doch in die Ruinen reingegangen. Wir waren immer in den Trümmern.

Aber der Rhein und der Geruch des Rheins sind meine allertiefste Erinnerung. Der Rhein hat Anselm und mich verbunden. Außerdem unser Aufwachsen in einem Land, das es nicht mehr gab und das nach dem Krieg erst wieder neu erfunden werden musste.

Über Daniel Kiefer (Sohn von Anselm Kiefer) und Anton Wenders (Großneffe von Wim Wenders), die Anselm Kiefer als jüngeren Mann und Jungen spielen:

Wir haben Daniel Kiefer als jungen Anselm genommen, ohne Anselm zu fragen. Das wollte er so. Er hat mir vorher gesagt: „Ich will nicht wissen, was du drehst. Du drehst, was du willst. Solange du mich überraschst, kannst du drehen, was du willst. Von mir kriegst du keinen Input.“

Daniel war für mich wichtig, weil er mein einziger Zeitzeuge für die fünfzehn Jahre war, in denen Anselm niemand traf. Nur seine Frau und seine Kinder wussten, wie er gelebt hat. Es gibt ein paar Fotos, aber es hat ihn dort im Odenwald niemand besucht. Da war kein Galerist, da war kein Kunsthändler, da war kein Kunstgeschichtler, Anselm ist fünfzehn Jahre in völliger Anonymität als Maler großgeworden und hat vieles von dem, was sein Schaffen ausmacht, in den Grundzügen schon im Odenwald in Hornbach in seinem Atelier in der Dorfschule geschaffen. Er hat da ganz allein gearbeitet und war völlig unbekannt. Der einzige, der ein bisschen was von seinem Werk kannte, war Joseph Beuys. Zu ihm ist er, mit ein paar aufgerollten Leinwänden, hin und wieder gefahren. Kiefers Frau arbeitete als Lehrerin. Anselm beaufsichtigte die Kinder. Er hat gekocht, viel im Haushalt gemacht und er malte. Daniel saß dann oft auf dem Dachboden-Atelier bei ihm. Sie unternahmen auch viele gemeinsame Fahrradtouren.

Erst von Daniel erfuhr ich, dass Anselm fast jeden Tag die Landschaft fotografierte. Bis heute gehen viele seiner Bilder zurück auf diese Fotos. Anselms gesamte Malerei ist nach wie vor realitäts- und fotobezogen.

Daniel war für diese Zeit mein Kronzeuge. Nachdem er mir so viel über seinen Vater erzählt hatte, habe ich ihn gefragt, ob er sich, wenn wir die richtigen Drehorte fänden, zutrauen würde, seinen Vater zu spielen. Er war einverstanden.

Nach den Aufnahmen mit Daniel, in denen wir einen Maler zeigen, den niemand kennt, entschloss ich mich, auch Anselms Kindheit in Ottersdorf zu zeigen.

Wir suchten in der Gegend von Karlsruhe nach Kindern, die den dortigen Akzent beherrschen. Anselm hat als Junge richtig fett badisch gesprochen. Den Akzent hat er immer noch. Beim Casting überzeugte mich niemand und ich überlegte schon, wie ich diesen Abschnitt aus Anselms Leben anders zeigen könnte.

Als ich das nächste Mal bei meiner Familie in München war, hat mein Großneffe Anton mir mal wieder die Welt erklärt. Das kann er gut. Er will Wissenschaftler werden. Er weiß wirklich sehr viel über Physik, Biologie und Chemie. Er programmiert auch Computer. Ich habe ihm nur zugehört und zugeguckt und dachte: „Warum suchst du denn groß? Er hat alles, was du suchst.“

(Den zweiten Teil des Interviews gibt es im Dezember zum Start von „Perfect Days“. Foto: Axel Bussmer)

Anselm – Das Rauschen der Zeit (Deutschland/Frankreich 2023)

Regie: Wim Wenders

Drehbuch: Wim Wenders

mit Anselm Kiefer, Daniel Kiefer, Anton Wenders

Länge: 94 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Anselm“

Moviepilot über „Anselm“

Rotten Tomatoes über „Anselm“

Wikipedia über „Anselm“ (deutsch, englisch), Anselm Kiefer (deutsch, englisch) und über Wim Wenders (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Eric Fiedlers „It must schwing – The Blue Note Story“ (Deutschland 2018)

Meine Besprechung von Wim Wenders’ “Hammett” (Hammett, USA 1982)

Meine Besprechung von Wim Wenders/Juliano Ribeiro Salgados “Das Salz der Erde” (The Salt of the Earth, Frankreich/Deutschland 2013)

Meine Besprechung von Wim Wenders‘ „Every thing will be fine“ (Deutschland/Kanada/Norwegen/Schweden 2015)

Meine Besprechung von Wim Wenders‘ „Die schönen Tage von Aranjuez“ (Les beaux jours d‘ Aranjuez, Deutschland/Frankreich 2016)

Meine Besprechung von Wim Wenders‘ „Papst Franziskus – Ein Mann seines Wortes“ (Pope Francis: A Man of his Word, Deutschland 2018)

Meine Besprechung von Wim Wenders‘ „Grenzenlos“ (Submergence, USA 2017)

Meine Besprechung von Wim Wenders‘ “Anselm – Das Rauschen der Zeit” (Deutschland/Frankreich 2023)

Wim Wenders in der Kriminalakte

Homepage von Wim Wenders

 


Im Verhörzimmer: Holger Kreymeier zu „Hashtag #DDR“

Oktober 11, 2023

Deutschland im Sommer 2023: Der westdeutscher YouTuber Lonzo hat das erfolgreiche Video „Die Zerstörung der DDR“ veröffentlicht. Es sorgt für diplomatische Verwicklungen. In der DDR ist der bekannte Online-Aktivist Marc ‚Perry‘ Ramelow seit mehreren Wochen verschwunden. Der Systemgegner wird von Stasi-Offizieren in Hohenschönhausen verhört.

Moment mal! DDR? Stasi? Das gibt es doch schon seit über dreißig Jahren nicht mehr.

Das stimmt schon, aber in Holger Kreymeiers Roman „Hashtag #DDR“, eine äußerst gelungene und erfrischend blödelhumorfreie Mischung aus Alternativweltgeschichte, Polit-Thriller und etwas Satire, ist das anders. Die DDR gibt es noch. Sie ist in dem SF-Thriller eine detailliert und glaubwürdig ausgedachte Mischung aus der 1989/1990 untergegangenen DDR und wie sie heute in ihrer Piefigkeit sein könnte. Systemgegner bekämpfen die DDR, während die sehr alte DDR-Regierung überlegt, wie sie ihre Macht erhalten kann. Geheimagenten versuchen die jungen und naiven YouTuber und Systemgegner für ihre Zwecke auszunutzen. Sie spielen ihnen echte und falsche geheime Unterlagen zu. Lonzo und Perry versuchen mit heiler Haut aus der Sache rauszukommen. Dabei muss auch Lonzo lernen, dass er auf dieser und jener Seite der Mauer niemand vertrauen kann.

Mit Holger Kreymeier sprachen wir über „Hashtag #DDR“. Er spricht über seinen Roman, wie er für seinen Roman die Welt und die DDR erfand, frühere Besuche in der real existierenden DDR, seine Recherche, den langen Prozess von der ersten Idee bis zur Publikation von „Hashtag #DDR“ und über das Buchcover. Am Ende des Gesprächs verrät er, welche Bücher und Filme er nach der Lektüre seines Romans empfehlen könne.

Holger Kreymeier ist als Chef und kreativer Kopf von „Massengeschmack-TV“ und davor „Fernsehkritik-TV“ bekannt.

Das von Axel Bussmer dokumentierte Gespräch war am 5. Oktober 2023 in Berlin im Babylon-Kino, vor einem launigen Abend mit Massengeschmack-TV und Oliver Kalkofe.

Holger Kreymeier: Hashtag #DDR

Solibro, 2023

304 Seiten

18 Euro

Hinweise

Solibro über das Buch

Homepage von Massengeschmack-TV

Wikipedia über Holger Kreymeier


Im Verhörzimmer: Adrian Pourviseh und Giulia Messmer über „Das Schimmern der See“ und See-Watch

Oktober 11, 2023

Sie retten Leben – und sind deshalb hoch umstritten: die im Mittelmeer tätigen Seenotretter. Sie retten Menschen, die aus Afrika nach Europa flüchten, vor dem Ertrinken und bringen sie nach Europa. Das ist das nächste rettende Ufer. Die in Deutschland bekannteste Organisation ist Sea-Watch.

Im Juli 2021 fuhr Adrian Pourviseh auf einem ihrer Schiffe, der Sea-Watch 3, mit. Er sollte dolmetschen und den Einsatz als Fotograf dokumentieren.

Diese mehrwöchige Fahrt bildet die Grundlage für den von ihm geschriebenen und gezeichneten Comic „Das Schimmern der See – Als Seenotretter auf dem Mittelmeer“.

Der Comic ist eine eindrucksvolle Schilderung seiner Erlebnisse und der widerstreitenden Gefühle, die er dabei hatte. Im Mittelpunkt des Buches stehen drei Rettungen. Fast immer gibt es Probleme mit der libyschen Küstenwache und der mangelnden Bereitschaft Italiens, die Geretteten aufzunehmen. Einmal wird mit den italienischen Behörden über Stunden über die Aufnahme eines Jungen, der schwere Verbrennungen hat und sofort in ein Krankenhaus muss, verhandelt. Einmal befindet sich ein Holzboot mit vierhundert Menschen in Seenot. Die Rettung, bei der mehrere Schiffe beteiligt waren, dauert mehrere Stunden.

Die Zeichnungen und die knappen Dialoge machen die Not der aus Afrika geflüchteten Menschen und die Arbeit der Retter begreifbar. Die Retter berufen sich dabei auf internationales Seerecht, das Seeleute verpflichtet, „allen Personen, selbst feindlichen, die auf See in Lebensgefahr angetroffen werden, Beistand zu leisten“ (Übereinkommen zur einheitlichen Feststellung von Regeln über die Hilfeleistung und Bergung in Seenot von 1910).

Für die Kriminalakte war die Veröffentlichung von „Das Schimmern der See“ ein willkommener Anlass, sich mit Adrian Pourviseh und Giulia Messmer, einer Sprecherin von Sea-Watch, zu treffen.

Wir sprachen über Sea-Watch, wie die Mitglieder einer Mannschaft ausgewählt werden, wie sie sich auf die Fahrt vorbereiten, wie das Leben auf dem Schiff ist (im Comic wird das nur kurz gestreift zugunsten der Schilderung der Rettungseinsätze) und warum Pourviseh sich entschloss, seine Fahrt auf der Sea-Watch 3 in einen Comic zu verarbeiten.

Das Gespräch fand im Sommer 2023 in Berlin statt.

Adrian Pourviseh: Das Schimmern der See – Als Seenotretter auf dem Mittelmeer

avant-verlag, 2023

216 Seiten

26 Euro

Hinweise

Instagram-Seite von Adrian Pourviseh

avant-verlag über „Das Schimmern der See“

Homepage von Sea-Watch

Wikipedia über Sea-Watch (deutsch, englisch)


Impressionen aus Berlin: Indiana Jones kommt

Juni 22, 2023

Vor der Deutschlandpremiere von „Indiana Jones und das Rad des Schicksals“ im Zoo Palast wird eifrig gehämmert, geschraubt und geschwitzt.

Der fünfte Indiana-Jones-Film startet am 29. Juni. Dann gibt es auch meine Besprechung.


(K)“Ein verdammter Handschlag“ – Ein Gespräch mit Zeichner Jan Bintakies über seinen ersten Comic

Mai 31, 2023

Das ist ein Angebot, das Luca Stoffels unbedingt ablehnen sollte. Aber Stoffels, ein kleinkrimineller, vom Pech verfolgter Loser mit Beziehungsproblemen, steckt gerade in einer saublöden Situation. Da könnten die 6000 Euro, die ihm der bärtige Fremde anbietet, ein Ausweg aus seiner aktuellen Bredouillie sein. Dass er dafür fortan von einem nur für ihn sichtbaren Dämon begleitet wird, ist für Luca kein Problem. Denn was soll schon passieren?

Kurz darauf, als er einem psychopathischem Mörderpärchen, einem waschechten Dämon und einem gewaltgeneigtem Gangsterboss gejagt und er im Kölner Dom in eine Karnevalsversammlung stolpert, merkt er, dass er in gewaltigen Schwierigkeiten steckt und die Nacht nur mit viel Glück überleben wird. Nur Glück hat er normalerweise nicht.

Ein verdammter Handschlag“ ist eine herrlich durchgeknallte schwarzhumorige Fantasy-Horrorgeschichte mit einer wohltuenden Missachtung der körperlichen Unversehrtheit seiner Protagonisten. Diese Mischung kennen wir, vor allem auf diesem Niveau, vor allem von angloamerikanischen Künstlern.

Allerdings spielt die Geschichte von „Ein verdammter Handschlag“ nicht in den USA, sondern in Köln. Geschrieben wurde sie von TV-Drehbuchautor Matze Ross. Gezeichnet wurde sie von Illustrator Jan Bintakies. Beide haben für ihr Comicdebüt in jahrelanger Arbeit (mehr dazu im Video-Interview) ihre inneren Dämonen, ihre Liebe zum Horrorfilm und zu grundsympathischen Loosern entfesselt. Wer will, kann in Luca Stoffels (Was für ein Name!) etwas von „Bang Boom Bang“ Oliver Korittke und „Trainspotting“ Ewan McGregor entdecken. Bintakies‘ satirisch überspitzten Zeichnungen erinnern, immer wieder, etwas an Rob Guillorys „Chew – Bulle mit Biss!“.

Ein verdammter Handschlag“ ist ein großes Vergnügen und ein dämonisch gelungener Einstand.

Das Gespräch mit Jan Bintakies fand am 25. Mai 2023 während des Salon der Graphischen Literatur in Berlin in der Bibliothek am Luisenbad statt.

Wir sprechen über „Ein verdammter Handschlag“, die Entwicklung der Geschichte, warum zwischen der ersten Idee und der Veröffentlichung mehrere Jahre vergingen, welche Einflüsse erkennbar sind, das Crowdfunding für die Deluxe-Edition des Comics und welche Pläne Matze Ross und Jan Bintakies haben.

Matze Ross/Jan Bintakies: Ein verdammter Handschlag

Splitter, 2023

168 Seiten

25 Euro

Hinweise

Splitter über „Ein verdammter Handschlag“

Homepage von Jan Bintakies


Impressionen aus Berlin

Mai 12, 2023

genaugenommen Friedrichsfelde, östlich vom Alexanderplatz, außerhalb des S-Bahn-Rings