Im Verhörzimmer: Richard Osman über seinen neuen Krimi „Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt“

Dezember 6, 2023

Wenige Tage vor der Veröffentlichung von Richard Osmans neuem Kriminalroman „Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt“ trafen wir den Bestsellerautor im Herzen von Berlin im Teehaus im Englischen Garten und sprachen mit ihm über seinen neuen Roman, inwiefern es ein Weihnachtskrimi ist, über die Inspiration für den Donnerstagsmordclub, die literarische Ahnenreihe, in der der Donnerstagsmordclub ermittelt, und die geplante Verfilmung.

Der titelgebende Donnerstagsmordclub besteht aus Joyce Meadowcroft, Elizabeth Best, Ron Ritchie und Ibrahim Arif. Sie leben in der noblen Senieorenresidenz Coppers Chase in der Grafschaft Kent. Dort treffen sich jeden Donnerstag, um über alte Mordfälle zu reden. Falls sie nicht gerade einen aktuellen Mordfall aufklären müssen. Dabei kommt ihnen ihre Lebenserfahrung, teils auch ihre früheren Berufe und Kontakte, und die allgemeine Unsichtbarkeit und Harmlosigkeit alter Menschen zugute. Denn welcher hartgesottene Verbrecher und Mörder erwartet schon, dass ihm einige alte Menschen, die sich ohne Gehhilfe kaum fortbewegen können, ihm Probleme bereiten könnten.

Das erste Buch mit dem Donnerstagsmordclub, betitelt „Der Donnerstagsmordclub“, erschien 2020 und war in Großbritannien sofort ein Bestseller. Die deutsche Übersetzung erschien 2021 und sie verkaufte sich ebenfalls ausgezeichnet.

Der Mann der zweimal starb“, „Der Donnerstagsmordclub und die verirrte Kugel“ und jetzt „Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt“ wurden ebenfalls Bestseller.

Im vierten Roman der Cozy-Crime-Serie wollen Elizabeth, Jocye, Ron und Ibrahim den Mord an dem mit ihnen befreundeten Antiquitätenhändler Kuldesh Shamar aufklären.

Ein Drogenhändler benutzte ihn und sein Geschäft, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen, als Zwischenstation für den Schmuggel von Drogen.

Kurz darauf ist Kuldesh tot. Die Drogen und das Terrakottagefäß, in dem sie unauffällig transportiert wurden, sind verschwunden.

Wer seine Krimis gerne cozy, etwas humorvoll und mit vielen Dialogen hat, wird auch mit dem vierten Fall des Donnerstagsmordclubs einige schön entspannte Stunden verleben. Wer dagegen lieber einen ausgefuchsten Plot mit vielen Verdächtigen und noch mehr falschen Fährten hat, also einen Rätselkrimi im Agatha-Christie-Stil erwartet, wird enttäuscht sein.

Richard Osman: Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt

(übersetzt von Sabine Roth)

List, 2023

432 Seiten

17,99 Euro

Originalausgabe

The last Devil to die

Viking, UK, 2023

Hinweise

Wikipedia über Richard Osman (deutsch, englisch)

List über Richard Osman

BookMarks über „Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt“

Meine Besprechung von Richard Osmans „Der Donnerstagsmordclub“ (The Thursday Murder Club, 2020)

Meine Besprechung von Richard Osmans „Der Mann, der zweimal starb“ (The Man who died twice, 2021)

Mein Bericht über Richard Osmans Besuch 2022 in Berlin


Im Verhörzimmer: Hannes Riffel über den Carcosa-Verlag

Oktober 17, 2023

Gestandene Science-Fiction-Fans, vor allem SF-Fans die in Büchern auch einen Blick ins Impressum werfen, müssen nur die Namen der beteiligten Personen genannt werden und sie freuen sich. Jüngeren SF-Fans muss vielleicht gesagt werden, dass Hannes Riffel und Hardy Kettlitz, die beiden Carcosa-Verleger, in den letzten Jahrzehnten ungefähr auf jeder SF-Baustelle mitmischten. Genannt seien Herausgaberschaften bei TOR/Fischer, Shayol und Golkonda.

Unser Gesprächspartner Hannes Riffel übersetzte Romane von Robert Bloch, Hal Duncan, William Gibson, Joe Hill, Joe R. Lansdale und Stephen King. Einige seiner Übersetzungen wurden auch in der Kriminalakte besprochen.

Jetzt haben sie den Carcosa-Verlag gegründet und das Herbstprogramm liest sich schon auf den ersten Blick vielversprechend. Veröffentlicht werden

„Immer nach Hause“ (Always coming Home, 1985) von Ursula K. Le Guin

„Babel-17“ (Babel-17, 1966) von Samuel R. Delany

„Das lange Morgen“ (The long Tomorrow, 1955) von Leigh Brackett

„Der fünfte Kopf des Zerberus“ (The Fifth Head of Cerberus, 1972) von Gene Wolfe

und der Almanach „Vor der Revolution“ mit Essays über die eben genannten Autoren, drei Erzählungen von Ursula K. Le Guin und einem Kurzroman von Samuel. R. Delany.

Das sind rennomierte Namen, die einige der zukunftsweisenden Science-Fiction-Romane aller Zeiten schrieben. Die jetzt im aktuellen Programm veröffentlichten Bücher sind teils seit langem anerkannte Klassiker – und als Einstiegsdroge gut geeignet. Auch um einige aktuelle Entwicklungen im SF-Genre besser zu verstehen.

Mit Hannes Riffel sprechen wir über das Wagnis, einen neuen Verlag zu gründen, das Konzept von Carcosa, die Auswahl der Autoren und Bücher und warum sie bereits ins deutsche übersetzte Science-Fiction-Romane für Carcosa neu übersetzten. Anschließend stellt Hannes jedes Buch des Herbstprogrammes vor und er gibt einen Ausblick auf das nächste und sogar das übernächste Jahr. Unter anderem veröffentlichen sie als deutsche Erstausgabe den Roman „Jerusalem“ von Alan Moore (“Watchmen”).

Das Gespräch fand am 11. Oktober 2023, wenige Stunden bevor die Bücher an die Buchhandlungen ausgeliefert wurden, statt.

Am Mittwoch, den 8. November, stellen Karen Nölle (Übersetzerin) und Hannes Riffel (Herausgeber) um 19.30 Uhr in der Buchhandlung Otherland (Bergmannstraße 25, Berlin-Kreuzberg) die Erstübersetzung von Ursula K. Le Guins „Immer nach Hause“ vor.

Hinweise

Homepage des Verlages

Wikipedia über Ursula K. Le Guin (deutsch, englisch), Samuel R. Delany (deutsch, englisch), Leigh Brackett (deutsch, englisch) und Gene Wolfe (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Hannes Riffel/Sascha Mamczak (Hrsg.) „Das Science Fiction Jahr 2015“ (2015)

Meine Besprechung von Hardy Kettlitz‘ „Die Hugo-Awards 1953 – 1984“ (2015)

Meine Besprechung von Hardy Kettlitz‘ „Edmond Hamilton – Autor von Captain Future“ (2015)


Im Verhörzimmer: Wim Wenders über “Anselm – Das Rauschen der Zeit”

Oktober 14, 2023

Kurz vor dem Kinostart von “Anselm – Das Rauschen der Zeit” durfte die Kriminalakte mit Wim Wenders über sein bildgewaltiges Künstlerporträt und seinen nächsten, in Japan spielenden wundervollen Film “Perfect Days” (Kinostart: 21. Dezember 2023) reden.

Anselm Kiefer ist einer der, vielleicht sogar der größte lebende deutsche Künstler. Er beschäftigt sich in seinem Werk immer wieder mit der deutschen Vergangenheit und deutschen Mythen. Über die überschwängliche Anerkennung im Ausland wurde er in den achtziger Jahren auch in Deutschland anerkannt. Die Verleihung des Wolf-Preises 1990 sorgte für eine weitere Revision der bundesdeutschen Kiefer-Rezeption. Gleichzeitig erweiterte Kiefer seinen Themenkreis von der deutschen Geschichte hin zu orientalischen Kulturen, jüdischer Mystik, Astronomie und Kosmogonien.

Seine Werk umfasst Fotografie, Künstlerbuch, Holzschnitt, Malerei, Skulptur, Bühnenbild, Installation und Architektur. Seine Werke sind oft sehr groß. In Barjac, das sich grandios als Kulisse für eine Spielfilm-Dystopie eignet, gibt es mehrstöckige Häuser, ein Amphitheater und viele weitere Installationen, die – wenn man nicht das Freilichtmuseum besuchen will – auf einer großen Kinoleinwand überwältigend gut aussehen. Wim Wenders zeigt das in „Anselm – Das Rauschen der Zeit“.

Wim Wenders ist ebenfalls Jahrgang 1945 und er ist einer der wenigen weltweit anerkannten und bekannten deutschen Regisseure. Zu seinen bekanntesten und wichtigsten Filmen gehören “Alice in den Städten”, “Im Lauf der Zeit”, “Der amerikanische Freund”, “Paris, Texas” und “Der Himmel über Berlin”. Noir-Fans lieben auch seine Joe-Gores-Verfilmung “Hammett”. Neben den Spielfilmen inszenierte er zahlreiche Dokumentarfilme, wie “Tôkyô-ga“, “Pina“, “Das Salz der Erde” und, zuletzt, “Papst Franziskus – Ein Mann seines Wortes“.

Wim Wenders über die erste Begegnung mit Anselm Kiefer und wie es zu „Anselm“ kam:

Das war im Februar 1991. Ich war damals in Berlin und habe einen meiner Filme geschnitten. Abends bin ich immer zu Fuß in mein Lieblingsrestaurant, das „Exil“, gegangen. Anselm hat zur gleichen Zeit mehrere Wochen lang seine Ausstellung in der Nationalgalerie vorbereitet. Eines Tages kam er in das „Exil“. Es war ihm wohl empfohlen worden. Es gab nur einen Tisch mit einem freien Platz. Das war meiner. Er hat sich zu mir hingesetzt. Ich wusste, wer er ist. Und er wusste wohl auch, wer ich war. Wir haben, etwas schüchtern, angefangen, uns zu unterhalten. Wir verstanden uns gut. Er bot mir sogar eine seiner Zigarren an. In der Zeit war das „Exil“ immer unglaublich verqualmt.

Am Ende des Abends verabredeten wir uns für den nächsten Abend. Das haben wir fast zwei Wochen lang gemacht und viel über uns erfahren.

In den zwei Wochen kam dann irgendwann der feste Plan für einen Film auf. Ich wusste, dass Anselm ein Maler war, der auch eigentlich Filme machen wollte. Er wusste, dass ich ein Filmemacher war, der eigentlich Maler werden wollte. Wir dachten, dass wenn wir zwei was machen würden, daraus etwas Interessantes entstehen könnte.

Das hat dann Gott sei Dank dreißig Jahre gedauert. Ich weiß nicht, was damals aus unserer Idee geworden wäre.

Über seinen ersten Besuch in Barjac, die Dreharbeiten und den Schnitt:

Vor dreißig Jahren wäre es jedenfalls ein völlig anderer Film geworden. Ich habe ja erst langsam die Möglichkeiten des Dokumentarfilm entdeckt. Dass ich „Anselm“ in 3D drehen würde, wusste ich nach meinem ersten Besuch in Barjac. 2019 lud mich Anselm dorthin ein. Er gab mir eine Karte vom Gelände und hat mich allein gelassen.

Das mache ich sehr gerne, dass mir niemand was erklärt und ich alles allein erkunde. Im Museum nehme ich keine Audioguides mit. Städte erkunde ich lieber mit einem Stadtplan als mit einem Navi. Ich möchte einfach gucken. Und wenn ich dann was verpasse, dann ist das völlig egal.

Ich verbrachte dann den ganzen Tag auf dem Gelände. Zehn Stunden. Es war ein schöner Sommertag. Ich habe mich in den Gängen verloren und musste manchmal wieder zurückgehen, um den Weg rauszufinden. Ich sah das Amphitheater, die ganzen Häuser und die Himmelspaläste.

Am Abend haben wir uns wieder gesehen. Und dann habe ich eigentlich gleich, als wir uns hingesetzt haben, gesagt: „Ich weiß, warum du mich eingeladen hast.“ Er sagte: „Ich werde älter und möchte nicht, dass wir den Film erst machen, wenn ich sowieso alles vergessen habe.“ Danach versprachen wir uns, dass wir bald mit dem Film anfangen würden.

Als ich das erste Mal in Barjac drehte, wusste ich noch nicht, wie der Film am Ende aussehen sollte. Ich sagte ihm, wann ich wo drehte. Beim Dreh im Odenwald war er nicht dabei. In Rastatt nur am Schluss. In Barjac haben wir sieben Mal gedreht. Während des zweieinhalbjährigen Drehs schnitten wir den Film. Der Rohschnitt hat dann beeinflusst, was wir drehten. So wussten wir irgendwann, dass auch Anselms Zeit im Odenwald und seine Kindheit in den Film gehörten.

Ganz am Schluss bemerkten wir, dass wir Anselm noch nicht in einer Ausstellung gezeigt hatten. Da erzählte er mir von seiner geplanten Ausstellung im Dogenpalast in Venedig. Diese Ausstellung war der letzte Dreh. Kurz danach war der Film fertig.

Im Nachhinein ist vielleicht einiges zu kurz gekommen. Aber ich wollte nicht alles zeigen. Ich will die Zuschauer mitnehmen in dieses Universum von Anselm Kiefer.

Über die Zusammenarbeit mit Anselm Kiefer:

Anselms Ästhetik ist in jedem seiner Gebäude und all seinen Werken, die in Barjac stehen. Barjac ist ein großes Gesamtkunstwerk, unter und oberirdisch.

Er arbeitet gerne alleine und mitten in der Nacht, wenn keine Seele mehr wach ist. Dann steigt er in seine Schluppen und zieht den Bademantel an. Er malt dann bis die Sonne aufgeht. Danach geht er wieder schlafen.

Auf die Gestaltung des Films hat er keinerlei Einfluss gehabt. Er wollte das auch absolut nicht. Er sagte mir: „Du sagst mir, was du drehen willst und dann bin ich da.“

Der einzige Widerspruch von ihm war, als er bei einem langen Gespräch sagte: „Findest du nicht auch, dass es das Langweiligste ist, einen Maler beim Malen zu sehen?“ Ich sagte ihm, dass ich ihm gerne dabei zusähe. Dann hat er ein bisschen gegrummelt, aber weil er mir ja vorher gesagt hatte, ich könne machen, was ich wolle, hat er letztlich zugestimmt.

Vor den Dreharbeiten: Gespräche mit Anselm Kiefer und die Bedeutung des Rheins für Kiefer und Wenders:

Zur Vorbereitung des Films haben Anselm und ich erst einmal lange geredet. Wir haben uns an zehn Tagen getroffen und für jeden Tag ein Thema gehabt. Wir haben uns ziemlich gut an das für den Tag vorgegebene Thema gehalten und in allen Facetten, auch mit Beispielen aus seinen Arbeiten, beleuchtet. Wir haben alles aufgenommen. Daraus wurden allen Ernstes 1200 Transkriptseiten, die mein Büro schreiben musste.

Aber es war gut, denn so musste ich ihn später nicht mehr über sein Leben und seine Ansichten befragen. Ich habe ihn auch beobachtet. Wenn man sich genauer kennenlernt, merkt man auch, wie viel Kind in jemand übrig geblieben ist. Ich habe dafür einen besonderen Blick. Ich will in einem Erwachsenen eigentlich immer das Kind erkennen, das er oder sie mal war. Manchmal sieht man nichts. Bei vielen Menschen sieht man es nicht mehr. Ich weiß nicht, wie das bei mir selbst ist, aber es liegt auch an anderen, das zu sehen. In Anselm habe ich das Kind gut gesehen.

Damals habe ich nicht gedacht, dass seine Kindheit im Film vorkommen würde. Ich wollte nur, dass wir über alles, was mir wichtig schien, reden.

Nachdem wir schon einige Male gedreht hatten, bemerkte ich, dass ich das Thema Kindheit nur über Text behandelte. Dabei wollte ich im Film nichts sagen. Ich wollte auch nicht, dass Anselm im Film viel redet.

Da habe ich gedacht: dann muss ich es inszenieren. In dem Moment hat mir geholfen, dass ich zu dem Zeitpunkt das Haus entdeckte, in dem Anselm als Kind lebte, und das er zurückgekauft hatte. Sein Vater unterrichtete an dieser Grundschule. Anselm wohnte in einem Zimmer unter dem Dach, das immer noch so erhalten ist.

Seine Kindheit habe ich dann in dem Zimmerchen unter dem Dach und dem nahen Rhein inszeniert. Ich wusste, dass er viel Zeit am Rhein zugebracht hat.

Das verband mich mit ihm. Der große Abenteuerplatz meiner Kindheit war der Rhein. In Düsseldorf gab es auch nichts anderes. Da gab es den Rhein und die Rheinwiesen. Vieles war verboten. Trotzdem sind wir als Kinder dann doch in die Ruinen reingegangen. Wir waren immer in den Trümmern.

Aber der Rhein und der Geruch des Rheins sind meine allertiefste Erinnerung. Der Rhein hat Anselm und mich verbunden. Außerdem unser Aufwachsen in einem Land, das es nicht mehr gab und das nach dem Krieg erst wieder neu erfunden werden musste.

Über Daniel Kiefer (Sohn von Anselm Kiefer) und Anton Wenders (Großneffe von Wim Wenders), die Anselm Kiefer als jüngeren Mann und Jungen spielen:

Wir haben Daniel Kiefer als jungen Anselm genommen, ohne Anselm zu fragen. Das wollte er so. Er hat mir vorher gesagt: „Ich will nicht wissen, was du drehst. Du drehst, was du willst. Solange du mich überraschst, kannst du drehen, was du willst. Von mir kriegst du keinen Input.“

Daniel war für mich wichtig, weil er mein einziger Zeitzeuge für die fünfzehn Jahre war, in denen Anselm niemand traf. Nur seine Frau und seine Kinder wussten, wie er gelebt hat. Es gibt ein paar Fotos, aber es hat ihn dort im Odenwald niemand besucht. Da war kein Galerist, da war kein Kunsthändler, da war kein Kunstgeschichtler, Anselm ist fünfzehn Jahre in völliger Anonymität als Maler großgeworden und hat vieles von dem, was sein Schaffen ausmacht, in den Grundzügen schon im Odenwald in Hornbach in seinem Atelier in der Dorfschule geschaffen. Er hat da ganz allein gearbeitet und war völlig unbekannt. Der einzige, der ein bisschen was von seinem Werk kannte, war Joseph Beuys. Zu ihm ist er, mit ein paar aufgerollten Leinwänden, hin und wieder gefahren. Kiefers Frau arbeitete als Lehrerin. Anselm beaufsichtigte die Kinder. Er hat gekocht, viel im Haushalt gemacht und er malte. Daniel saß dann oft auf dem Dachboden-Atelier bei ihm. Sie unternahmen auch viele gemeinsame Fahrradtouren.

Erst von Daniel erfuhr ich, dass Anselm fast jeden Tag die Landschaft fotografierte. Bis heute gehen viele seiner Bilder zurück auf diese Fotos. Anselms gesamte Malerei ist nach wie vor realitäts- und fotobezogen.

Daniel war für diese Zeit mein Kronzeuge. Nachdem er mir so viel über seinen Vater erzählt hatte, habe ich ihn gefragt, ob er sich, wenn wir die richtigen Drehorte fänden, zutrauen würde, seinen Vater zu spielen. Er war einverstanden.

Nach den Aufnahmen mit Daniel, in denen wir einen Maler zeigen, den niemand kennt, entschloss ich mich, auch Anselms Kindheit in Ottersdorf zu zeigen.

Wir suchten in der Gegend von Karlsruhe nach Kindern, die den dortigen Akzent beherrschen. Anselm hat als Junge richtig fett badisch gesprochen. Den Akzent hat er immer noch. Beim Casting überzeugte mich niemand und ich überlegte schon, wie ich diesen Abschnitt aus Anselms Leben anders zeigen könnte.

Als ich das nächste Mal bei meiner Familie in München war, hat mein Großneffe Anton mir mal wieder die Welt erklärt. Das kann er gut. Er will Wissenschaftler werden. Er weiß wirklich sehr viel über Physik, Biologie und Chemie. Er programmiert auch Computer. Ich habe ihm nur zugehört und zugeguckt und dachte: „Warum suchst du denn groß? Er hat alles, was du suchst.“

(Den zweiten Teil des Interviews gibt es im Dezember zum Start von „Perfect Days“. Foto: Axel Bussmer)

Anselm – Das Rauschen der Zeit (Deutschland/Frankreich 2023)

Regie: Wim Wenders

Drehbuch: Wim Wenders

mit Anselm Kiefer, Daniel Kiefer, Anton Wenders

Länge: 94 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Anselm“

Moviepilot über „Anselm“

Rotten Tomatoes über „Anselm“

Wikipedia über „Anselm“ (deutsch, englisch), Anselm Kiefer (deutsch, englisch) und über Wim Wenders (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Eric Fiedlers „It must schwing – The Blue Note Story“ (Deutschland 2018)

Meine Besprechung von Wim Wenders’ “Hammett” (Hammett, USA 1982)

Meine Besprechung von Wim Wenders/Juliano Ribeiro Salgados “Das Salz der Erde” (The Salt of the Earth, Frankreich/Deutschland 2013)

Meine Besprechung von Wim Wenders‘ „Every thing will be fine“ (Deutschland/Kanada/Norwegen/Schweden 2015)

Meine Besprechung von Wim Wenders‘ „Die schönen Tage von Aranjuez“ (Les beaux jours d‘ Aranjuez, Deutschland/Frankreich 2016)

Meine Besprechung von Wim Wenders‘ „Papst Franziskus – Ein Mann seines Wortes“ (Pope Francis: A Man of his Word, Deutschland 2018)

Meine Besprechung von Wim Wenders‘ „Grenzenlos“ (Submergence, USA 2017)

Meine Besprechung von Wim Wenders‘ “Anselm – Das Rauschen der Zeit” (Deutschland/Frankreich 2023)

Wim Wenders in der Kriminalakte

Homepage von Wim Wenders

 


Im Verhörzimmer: Holger Kreymeier zu „Hashtag #DDR“

Oktober 11, 2023

Deutschland im Sommer 2023: Der westdeutscher YouTuber Lonzo hat das erfolgreiche Video „Die Zerstörung der DDR“ veröffentlicht. Es sorgt für diplomatische Verwicklungen. In der DDR ist der bekannte Online-Aktivist Marc ‚Perry‘ Ramelow seit mehreren Wochen verschwunden. Der Systemgegner wird von Stasi-Offizieren in Hohenschönhausen verhört.

Moment mal! DDR? Stasi? Das gibt es doch schon seit über dreißig Jahren nicht mehr.

Das stimmt schon, aber in Holger Kreymeiers Roman „Hashtag #DDR“, eine äußerst gelungene und erfrischend blödelhumorfreie Mischung aus Alternativweltgeschichte, Polit-Thriller und etwas Satire, ist das anders. Die DDR gibt es noch. Sie ist in dem SF-Thriller eine detailliert und glaubwürdig ausgedachte Mischung aus der 1989/1990 untergegangenen DDR und wie sie heute in ihrer Piefigkeit sein könnte. Systemgegner bekämpfen die DDR, während die sehr alte DDR-Regierung überlegt, wie sie ihre Macht erhalten kann. Geheimagenten versuchen die jungen und naiven YouTuber und Systemgegner für ihre Zwecke auszunutzen. Sie spielen ihnen echte und falsche geheime Unterlagen zu. Lonzo und Perry versuchen mit heiler Haut aus der Sache rauszukommen. Dabei muss auch Lonzo lernen, dass er auf dieser und jener Seite der Mauer niemand vertrauen kann.

Mit Holger Kreymeier sprachen wir über „Hashtag #DDR“. Er spricht über seinen Roman, wie er für seinen Roman die Welt und die DDR erfand, frühere Besuche in der real existierenden DDR, seine Recherche, den langen Prozess von der ersten Idee bis zur Publikation von „Hashtag #DDR“ und über das Buchcover. Am Ende des Gesprächs verrät er, welche Bücher und Filme er nach der Lektüre seines Romans empfehlen könne.

Holger Kreymeier ist als Chef und kreativer Kopf von „Massengeschmack-TV“ und davor „Fernsehkritik-TV“ bekannt.

Das von Axel Bussmer dokumentierte Gespräch war am 5. Oktober 2023 in Berlin im Babylon-Kino, vor einem launigen Abend mit Massengeschmack-TV und Oliver Kalkofe.

Holger Kreymeier: Hashtag #DDR

Solibro, 2023

304 Seiten

18 Euro

Hinweise

Solibro über das Buch

Homepage von Massengeschmack-TV

Wikipedia über Holger Kreymeier


Im Verhörzimmer: Adrian Pourviseh und Giulia Messmer über „Das Schimmern der See“ und See-Watch

Oktober 11, 2023

Sie retten Leben – und sind deshalb hoch umstritten: die im Mittelmeer tätigen Seenotretter. Sie retten Menschen, die aus Afrika nach Europa flüchten, vor dem Ertrinken und bringen sie nach Europa. Das ist das nächste rettende Ufer. Die in Deutschland bekannteste Organisation ist Sea-Watch.

Im Juli 2021 fuhr Adrian Pourviseh auf einem ihrer Schiffe, der Sea-Watch 3, mit. Er sollte dolmetschen und den Einsatz als Fotograf dokumentieren.

Diese mehrwöchige Fahrt bildet die Grundlage für den von ihm geschriebenen und gezeichneten Comic „Das Schimmern der See – Als Seenotretter auf dem Mittelmeer“.

Der Comic ist eine eindrucksvolle Schilderung seiner Erlebnisse und der widerstreitenden Gefühle, die er dabei hatte. Im Mittelpunkt des Buches stehen drei Rettungen. Fast immer gibt es Probleme mit der libyschen Küstenwache und der mangelnden Bereitschaft Italiens, die Geretteten aufzunehmen. Einmal wird mit den italienischen Behörden über Stunden über die Aufnahme eines Jungen, der schwere Verbrennungen hat und sofort in ein Krankenhaus muss, verhandelt. Einmal befindet sich ein Holzboot mit vierhundert Menschen in Seenot. Die Rettung, bei der mehrere Schiffe beteiligt waren, dauert mehrere Stunden.

Die Zeichnungen und die knappen Dialoge machen die Not der aus Afrika geflüchteten Menschen und die Arbeit der Retter begreifbar. Die Retter berufen sich dabei auf internationales Seerecht, das Seeleute verpflichtet, „allen Personen, selbst feindlichen, die auf See in Lebensgefahr angetroffen werden, Beistand zu leisten“ (Übereinkommen zur einheitlichen Feststellung von Regeln über die Hilfeleistung und Bergung in Seenot von 1910).

Für die Kriminalakte war die Veröffentlichung von „Das Schimmern der See“ ein willkommener Anlass, sich mit Adrian Pourviseh und Giulia Messmer, einer Sprecherin von Sea-Watch, zu treffen.

Wir sprachen über Sea-Watch, wie die Mitglieder einer Mannschaft ausgewählt werden, wie sie sich auf die Fahrt vorbereiten, wie das Leben auf dem Schiff ist (im Comic wird das nur kurz gestreift zugunsten der Schilderung der Rettungseinsätze) und warum Pourviseh sich entschloss, seine Fahrt auf der Sea-Watch 3 in einen Comic zu verarbeiten.

Das Gespräch fand im Sommer 2023 in Berlin statt.

Adrian Pourviseh: Das Schimmern der See – Als Seenotretter auf dem Mittelmeer

avant-verlag, 2023

216 Seiten

26 Euro

Hinweise

Instagram-Seite von Adrian Pourviseh

avant-verlag über „Das Schimmern der See“

Homepage von Sea-Watch

Wikipedia über Sea-Watch (deutsch, englisch)


(K)“Ein verdammter Handschlag“ – Ein Gespräch mit Zeichner Jan Bintakies über seinen ersten Comic

Mai 31, 2023

Das ist ein Angebot, das Luca Stoffels unbedingt ablehnen sollte. Aber Stoffels, ein kleinkrimineller, vom Pech verfolgter Loser mit Beziehungsproblemen, steckt gerade in einer saublöden Situation. Da könnten die 6000 Euro, die ihm der bärtige Fremde anbietet, ein Ausweg aus seiner aktuellen Bredouillie sein. Dass er dafür fortan von einem nur für ihn sichtbaren Dämon begleitet wird, ist für Luca kein Problem. Denn was soll schon passieren?

Kurz darauf, als er einem psychopathischem Mörderpärchen, einem waschechten Dämon und einem gewaltgeneigtem Gangsterboss gejagt und er im Kölner Dom in eine Karnevalsversammlung stolpert, merkt er, dass er in gewaltigen Schwierigkeiten steckt und die Nacht nur mit viel Glück überleben wird. Nur Glück hat er normalerweise nicht.

Ein verdammter Handschlag“ ist eine herrlich durchgeknallte schwarzhumorige Fantasy-Horrorgeschichte mit einer wohltuenden Missachtung der körperlichen Unversehrtheit seiner Protagonisten. Diese Mischung kennen wir, vor allem auf diesem Niveau, vor allem von angloamerikanischen Künstlern.

Allerdings spielt die Geschichte von „Ein verdammter Handschlag“ nicht in den USA, sondern in Köln. Geschrieben wurde sie von TV-Drehbuchautor Matze Ross. Gezeichnet wurde sie von Illustrator Jan Bintakies. Beide haben für ihr Comicdebüt in jahrelanger Arbeit (mehr dazu im Video-Interview) ihre inneren Dämonen, ihre Liebe zum Horrorfilm und zu grundsympathischen Loosern entfesselt. Wer will, kann in Luca Stoffels (Was für ein Name!) etwas von „Bang Boom Bang“ Oliver Korittke und „Trainspotting“ Ewan McGregor entdecken. Bintakies‘ satirisch überspitzten Zeichnungen erinnern, immer wieder, etwas an Rob Guillorys „Chew – Bulle mit Biss!“.

Ein verdammter Handschlag“ ist ein großes Vergnügen und ein dämonisch gelungener Einstand.

Das Gespräch mit Jan Bintakies fand am 25. Mai 2023 während des Salon der Graphischen Literatur in Berlin in der Bibliothek am Luisenbad statt.

Wir sprechen über „Ein verdammter Handschlag“, die Entwicklung der Geschichte, warum zwischen der ersten Idee und der Veröffentlichung mehrere Jahre vergingen, welche Einflüsse erkennbar sind, das Crowdfunding für die Deluxe-Edition des Comics und welche Pläne Matze Ross und Jan Bintakies haben.

Matze Ross/Jan Bintakies: Ein verdammter Handschlag

Splitter, 2023

168 Seiten

25 Euro

Hinweise

Splitter über „Ein verdammter Handschlag“

Homepage von Jan Bintakies


Impressionen aus Berlin: Ben Aaronovitch in Berlin – und ein kurzes Gespräch mit ihm über sein neues Buch, Peter Grant und den ganzen Rest

Mai 8, 2023

Alles begann an einem kalten Dienstag im Januar, morgens um halb zwei, als Martin Turner, Straßenkünstler und nach einengen Worten Gigolo in Ausbildung, vor der Säulenvorhalle von St. Paul’s am Covent Garden über eine Leiche stolperte.“

So beginnt Ben Aaronovitchs erster Roman mit Peter Grant. Peter Grant ist in dem Moment ein junger Police Constable bei der Metropolitan Police. Wenige Zeilen später begegnet er einem Geist. Und der Rest ist Geschichte. Denn „Die Flüsse von London“ war 2011 (in Deutschland ein Jahr später) der Auftakt für eine erfolgreiche Urban-Fantasy-Reihe um Peter Grant, Polizist und Zauberlehrling. Bis heute sind neun reguläre, sich exzellent verkaufende Romane, etliche Kurzromane, Kurzgeschichten und Comics, die sich teils auf bestimmte Figuren aus dem „Die Flüsse von London“-Universum konzentrieren, erschienen. Seit einigen Tagen gibt es außerdem ein Rollenspiel.

In den Geschichten verbindet Aaronovitch gelungen britischen Humor mit Fantasy (Geister, Hexen, Dämonen, Flußgötter, Zauberer) und einer, bis auf die Sache mit der schon erwähnten Zauberei, realistischen Kriminalgeschichte. Damit sind seine Bücher etwas für Krimi- und Fantasy-Fans.

Am Dienstag, den 2. Mai 2023, besuchte Ben Aaronovitch, zwischen Leipziger Buchmesse und weiteren Leseterminen, für eine von der Science-Fiction/Fantasy-Buchhandlung „Otherland“ zusammen mit dtv organisierten Lesung Berlin. Im bis zum letzten Sitzplatz gefüllten Ballhaus Walzerlinksgestrickt sagte Aaronovitch, er habe bereits einige weiter „Die Flüsse von London“-Geschichten geschrieben. Und er werde weitere schreiben.

Vor der Lesung sprach Ben Aaronovitch mit mir über seine beiden neuesten Romane, den neunten Peter-Grant-Roman „Die Silberkammer in der Chancery Lane“ (Amongst our Weapons) und den Kimberly-Reynolds-Kurzroman „Die schlafenden Geister des Lake Superior“ (Winter’s Gifts), Peter Grant, die von ihm geschaffene Welt und das Schreiben.

Zuletzt auf Deutsch erschienen (mehr Infos zu den Werken):

Ben Aaronovitch: Die schlafenden Geister des Lake Superior – Eine Kimberley-Reynolds-Story

(übersetzt von Christine Blum)

dtv, 2023

240 Seiten

11,95 Euro

Originalausgabe (die erst in einigen Tagen erscheint)

Winter’s Gift

Orion, 2023

Ben Aaronovitch: Die Silberkammer in der Chancery Lane

(übersetzt von Christine Blum)

dtv, 2022

416 Seiten

15,95 Euro

Originalausgabe

Amongst our Weapons

Gollancz, London 2022

 

Ben Aaronovitch (Schöpfer)/Celeste Bronfman (Story)/Andrew Cartmel (Skript-Lektorat)/José María Beroy (Zeichnungen): Die Flüsse von London: Und wenn sie nicht gestorben sind… (Band 10)

(übersetzt von Kerstin Fricke)

Panini, 2023

116 Seiten

17 Euro

Originalausgabe

Rivers of London: Deadly ever after

Titan Comics, Januar 2023

Ben Aaronovitch (Story)/Andrew Cartmel (Story)/José María Beroy (Zeichnungen): Die Flüsse von London: Ein mieser Montag (Band 9)

(übersetzt von Kerstin Fricke)

Panini, 2022

116 Seiten

17 Euro

Originalausgabe

Rivers of London: Monday, Monday

Titan Comics, November 2021

Hinweise

Homepage von Ben Aaronovitch

Blog von Ben Aaronovitch

dtv über Ben Aaronovitch

Blog von Andrew Cartmel

Wikipedia über Ben Aaronovitch (deutsch, englisch) und Andrew Cartmel

Meine Besprechung von Ben Aaronovitchs „Schwarzer Mond über Soho“ (Moon over Soho, 2011)

Mein Besprechung von Ben Aaronivitchs „Geister auf der Metropolitan Line“ (The furthest station, 2017)

Meine Besprechung von Ben Aaronovitch/Andrew Cartmel/Lee Sullivan/Luis Guerreros „Die Flüsse von London: Autowahn“ (Rivers of London: Body Work, 2016)

Meine Besprechung von Ben Aaronovitch/Andrew Cartmel/Lee Sullivan/Luis Guerreros „Die Flüsse von London – Die Nachthexe“ (Rivers of London: Night Witch, 2016)

Meine Besprechung von Ben Aaronovitch/Andrew Cartmel/Lee Sullivan/Luis Guerrero/Paulina Vassilevas „Die Flüsse von London: Wassergras (Band 6)“ (Rivers of London: Water Weed, 2018)

Meine Besprechung von Ben Aaronovitch/Andrew Cartmel/Brian Williamson/Stefani Rennes „Die Flüsse von London: Mit Abstand! (Band 7)“ (Rivers of London: Action at Distance, 2020)

Meine Besprechung von Ben Aaronovitch/Andrew Cartmel/Christoper Jones/Marco Leskos „Doctor Who – Der siebte Doctor: Tanz auf dem Vulkan“ (Doctor Who – The Seventh Doctor: Operation Volcano, 2018)

Meine Besprechung von Ben Aaronovitch/Andrew Cartmel/Lee Sullivan/Mariano Laclaustras „Die Flüsse von London: Motoren, Magie und Märchen! (Band 8)“ (Rivers of London: The Fey and The Furious, 2020)

 

Meine Ankündigung der Lesung mit Besprechungen von:

Ben Aaronovitchs „Die schlafenden Geister des Lake Superior – Eine Kimberley-Reynolds-Story“ (Winter’s Gift, 2023)

Ben Aaronovitchs „Die Silberkammer in der Chancery Lane“ (Amongst our Weapons, 2022)

Ben Aaronovitch (Schöpfer)/Celeste Bronfman (Story)/Andrew Cartmel (Skript-Lektorat)/José María Beroy (Zeichnungen) „Die Flüsse von London: Und wenn sie nicht gestorben sind… (Band 10)“ (Rivers of London: Deadly ever after, 2023)

Ben Aaronovitch (Story)/Andrew Cartmel (Story)/José María Beroy (Zeichnungen) „Die Flüsse von London: Ein mieser Montag (Band 9)“ (Rivers of London: Monday, Monday, 2021)


Ein „Kriminalakte“-Gespräch mit Christopher Golden („Road of Bones – Straße des Todes“) und Kim Sherwood („James Bond: Doppelt oder Nichts“)

April 30, 2023

Auf der Leipziger Buchmesse unterhielt die Kriminalakte sich am 27. April 2023 mit Christopher Golden und Kim Sherwood über ihre neuen und neu auf Deutsch erschienenen Romane. Golden hatte seinen brandneuen Thriller „Road of Bones – Straße des Todes“ (Cross Cult) und den im Original bereits 2010 unter dem Pseudonym Jack Rogan erschienenen Horrorthriller „The Ocean Dark“ (Buchheim) im Gepäck. Kim Sherwood ihren ersten James-Bond-Roman „Doppelt oder Nichts“ (Double or Nothing) (Cross Cult). Der Thriller ist der Beginn einer Trilogie, die James Bond in die Gegenwart bringt und auch einen Blick auf seine Kollegen wirft. Das sind die 00-Agenten, die bis jetzt nur als „00[Nummer] wurde getötet.“ bekannt sind.

Wir sprachen über ihre neuen Bücher, über die Herausforderung, Geschichten für bereits existierende Figuren zu erfinden, und wie sie ihre Romane schreiben. Das Gespräch endet mit jeweils fünf sechs, ausführlich von Kim Sherwood und Christopher Golden begründeten Leseempfehlungen für den nächsten Urlaub.

Christopher Golden hat seit 1995 zahlreiche Horror-, Fantasy- und Thrillerromane geschrieben. Teilweise mit anderen Autoren wie Mike Mignola und Tim Lebbon, teilweise für bestehende Serien, wie die Vampirjägerin Buffy. Er schrieb auch Filmromane, wie „King Kong“, Comics und Jugendromane. Und er wechselt kontinuierlich zwischen Serien- und Einzelromanen. Seine Thriller standen auf der „New York Times“-Bestsellerliste. Sie wurden für den British Fantasy Award, den Eisner Award und, mehrmals, den Bram Stoker Award nominiert.

Kim Sherwood ist die neue James-Bond-Autorin. Ihr Debütroman „Testament“ über die Auswirkung des Holocaust auf eine Familie erhielt den Bath Novel Award und den Harper’s Bazaar Big Book Award. 2019 stand ihr Name auf der Shortlist für den Sunday Times Young Writer of the Year Award.

Sie unterrichtet Kreatives Schreiben an der Universität von Edinburgh; – wahrscheinlich nicht mehr lange.

Christopher Goldens Buchtipps

John Irving: A Prayer for Owen Meany, 1989 (Owen Meany)

S. A. Cosby: Blacktop Wasteland, 2020 (Blacktop Wasteland)

Tana French: The Secret Place, 2014 (Geheimer Ort)

Chris Cleave: Everyone Brave is Forgiven, 2016 (Die Liebe in diesen Zeiten)

Erik Larson: The Devil in the White City, 2003 (Der Teufel von Chicago: ein Architekt, ein Mörder und die Weltausstellung, die Amerika veränderte)

Violet Castro: The Queen of the Cicadas, 2021 (-)

Kim Sherwoods Buchtipps

Dame Hilary Mantel: Wolf-Hall-Trilogie (Wolf Hall, 2009 [Wölfe]; Bring Up the Bodies, 2012 [Falken]; The Mirror & the Light, 2020 [Spiegel und Licht])

Ian Fleming: Casino Royale, 1953 (Casino Royale)

Ian Fleming: From Russia with Love, 1957 (Liebesgrüße aus Moskau)

Elmore Leonard: Be Cool, 1999 (Schnappt Chili)

Elizabeth Bowen: The Heat of the Day, 1949 (In der Hitze des Tages)

Peter O’Donnell: Modesty-Blaise-Serie, 1965 – 1996

Christopher Golden: Road of Bones – Straße des Todes

(übersetzt von Johannes Neubert)

Cross Cult, 2023

336 Seiten

26 Euro

Originalasgabe

Road of Bones

St. Martin’s Press, 2022

Christopher Golden: The Ocean Dark

(übersetzt von Sven-Eric Wehmeyer)

Buchheim, 2023

560 Seiten

39,99 Euro

Originalausgabe (als Jack Rogan)

The Ocean Dark

Ballantine Books, 2010

Kim Sherwood: Doppelt oder nichts

(übersetzt von Roswitha Giesen)

Cross Cult, 2023

496 Seiten

20 Euro

Originalausgabe

Double or Nothing

Harper Collins Publishers, 2022

Hinweise

Homepage von Kim Sherwood

Homepage von Christopher Golden

Wikipedia über Christopher Golden

Mein ausführlicher Hinweis auf Christopher Goldens (Hrsg.) „Hellboy: Leckerbissen “ (Oddest Jobs, 2008)

Und nun zu Bond, James Bond

Wikipedia über James Bond (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Ian Flemings ersten drei James-Bond-Romane “Casino Royale”, “Leben und sterben lassen” und “Moonraker”

Meine Besprechung von John Gardners “James Bond – Kernschmelze” (James Bond – Licence Renewed, 1981; alter deutscher Titel “Countdown für die Ewigkeit”)

Meine Besprechung von John Gardners „James Bond – Der Mann von Barbarossa“ (James Bond – The Man from Barbarossa, 1991)

Meine Besprechung von Sebastian Faulks’ James-Bond-Roman „Der Tod ist nur der Anfang“ (Devil may care, 2008)

Meine Besprechung von Jeffery Deavers James-Bond-Roman “Carte Blanche” (Carte Blanche, 2011)

Meine Besprechung von William Boyds James-Bond-Roman “Solo” (Solo, 2013)

Meine Besprechung von Anthony Horowitz’ “James Bond: Trigger Mortis – Der Finger Gottes” (James Bond: Trigger Mortis, 2015)

Meine Besprechung von Anthony Horowitz‘ „James Bond: Ewig und ein Tag“ (James Bond – Forever and a day, 2018)

Meine Besprechung von Anthony Horowitz‘ „James Bond: Mit der Absicht zu töten“ (James Bond – With a mind to kill, 2022)

Meine Besprechung der TV-Miniserie „Fleming – Der Mann, der Bond wurde“ (Fleming, Großbritannien 2014)

Meine Besprechung von Sam Mendes’ James-Bond-Films „Skyfall“ (Skyfall, GB/USA 2012)

Meine Besprechung von Sam Mendes’ James-Bond-Film “Spectre” (Spectre, USA/GB 2015)

Meine Besprechung von Cary Joji Fukunaga James-Bond-Film „Keine Zeit zu sterben“ (No time to die, Großbritannien 2021)

Meine Besprechung von Danny Morgensterns „Unnützes James Bond Wissen“ (2020)

Kriminalakte: Mein Gespräch mit Danny Morgenstern über „Keine Zeit zu sterben“ und sein Buch „Das ultimative James-Bond-Quizbuch“ (1. Oktober 2021) (Sehbefehl?)

Meine Besprechung von cinemas (Hrsg.) „Inside James Bond“ (2022)

James Bond in der Kriminalakte

Ian Fleming in der Kriminalakte

Etliche der Autoren und Bücher, die Christopher Golden und Kim Sherwood empfehlen, wurden auch hier in den vergangenen Jahren abgefeiert.

Kamera, Interview, Fotos: Axel Bussmer (der Vollständigkeit halber)


Im Verhörzimmer: James-Bond-Experte Danny Morgenstern

Oktober 2, 2021

Am Freitag, den 1. Oktober 2021, unterhielt die Kriminalakte sich, wenige Stunden nach der Weltpremiere des neuen James-Bond-Films „Keine Zeit zu sterben“, mit Danny Morgenstern über die von ihm besuchte Premiere in London, den Film, die Daniel-Craig-James-Bond-Filme und Morgensterns neues Buch „Das ultimative James-Bond-Quizbuch“ (Cross Cult, 2021).
Trotz meiner Spoilerwarnung am Anfang des Videos verraten wir sehr wenig von der Handlung des Films. Wer aber auf der sicheren Seite sein möchte, stoppt das Video spätestens in dem Moment, in dem wir beginnen über den neuen Film zu reden.
Danny Morgenstern veröffentlichte zahlreiche Bücher zu James Bond und vor allem den James-Bond-Filmen. Zu diesen Büchern gehören die zuletzt bei Cross Cult erschienenen Bücher „Das ultimative James-Bond-Quizbuch“ und „Unnützes James-Bond-Wissen“.
Daneben veröffentlicht er zu einzelnen James-Bond-Filmen die jeweils auf 1007 Exemplare limitierten 007-XXS-Bücher. Bisher gibt es XXS-Bände zu den ersten sechs 007-Filmen, zu „Der Mann mit dem goldenen Colt“, „Im Angesicht des Todes“, „Casino Royale“, „Ein Quantum Trost“ und „Spectre“. In wenigen Wochen erscheint „Diamantenfieber“. Damit wäre die Sean-Connery-Ära im 007-XXS-Format vollständig behandelt.

Danny Morgenstern: Das ultimative James-Bond-Quizbuch
Cross Cult, 2021
448 Seiten
15 Euro

Der Film

Keine Zeit zu sterben (No time to die, Großbritannien 2021)

Regie: Cary Joji Fukunaga

Drehbuch: Neal Purvis, Robert Wade, Cary Joji Fukunaga, Phoebe Waller-Bridge (nach einer Geschichte von Neal Purvis, Robert Wade und Cary Joji Fukunaga) (basierend auf – das ist zu schön um es auf ein schnödes „Figur von Ian Fleming“ zu reduzieren – „The James Bond novels and stories written by Ian Fleming, and the 24 James Bond motion pictures produced by Danjaq, LLC and its predecessors in interest“)

mit Daniel Craig, Rami Malek, Léa Seydoux, Lashana Lynch, Ben Whishaw, Naomie Harris, Jeffrey Wright, Christoph Waltz, Ralph Fiennes, Rory Kinnear, David Dencik, Ana de Armas, Billy Magnussen, Dali Benssalah

alternative Schreibweise „James Bond 007: Keine Zeit zu sterben“

Länge: 164 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Keine Zeit zu sterben“

Metacritic über „Keine Zeit zu sterben“

Rotten Tomatoes über „Keine Zeit zu sterben“

Wikipedia über „Keine Zeit zu sterben“ (deutsch, englisch)

Homepage von Ian Fleming

Meine Besprechung von Ian Flemings ersten drei James-Bond-Romane “Casino Royale”, “Leben und sterben lassen” und “Moonraker”

Meine Besprechung von John Gardners “James Bond – Kernschmelze” (James Bond – Licence Renewed, 1981; alter deutscher Titel “Countdown für die Ewigkeit”)

Meine Besprechung von John Gardners „James Bond – Der Mann von Barbarossa“ (James Bond – The Man from Barbarossa, 1991)

Meine Besprechung von Sebastian Faulks’ James-Bond-Roman „Der Tod ist nur der Anfang“ (Devil may care, 2008)

Meine Besprechung von Jeffery Deavers James-Bond-Roman “Carte Blanche” (Carte Blanche, 2011)

Meine Besprechung von William Boyds James-Bond-Roman “Solo” (Solo, 2013)

Meine Besprechung von Anthony Horowitz’ “James Bond: Trigger Mortis – Der Finger Gottes” (James Bond: Trigger Mortis, 2015)

Meine Besprechung von Anthony Horowitz‘ „James Bond – Ewig und ein Tag“ (James Bond – Forever and a day, 2018)

Meine Besprechung der TV-Miniserie „Fleming – Der Mann, der Bond wurde“ (Fleming, Großbritannien 2014)

Meine Besprechung von Sam Mendes’ James-Bond-Films „Skyfall“ (Skyfall, GB/USA 2012)

Meine Besprechung von Sam Mendes’ James-Bond-Film “Spectre” (Spectre, USA/GB 2015)

Meine Besprechung von Cary Joji Fukunaga James-Bond-Film „Keine Zeit zu sterben“ (No time to die, Großbritannien 2021)

Meine Besprechung von Danny Morgensterns „Unnützes James Bond Wissen“ (2020)

James Bond in der Kriminalakte

Ian Fleming in der Kriminalakte

Meine Besprechung von Cary Joji Fukunagas „True Detective – Staffel 1“ (True Detective, USA 2014)

Homepage von Danny Morgenstern

 


Im Verhörzimmer: Philipp Reinartz erklärt das „Fremdland“

Januar 2, 2019

Philipp Reinartz ohne Tatwerkzeuge (Foto: Janina Wagner)

Für die normalen Fälle ist Kommissar Jerusalem ‚Jay‘ Schmitt nicht mehr zuständig. Er ist der Chef der neugegründeten Neunten Berliner Mordkommission, die die ungewöhnlichen Mordfälle aufklären soll. In „Die letzte Farbe des Todes“ (2017) löste sie ihren ersten Fall. Jetzt ist mit „Fremdland“ der zweite Jerusalem-Schmitt-Fall erschienen und weil die Fälle in Berlin spielen, ist das ein guter Grund, Philipp Reinartz, dem Autor der Schmitt-Romane, einige Fragen zu stellen.

In „Fremdland“ verknüpft Philipp Reinartz in kurzen Kapiteln mehrere Erzählstränge. Schmitts neuer Mordfall ist der Mord an der siebenundneunzigjährigen Heimbewohnerin Louisa Sprenger. Sie lebte seit fünfzehn Jahren im Altersheim, hatte keine Kontakte und es gibt keinen offensichtlichen Grund, sie zu töten. Außerdem wäre sie sowieso in einigen Monaten gestorben. Warum wurde sie jetzt ermordet? Und, noch rätselhafter, warum machte der Mörder die Manipulation an ihrer Sauerstoffversorgung nicht rückgängig und legte mit einem Brief neben der Leiche offensichtliche Spuren zu seiner Tat? Denn ohne diese Manipulation und den Brief mit seiner verschlüsselten Botschaft hätte man Sprengers Tod als ganz normalen altersbedingten Tod registriert.

Daneben recherchiert Schmitt über ein Dienstvergehen seines Vaters. Vor zwanzig Jahren ließ er die Meldung über die Alkoholkontrolle bei einem Polizistenkollegen verschwinden. Schmitt will herausfinden, ob es wirklich nur ein längst verjährter Gefallen für einen betrunkenen Kollegen war.

Denn Grezinski war auch der Vorgesetzte von zwei Polizisten, die in dieser Nacht auf dem Koletzikigelände, einer Industriebrache, starben. Neben den toten Beamten fand man die Leichen von zwei Flüchtlingen. Schmitt glaubt, dass die offizielle Beschreibung des Tathergangs falsch ist. Aber hat der manipulierte Tatort etwas mit Grezinskis alkoholisierter Autofahrt zu tun?

In einem weiteren Handlungsstrang verfolgen wir den aus Senegal kommenden Flüchtling Mouhamadou ‚Mo‘ Diallo. Er ist verheiratet, hat eine Tochter und, weil er keine andere Arbeit findet, verdient er das Geld für seine Familie als kleiner Drogendealer. Er wird immer wieder von Polizisten inhaftiert und geschlagen. Das war in den Neunzigern.

Man muss kein erfahrener Krimileser sein, um zu vermuten, dass diese Plots miteinander zusammenhängen. Nur wie?

Der 1985 in Freiburg geborene Philipp Reinartz studierte in Köln, Saragossa und Potsdam Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, Geschichte, Germanistik, Journalismus und Design Thinking, ist Mitgründer und Geschäftsführer einer Berliner Ideenschmiede und veröffentlichte 2013 seinen Debütroman „Katerstimmung“. 2017 folgte mit „Die letzte Farbe des Todes“ sein erster Kriminalroman.

Was war die Ausgangsidee für „Fremdland“?

Ich wollte einen Plot kreieren, bei dem der Leser ein Verbrechen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und dadurch ein und dieselbe Tat immer wieder neu bewertet. Kriminalgeschichten, bei denen es am Ende jeder hätte gewesen sein können, finde ich langweilig – ich wollte die Twists durch reine Perspektivwechsel schaffen. Zudem hat mich die Spaltung der Gesellschaft beschäftigt, die Konflikte zwischen denen, die schon lange hier wohnen, und denen, die neu hier sind. Ein aktuelles Thema, aber eine zeitlose gesellschaftliche Frage.

Im Klappentext steht, dass der Roman auf einer wahren Begebenheit aus den neunziger Jahren basiere. Können Sie uns mehr darüber verraten?

Die Geschichte von Mo und Aissa hat kein konkretes Vorbild, aber sie beruht auf wahren Begebenheiten der 1990er-Jahre: Der so genannte »Hamburger Polizeiskandal« offenbarte Misshandlungen an – hauptsächlich schwarzen – Männern, im Mittelpunkt standen die auch im Roman zentralen Scheinhinrichtungen. Ich habe diese Ereignisse auf Berlin übertragen, wo in den Neunzigern bestimmte Plätze als »Gefährliche Orte« deklariert wurden, an denen Maßnahmen gegen Personen ohne konkreten Tatverdacht vorgenommen werden durften. Vorübergehend Verhaftete sprachen davon, nach dem Verhör in Randgebieten der Stadt ausgesetzt worden zu sein. Auch die vorübergehende Streichung des Senegals von der Liste der sicheren Herkunftsländer entspricht den Fakten. Trotz weiteren Unruhen in der Casamance-Region wurde der Senegal nach einigen Monaten wieder zum sicheren Herkunftsland erklärt.

Was unterscheidet ihren Ermittler, Kommissar Jerusalem ‚Jay‘ Schmitt, von anderen Ermittlern?

Oft stehen Protagonisten im Schatten ihrer übergroßen Eltern oder anderer Bezugspersonen, deren Erwartungen sie schwer erfüllen können. Bei Jay ist es genau umgekehrt: Sein Vater war zwar auch bei der Polizei, aber ist eben nicht die typische Mentorenfigur, der der Sohn nacheifert. Jay überflügelt seinen Vater, der nicht über einen niedrigen Dienstgrad hinauskam, bei weitem. Woraus dann aber ebenso Konflikte entstehen.

Der Roman spielt in Berlin. Wie wichtig ist die Stadt für die Romangeschichte und die Romanserie?

Berlin ist ein toller Schauplatz, weil die Stadt viel Abwechslung bietet. Verlassenes Fabrikgelände, Kriminalität, Haus im Grünen, Großer Polizeiapparat – die meisten Ideen lassen sich hier umsetzen. Aber die Geschichte ist nicht an Berlin gekoppelt, der Plot entsteht bei mir unabhängig von Berlin. Und meine Figuren müssen auch nicht am Brandenburger Tor entlang und alle paar Seiten eine Currywurst essen – ich will ein Berlin jenseits der Klischees.

Wie sieht Ihr Schreibprozess aus?

Selten romantisch chaotisch mit Weinglas auf der Dachterrasse, ich bin ein strukturierter Schreiber. Ich arbeite einige Tage nur am Plot, bis ich eine Geschichte habe, die so einzigartig ist, dass sie es wert ist, erzählt zu werden. Dann überlege ich mir einen groben Fahrplan und beginne mit der Recherche. Die war in diesem Fall so spannend wie schwierig. Wer kennt zum Beispiel heute noch Rechte und Pflichten von Flüchtlingen aus einem vorübergehend nicht sicheren Herkunftsland Mitte der Neunziger? Zum Glück hatte ich hilfsbereite Experten. Recht früh starte ich aber auch schon mit dem ersten Kapitel und teste aus, ob alles funktioniert. Ab dann sitze ich jeweils lange an einer Seite, ist diese aber fertig, wird wenig daran geändert. Ganze Kapitel oder Figuren wurden bisher zum Beispiel weder von mir noch von meinen Lektoren gestrichen.

Welche fünf Bücher empfehlen Sie für die langen Winternächte?

Sand“ von Wolfgang Herrndorf

Radetzkymarsch“ von Joseph Roth

Ostende“ von Volker Weidermann

Zeit der Zauberer“ meines Mannschaftskollegen in der Fußballnationalmannschaft der Autoren, Wolfram Eilenberger

Livealbum“ von Benjamin von Stuckrad-Barre

Vielen Dank für das Gespräch!

Philipp Reinartz: Fremdland

Goldmann, 2019

320 Seiten

10 Euro

Die Buchpremiere ist am Samstag, den 19. Januar, um 21.00 Uhr im „Mein Haus am See, Cosmic Kaspar“ (Brunnenstraße 197/198, 10119 Berlin). Andreas Merkel moderiert, DJ Jazzmin legt danach auf und der Eintritt beträgt 5 Euro.

Hinweise

Goldmann über Philipp Reinartz

Homepage von Philipp Reinartz

Wikipedia über Philipp Reinartz


Im Verhörzimmer: Rebecca Cantrell, wegen dreier gemeinsamer Delikte mit James Rollins

Juli 6, 2015

Rebecca Cantrell

In jedem Schreibratgeber gibt es ein Kapitel, das ausführlich beschreibt, warum Autoren ihre Bücher nicht mit einem anderen Autor zusammen schreiben sollen. Und dann gibt es einige Beispiele, in denen Autoren das tun. Teilweise über viele Jahre und Jahrzehnte. Ich sage nur Ellery Queen (eigentlich Frederick Dannay und Manfred Bennington Lee), Maj Sjöwall/Per Wahlöö, Douglas Preston/Lincoln Child, Nicci French (eigentlich Nicci Gerrard und Sean French) und James Patterson hat die Ko-Autorenschaft zu einem Geschäftsmodell erhoben. Ken Bruen und Jason Starr schrieben zusammen drei Romane und in einem Interview sagte Bruen mir, dass ihm eine Co-Autorenschaft gefalle, weil er dann nur einen halben Roman schreiben müsse.
Die International Thriller Writers veröffentlichten letztes Jahr einen Sammelband mit Kurzgeschichten, die immer von zwei Thriller-Autoren geschrieben waren. Einer von ihnen war James Rollins, der dafür zusammen mit Steve Berry eine Kurzgeschichte schrieb. Aber eine Kurzgeschichte umfasst nur wenige Seiten. Ein Roman schon mehr. Eine Trilogie noch mehr und eine Abenteuerthriller-Trilogie schafft es leicht auf gut zweitausend Seiten. Ungefähr so viele Seiten schrieb James Rollins mit Rebecca Cantrell, die derzeit in Berlin lebt und unter ihrem Namen schon einige Bücher veröffentlichte. Aber dazu später mehr.
Wenden wir uns erst ihren zusammen mit James Rollins geschriebenen Romanen „Das Evangelium des Blutes“ (The Blood Gospel, 2012), „Das Blut des Verräters“. (Innocent Blood – The Blood Gospel 02, 2014; deutsche Ausgabe erscheint Ende Juli) und „Blood Infernal“ (2015) zu.
In ihnen kämpfen die Archäologin Erin Granger, der US-Soldat Jordan Stone und Pater Rhun Korza, ein Sanguinarier (ein Vampir, der wegen seines Glaubens auf die übliche Vampirnahrung verzichtet), gegen dunkle Mächte, die in „Das Evangelium des Blutes“ das von Jesus Christus mit seinem Blut geschriebene und deshalb besonders mächtige Evangelium wollen. In den falschen Händen kann seine Macht für schlimme Dinge benutzt werden. In „Das Blut des Verräters“ geht es um die Seele eines Kindes und die drohende Apokalypse.
Vor der Apokalypse wurde Frau Cantrell ins Verhörzimmer gebeten.

Was war die Grundidee für „Das Evangelium des Blutes“ und die beiden Folgeromane?

James Rollins sah im Los Angeles County Museum of Art Rembrandts Gemälde „Auferweckung des Lazarus“. Das atmosphärische Bild hat einen beunruhigenden Subtext – mit Ausdrücken von Furcht in den Gesichtern der Zuschauer und von Lazarus‘ Lippen tropfender Wein oder Blut. Da hatte er die Idee, das katholischen Ritual, bei dem während der Messe das Blut von Jesus Christus getrunken wird, mit einem anderen Ritual zu verbinden, in dem dieses heilige Blut verwenden wird, um Vampire vor der Verdammnis zu retten. Ausgehend von dieser Prämisse arbeiteten wir zusammen beim Erschaffen der Charaktere und der Welt in der sie Leben. Für „Innocent Blood“ und „Blood Infernal“ hatten wir einige Ideen, die auf dem basierten, was wir in „The Blood Gospel“ erschaffen hatten. Aber die Bücher entstanden ziemlich natürlich nacheinander.

In der „Blood Gospel“-Trilogie haben Sie eine reichhaltige Mythologie entworfen, die aus der Geschichte und dem Horrorgenre schöpft. Wie entwickelten Sie diese Welt?

Nachdem wir mit unseren Recherchen über die wahren Hintergründe der Geschichten aus der Bibel und Vampirlegenden begannen hatten, war es erstaunlich, wie viele historische Fakten perfekt in unsere Geschichten passten. Von der Auferstehung von Lazarus über die katholische Tradition, das Fleisch von Jesus zu essen und sein Blut zu trinken bis zur Verwendung von Silber in geweihten Gegenständen.
Am Ende schrieben wir ein Handbuch, das die Regeln unserer Welt festlegte. Von einer Biographie für die Charaktere und einer Chronik wichtiger Ereignisse, bis zum Umgang der verschiedenen Kreaturen miteinander. Darin steht, zum Beispiel, wie ein Blasphemare erschaffen wird (ein Tier, das zum Gefährten eines Strigoi [eines nicht-katholischen Vampirs] wird, indem es über eine lange Zeit mit dem Blut des Strigoi gefüttert wird) und die verschiedenen Regeln unserer Welt (Wie wirkt Silber? Wie wirkt sich geweihte Erde auf Sanguinarier und Strigoi aus?) festlegt.
In jedem Buch versuchten wir, unsere Welt widerspruchsfrei zu zeichnen und sie gleichzeitig zu erweitern, indem wir unseren Lesern neue Dimensionen zeigen und sie mit neuen Elementen überraschen. Es war ein großer Spaß!

Die Romane entstanden zusammen mit dem auch in Deutschalnd bekannten Thriller-Autor James Rollins. Wie verläuft die Zusammenarbeit mit ihm?

James hatte die ursprüngliche Idee, eine erste Zusammenfassung und Informationen über die Charaktere. Ab da arbeiteten wir sehr eng zusammen beim Ausformulieren der Charaktere, dem Erschaffen einer reichhaltigeren Welt und beim Vertiefen oder Verändern der Geschichte.
Montags unterhielten wir uns über Skype über die Seiten, die wir vorherige Woche geschrieben hatten, und wir besprachen alle neuen Ideen, die wir für unsere Outline hatten. Es ist rückblickend schwer zu sagen, wer welche Idee hatte, weil wir sie so miteinander oft besprachen.
Am Anfang entschieden wir uns, nachdem wir eine Szene in verschiedenen Stilen geschrieben hatten, für einen gemeinsamen Schreibstil. Danach versuchten wir, in diesem Stil zu Schreiben und die von dem anderen geschriebenen Seiten hin zu diesem Stil zu überarbeiten.
Die Bücher entstanden über eine längere Zeit und durch tausend Gespräche (einmal pro Woche über drei Jahre – das WAREN wirklich tausend Gespräche – Wow!) über die Charaktere und Plot Points und Orte, die sich bis zur letzten Sekunde änderten.

Was sind für Sie die größten Unterschiede zwischen einer Zusammenarbeit mit einem anderen Autor (in einem Interview sagte Sie, dass sie sich weitere Bücher mit James Rollins vorstellen können) und der Solo-Arbeit?

Es macht viel Spaß, mit einem anderen Autor zusammemen zu arbeiten. James und ich tendieren dazu, an verschiedenen Punkten hängen zu bleiben. Wenn ich also fest steckte, konnte ich die Seiten ihm geben. Er konnte dann meine Probleme lösen und auch die Geschichte weiterschreiben. Es war, als würde ich mit einer magischen Elf schreiben – er löste Probleme oder beendete Szenen über Nacht (wegen dem Zeitunterschied) und ich hatte überarbeitete und fehlerfreie Seiten, wenn ich am Morgen aufwachte. Manchmal war auch ich die Elfe. Und zwei Köpfe anstatt einem Kopf ließen uns Dinge schneller erfinden und wir konnten die Geschichten in Richtungen verändern, die wir nicht ausprobiert hätten, wenn wir alleine gearbeitet hätten.
Wenn unsere Termine es zulassen, was keine einfache Aufgabe ist, werden wir sicher wieder an weiteren Sanguinarier-Büchern oder etwas anderem zusammen arbeiten.

Können Sie uns noch etwas über ihre anderen beiden Serien verraten? Und ob Übersetzungen geplant sind?

Die ersten Bücher, die ich veröffentlichte, erzählen die Abenteuer einer Kriminalreporterin, die Spionin wurde. Sie heißt Hannah Vogel und lebt im Berlin der 1930er lebt. Viele ihrer Abenteuer erlebt sie Orten, die in der Nähe von meinem Apartment in Berlin Mitte sind. Bis jetzt besteht die Serie aus vier Romanen: „A Trace of Smoke“ (spielt 1931), „A Night of Long Knives“ (spielt 1934), „A Game of Lies“ (spielt 1936) und „A City of Broken Glass“ (spelt 1938). Mein Verleger veröffentlichte gerade einen Sammelband, der alle vier Romane enthält und „A Time of Night and Fog“ heißt. Diese Bücher haben verschiedene Preise gewonnen (Macavity, Bruce Alexander) und waren für andere nominiert (Mary Higgins Clark, RT Best Historical, Barry). Sie wurden auch in verschiedene andere Sprachen übersetzt, aber bis jetzt gibt es keine Übersetzung ins Deutsche. Aber man weiß ja nie!
Meine zweite Serie erzählt die Abenteuer eines Software-Multimillionärs, der wegen seiner Platzangst in den Tunneln von New York City lebt. Bis jetzt gibt es drei Romane mit Joe Tesla: „The World Beneath“, „The Tesla Legacy“ und „The Chemistry of Death“. Auch diese Romane haben Preise gewonnen, wie den International Thriller Writers Best Thriller Award. Auch sie wurden übersetzt, aber, wieder, bis jetzt nicht ins Deutsche.

Welche fünf Bücher empfehlen Sie für den Sommerurlaub?

Der Marsianer (The Martian) von Andy Weir. Ein kurzweiliges und komisches Buch über einen Astronauten, der alleine auf dem Mars gestrandet ist. (Anmerkung: Die Verfilmung von Ridley Scott mit Matt Damon in der Hauptrolle startet bei uns am 8. Oktober.)

Das Licht der letzten Tage (Station Eleven, deutsche Ausgabe erscheint am 15. September 2015) von Emily St. John Mandel. Ein lyrischer und aufrüttelnder Blick auf das Leben in den Vereinigten Staaten, nachdem neunzig Prozent der Bevölkerung durch eine Krankheit vernichtet wurden.

Post von Sean Black. Ein kaum futuristischer Roman über einen Mann, der durch verschiedene Implantate vom Militär zum Supersoldaten wurde und der versucht, seine Menschlichkeit zu behalten.

Die Gehilfin des Bienenzüchters (The Beekeeper’s Apprentice) von Laurie King. Eine junge Frau trifft in England im Moor einen alten Imker, der sie seine Arbeit lehrt. Aber er ist nicht nur ein Bienenzüchter. Er ist auch Sherlock Holmes.

Global Hack (Future Crimes, deutsche Ausgabe erscheint am 28. September 2015) von Marc Goodman. Das ist ein Sachbuch über Cybercrime auf der ganzen Welt, was gerade geschieht und was geschehen wird. Es ist in dieser Liste das mit Abstand erschreckenste Buch!

Rollins - Cantrell - Das Evangelium des Blutes - 2Rollins - Cantrell - Das Blut des Verräters - 2
James Rollins/Rebecca Cantrell: Das Evangelium des Blutes
(übersetzt von Norbert Stöbe)
Blanvalet, 2014
672 Seiten
9,99 Euro

Originalausgabe
The Blood Gospel
William Morrow, 2012

James Rollins/Rebecca Cantrell: Das Blut des Verräters
(übersetzt von Norbert Stöbe)
Blanvalet, 2015
608 Seiten
9,99 Euro
(erscheint am 20. Juli)

Originalausgabe
Innocent Blood (The Blood Gospel 02)
William Morrow, New York 2014

Hinweise

Homepage von James Rollins

Homepage von Rebecca Cantrell

Meine Besprechung von James Rollins’ „Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels“ (Indiana Jones and the Kingdom of the Crystal Skull, 2008)

Meine Besprechung von James Rollins/Rebecca Cantrells „Das Evangelium des Blutes“ ( The Blood Gospel, 2013)

Excuse Me, I’m Writing: Interview mit James Rollins und Rebecca Cantrell über „Das Evangelium des Blutes“ (Januar 2013)

The Big Thrill: Interview mit James Rollins und Rebecca Cantrell zu „Blood Infernal“ (Januar 2015)


Im Verhörzimmer: Joe R. Lansdale über seinen neuen Roman „Das Dickicht“

August 27, 2014

Lansdale - Das Dickicht - 4

Für die Kriminalakte ist das Erscheinen des neuen Romans „Das Dickicht“ von Joe R. Lansdale eine gute Gelegenheit, dem Mann einige Fragen zu stellen.

Der Texaner Joe R. Lansdale schrieb in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Romane und Kurzgeschichten in unterschiedlichen Genres, die alle irgendwie zur Spannungsliteratur gehören: Kriminalromane, Thriller, Horror-Geschichten, Western und abgedrehte Variationen davon. Einige Comics schrieb er auch und er schnüffelte an den Rändern von Hollywood herum. Ein kleiner Klassiker ist „Bubba Ho-Tep“. Don Coscarelli verfilmte mit Bruce Campbell Lansdales gleichnamige Kurzgeschichte, in der im Altersheim Elvis Presley und John F. Kennedy (ein Schwarzer) gegen eine ägyptische Mumie kämpfen. Ein großer Spaß. Demnächst läuft auf dem Fantasy-Filmfest die brandneue, prominent besetzte Romanverfilmung „Cold in July“ von Jim Mickle, mit Michael C. Hall, Don Johnson und Sam Shepard.

Äußerst beliebt bei Krimilesern sind seine knochentrockenen Geschichten mit Hap Collins und Leonard Pine. Neun Romane mit dem seltsamen Paar sind bereits erschienen.

In den vergangenen Jahren, vor allem seit dem mit dem Edgar ausgezeichntem „Die Wälder am Fluss“ (The Bottoms), schrieb Lansdale auch mehrere Romane, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts in seiner Heimat Osttexas spielen. Protagonist ist oft ein sehr junger Mensch und die Rassenfrage wird immer thematisiert.

Auch die Abenteuergeschichte „Das Dickicht“ spielt zu Beginn des letzten Jahrhunderts: Autos und Telefone gibt es schon, aber normalerweise bewegt man sich auf einem Pferd von einem Ort zum nächsten. Der sechzehnjährige Jack Parker macht sich, nach dem Pockentod seiner Eltern und der Ermordung seines Großvaters auf dem Sabine River, mit dem Afroamerikaner Eustace Cox, seinem Wildschwein Keiler, dem Zwerg Shorty, dem Freudenmädchen Jimmie Sue und dem Sheriff und früheren Kopfgeldjäger Winton auf die Jagd nach dem Mörder seines Großvaters und den Entführern seiner jüngeren Schwester. Das sind Cut Throat Bill, Nigger Pete und Fatty Worth, drei skrupellose Banditen, die im titelgebenden Dickicht, einer gesetzlosen Gegend, untergetaucht sind.

 

 

Was war die Inspiration für „Das Dickicht“?

 

Die Hauptinspiration für „Das Dickicht“ waren Geschichten über Ost-Texas, die ich als Jugendlicher hörte. Dazu kam die Lektüre von Mark Twain und pure Einbildung. Ich nehme gerne etwas, das einen Bezug zur Realität hat und entfessele meine Fantasie. Mein Vater, zum Beispiel, hatte als Kind Pocken. Er wurde 1909 geboren, ein Jahr bevor Mark Twain starb. Er hörte viele Geschichten über Ost-Texas, das große Dickicht, wo meine Geschichte spielt, und ich verwendete Geschichten, die ich von meiner Großmutter hörte. Und einige Kleinigkeiten von meiner Mutter. Wieder einmal verschmolz ich meine Fantasie mit diesen Geschichten und so entstand dieser Roman. Der Zwerg Shorty war für mich eine Überraschung. Über seinen Ursprung kann ich nichts sagen.

 

 

In den vergangenen Jahren, vor allem seit „The Bottoms“ spielen viele ihrer Geschichten in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und oft erzählen sie die Abenteuer von jungen Menschen. Woher kommt ihr Interesse an dieser Zeit und den jugendlichen Charakteren?

 

 

Ich habe mich schon immer für Geschichte interessiert. Meine Eltern waren während dieser Zeit junge Erwachsene und Erwachsene. Es war eine schwere Zeit, also war ich neugierig. Wie ich schon bei der vorherigen Frage sagte: ich hörte viele Geschichten über die Große Depression. Sie hatte, wie du dir denken kannst, einen großen Einfluss auf meine Eltern. Meine anderen Romane entstanden, wie „Das Dickicht“, ausgehend vom Hörensagen oder eher mündlichem Geschichtenerzählen. Einige Geschichten, die mir erzählt wurden, waren wahr. Andere nicht. Manchmal waren es nur alte Geschichten, die weitererzählt wurden und nichts mit meiner Familie zu tun hatten. Aber es waren die Erfahrungen und Geschichten von anderen.

Ich denke, ich bin einer der letzten, der noch da war, um diese alten Geschichten zu hören, weil meine Eltern, als ich geboren wurde, älter waren als die Eltern von meinen Klassenkameraden. Sogar mein Bruder ist siebzehn Jahre älter als ich. Daher hat er etwas andere Erfahrungen als ich und ich habe viele Dinge von ihm gelernt. Das war so nicht geplant. Es geschah einfach.

Ich bin ein guter Zuhörer, wenn es um Geschichten geht. Vorausgesetzt, sie interessieren mich. Während die anderen Kinder spielten, saß ich bei den Erwachsene und hörte ihnen zu.

 

 

Sie schreiben in vielen verschiedenen Genres und Comics. Woher wissen Sie, welches Genre das richtige Genre für die Geschichte ist und was sind die Vorteile von Genres?

 

 

Wenn mich jemand fragt, ob ich einen Kriminal-, Horror- oder was auch immer für eine Genre-Geschichte schreiben soll, dann kenne ich die Richtung. Aber das ist auch alles. Zuerst muss es mich interessieren, und dann habe ich die grobe Richtung in die die Erzählung sich bewegen soll. Aber danach lasse ich die Geschichte ihren eigenen Weg finden. Manchmal setzte ich mich einfach hin und beginne mit dem Schreiben. Ausgehend von einer Stimmung oder einer einzigen Idee. Dann entwickelt sich die Geschichte und sie wird, was immer sie werden will.

Ich denke, ich kann nur schreiben, indem ich die Geschichte ihre Stimme finden lasse. Ich kann gelenkt, aber nicht kontrolliert werden.

 

 

Können Sie uns etwas über ihren Schreibprozess erzählen? Wie entsteht ein Lansdale-Roman?

 

Ich recherchiere ohne zu denken, dass ich recherchiere. Ich lese einfach, was mich interessiert oder fasziniert, Erzählungen und Sachbücher. Ich lese viel über Geschichte; Biographien und so. Ich lese viel und ich lese fast ständig, mit kurzen Pausen, weil ich es sowieso tun würde und es mir gefällt.

Ich schreibe gern. Normalerweise schreibe ich am Morgen, kurz nachdem ich aufstehe. Ich versuche täglich mindestens drei bis fünf Seiten zu schreiben, und oft wird es mehr. Ich mache das fünf bis sieben Tage pro Woche, manchmal auch im Urlaub. Aber ich arbeite selten mehr als drei Stunden. So tue ich regelmäßig etwas und ich fühle mich jeden Tag wie ein Held.

Ich schreibe eine sehr gewissenhafte erste Fassung, mit Überarbeitungen während des Schreibens. Danach wird diese Fassung noch einmal in Details überarbeitet.

Manchmal habe ich eine Geschichte, die eine größere Überarbeitung erfordert, aber während des Schreibens überarbeite ich bereits das Geschriebene und am nächsten Tag überarbeitete ich die Arbeit des vorherigen Tages und tauche so wieder in die Geschichte ein. So erledige ich viele Überarbeitungen während des Schreiben.

Mehrere Fassungen mag ich nicht. Es deprimiert mich einfach und meine Geschichten werden mit dieser Methode nicht besser, sondern schlechter.

Am besten funktioniert für mich: Sorgfältig jetzt, kleine Veränderungen später.

 

 

Welche fünf Bücher würden Sie für den späten Sommerurlaub empfehlen?

 

Adventures of Huckleberry Finn (Die Abenteuer des Huckleberry Finn; Huckleberry Finn; Huckleberry Finns Abenteuer), von Mark Twain

To Kill a Mocking Bird (Wer die Nachtigall stört), von Harper Lee

True Grit (Die mutige Mattie, True Grit), von Charles Porties

The Great Gatsby (Der große Gatsby), von F. Scott Fitzgerald

The Martian Chronicles (Die Mars-Chroniken), von Ray Bradbury

Diese Liste kann sich verändern, aber diese Bücher gehören immer zu meinem Lieblingsbüchern.

Wenn ich etwa schwindeln darf, indem ich eine Kurzgeschichtensammlung hinzufüge, empfehle ich

A Good Man is hard to find, von Flannery O’Connor (diese Sammlung wurde so anscheinend nicht übersetzt, aber die Kurzgeschichten von Flannery O’Connor erschienen in verschiedenen, antiquarisch erhältlichen Sammelbänden)

Joe R. Lansdale: Das Dickicht

(übersetzt von Hannes Riffel)

Tropen, 2014

336 Seiten

19,95 Euro

Originalausgabe

The Thicket

Mulholland Books, 2013

Hinweise

Homepage von Joe R. Lansdale

Stuttgarter Zeitung: Thomas Klingenmaier hat Joe R. Lansdale getroffen (25. März 2013)

Meine Besprechung von Joe R. Lansdales „Wilder Winter“ (Savage Season, 1990)

Meine Besprechung von Joe R. Lansdales „Rumble Tumble“ (Rumble Tumble, 1998 )

Meine Besprechung von Joe R. Lansdales “Der Gott der Klinge” (The God of the Razor, 2007)

Meine Besprechung von Joe R. Lansdales “Der Teufelskeiler” (The Boar, 1998)

Meine Besprechung  von Joe R. Lansdales „Akt der Liebe“ (Act of Love, 1981)

Meine Besprechung von Joe R. Lansdales „Die Wälder am Fluss“ (The Bottoms, 2000)

Meine Besprechung von Joe R. Lansdales “Kahlschlag” (Sunset and Sawdust, 2004)

Meine Besprechung von Joe R. Lansdales “Gauklersommer” (Leather Maiden, 2008)

Meine Besprechung von Joe R. Lansdales “Ein feiner dunkler Riss” (A fine dark Line, 2003)

Meine Besprechung von Joe R. Lansdales „Dunkle Gewässer“ (Edge of Dark Water, 2012)

Meine Besprechung von Joe R. Lansdales „Straße der Toten“ (Deadman’s Road, 2010)

Meine Besprechung von Joe R. Lansdales „Machos und Moneten“ (Captains Outrageous, 2001)

Mulholland Books: Joe R. Lansdale über die Ursprünge von „Das Dickicht“


Im Verhörzimmer: Wolfgang Schweiger erklärt das „Duell am Chiemsee“ – und einige andere Dinge

August 11, 2014
Wolfgang Schweiger (Bild: Pendragon)

Wolfgang Schweiger (Bild: Marietta Heel)

 

Die Veröffentlichung von „Duell am Chiemsee“, der sechste Fall der am Chiemsee ermittelnden Kommissare Andreas Gruber und Ulrike Bischoff, war für die Kriminalakte die Gelegenheit, Wolfgang Schweiger, den Autor der Chiemgau-Krimis, in eines unserer Verhörzimmer zu bitten.

Wolfgang Schweiger veröffentlichte zwischen 1984 und 1994 elf Romane, die vor allem im Bereich Noir, Hardboiled und Gangsterkrimi angesiedelt waren, und das Sachbuch „Der Polizeifilm“. 1999 gab es mit „Kein Job für eine Dame“ einen einmaligen Nachschlag. Erst 2008 veröffentlichte er mit „Der höchste Preis“ einen weiteren Roman. Seitdem erschienen fünf weitere Kriminalromane. Immer mit den Kommissaren Gruber und Bischoff.

In seinem neuesten Kriminalroman „Duell am Chiemsee“ wird der Ex-Kriminelle und Schauspieler Frank Janek von einem alten Komplizen und Freund erpresst, einen Drogenhändler zu überfallen. Eine einfache Sache, die mit mehreren Toten endet. Gruber und Bischoff beginnen mit den Ermittlungen – und Janek wird unweigerlich immer tiefer in den kriminellen Sog, dem er anscheinend schon vor Jahren entkommen war, gezogen.

Duell am Chiemsee“ ist ein spannender Gangsterkrimi unter der Tarnkappe eines Regiokrimis mit den ermittelnden Polizisten als Zaungäste in einem blutigen und leichengesättigten Drama.

Was war die Ausgangsidee für „Duell am Chiemsee“?

Schon Schiller schrieb, in jedem von uns stecke ein Borgia. Das wollte ich auf die Hauptfigur übertragen, einen solide gewordenen Ex-Gangster, der von seiner Vergangenheit eingeholt wird. Die Herausforderung dabei war für mich, diesen Mann als halbwegs positive Figur zu erhalten, obwohl er bedenkenlos tötet, wenn er es für nötig hält.

Wie sähe Ihre Wunschbesetzung für eine Verfilmung des Romans aus, wenn Sie vollkommen freie Hand hätten und auch Tote mitspielen dürften?

– Ray Winstone (Gruber),

– Julia Koschitz (Bischoff)

– Josh Brolin (Janek)

– Thomas Kretschmann (Bosch)

– Christoph Waltz (Friesinger)

Ihre frühen Romane waren alle Einzelromane. Mit den Gruber-Bischoff-Polizeiromanen schreiben Sie inzwischen eine Serie, die auch noch in einer erkennbaren Ferienregion spielt. Wo sehen Sie die Unterschiede einer Serie gegenüber Einzelromanen und wie vermeiden Sie die Fallen des Regiokrimis?

Eine (Polizei)Serie engt zunächst ein, weil vorhersehbar ist, dass die Ermittler sich zu helfen wissen und am Ende die Gewinner sind.

Andererseits kann ich die Figuren der Ermittler im Verlauf der Serie weiter entwickeln und dem Leser so vertraut machen, dass er sie wie gute Bekannte empfindet, die er im besten Fall einmal im Jahr trifft.

Bei Einzelromanen muss man stets auf neue um die Aufmerksamkeit der Leser kämpfen.

Für meinen Geschmack wird im Regiokrimi häufig zu viel Wert auf Lokalkolorit gelegt zu Lasten der Handlung. Vor allem, wenn die Krimis in (Ober)Bayern spielen und Gaudi und Klischees die Oberhand gewinnen. Auch den Gebrauch von Dialekt in diesen Krimis kann ich nichts abgewinnen. Das ist mühsam für den Leser und bringt atmosphärisch gar nichts.

Sie haben früher auch Drehbücher für „Der Fahnder“ und „Soko 5113“ geschrieben. Wie unterscheidet sich für Sie die Arbeit an einem Drehbuch von der Arbeit an einem Roman?

Rein technisch gesehen ist die Arbeit an einem Drehbuch um Vieles einfacher, da alles über den Dialog und die Handlung läuft, komplizierte Beschreibungen aller Art (Sonnenuntergänge, die Gedankenwelt eines Serienkillers etc) entfallen.

Andererseits muss man, schreibt man z. B. für eine Krimiserie, alle möglichen Vorgaben beachten („unsere Hauptfigur macht so etwas nicht!“) und ständig darauf achten, ob diese oder jene Szene auch finanzierbar (und aus Sicht der TV-Sender moralisch vertretbar) ist.

Bei einem Roman hingegen habe ich alle Freiheiten, kann meine Geschichte überall und zu jeder Zeit spielen lassen. Am Ende ist nicht irgendein Produzent, Redakteur oder Regisseur die letzte Instanz, sondern ich selbst (in Absprache mit dem Verleger).

Wie sieht Ihr Schreibprozess aus?

Der Schreib- oder besser gesagt Herstellungsprozess bei meinen jährlichen Gruber/Bischoff Krimis sieht so aus, dass ich bald nach Erscheinen des letzten Buches anfange, auf ausgedehnten Spaziergängen nach einer neuen Grundidee zu suchen. Ist die gefunden, skizziere ich auf ein paar Seiten das vorläufige Handlungsgerüst und die wichtigsten Figuren, gefolgt von einer Kapiteleinteilung.

Für mich ist ganz wichtig, dabei, dass ich das Ende der Geschichte kenne. Erst dann fange ich an zu schreiben, meist vormittags zwischen acht und zwölf.

Ist nach sechs bis acht Wochen eine erste durchgeschriebene Fassung fertig, geht sie an den Verlag, damit der Verleger weiß, was auf ihn zukommt und er seine Anmerkungen und Änderungsvorschläge dazu machen kann. Und da Schreiben Überarbeiten heißt, dauert es dann bis zur 4. oder 5. Fassung, bis ich zufrieden bin.

Die Recherche gestaltet sich manchmal recht skurril: Als ich für meinen zweiten Gruber/Bischoff-Roman einen Blick in die JVA Traunstein werfen wollte, wurde mir dies aus Datenschutzgründen verweigert und der zuständige Herr meinte allen Ernstes, ich solle es doch wie der Karl May halten, der die Schauplätze seiner Geschichten ja auch nicht gekannt habe.

Welche fünf Bücher empfehlen Sie für den Sommerurlaub?

– David Weddle „If They Move … Kill ’Em!“

Die beste Sam Peckinpah-Biografie und zugleich das interessanteste Filmbuch, das ich kenne.

– Philipp Blom „Böse Philosophen“

Aufklärung tut not.

– Stephen Hunter „Pale Horse Coming“

Pulp Fiction vom Feinsten. Hunter auf dem Höhepunkt. Leider hat er in den vergangenen Jahren furchtbar nachgelassen.

– Jörg Fauser „Rohstoff“

Ein Klassiker, immer wieder lesenswert.

– Robert Hültner „Tödliches Bayern“

Authentische Kriminalfälle aus Bayern und der Stoff, aus dem Regiokrimis geschnitzt sein sollten.

Schweiger - Duell am Chiemsee - 2

Wolfgang Schweiger: Duell am Chiemsee

Pendragon, 2014

264 Seiten

10,99 Euro

Hinweise

Homepage von Wolfgang Schweiger

Lexikon der deutschen Krimi-Autoren über Wolfgang Schweiger

Rosenheimer Nachrichten: Interview mit Wolfgang Schweiger (26. November 2006)

Meine Besprechung von Wolfgang Schweigers „Der höchste Preis” (2008)

Meine Besprechung von Wolfgang Schweigers „Tödlicher Grenzverkehr“ (2010)

Meine Besprechung von Wolfgang Schweigers „Duell am Chiemsee“ (2014)


Im Verhörzimmer: Peter Schmidt mit „Einsteins Gehirn“

August 31, 2012

In seinem neuesten Roman „Einsteins Gehirn“ schickt Peter Schmidt ein vierzehnjähriges Genie um die halbe Welt. Denn Albert Pottkämper glaubt nicht, dass sein Vater, ein durchschnittlich begabter Schwindler, sein Erzeuger ist. Eher schon Albert Einstein und die im heimischen Keller stehende, aus Princeton geklaute Stickstoffflasche, über die sein Vater nicht reden will, erhärtet seinen Verdacht. Dort unterrichtete und starb Albert Einstein. Also benutzt Albert Pottkämper das Verschwinden seiner Schwester für eine kleine Flucht, auf der er dem Präsidenten der USA, dem Papst und dem Dalai Lama zu persönlichen Gesprächen trifft, in den Armen einer Schauspielerin seine Unschuld verliert und irgendwie herausfindet, wer sein Vater ist.

In den vergangenen dreißig Jahren schrieb Peter Schmidt neben Komödien und Science-Fiction-Geschichten vor allem Polit-Thriller, die internationales Niveau erreichten, und für die er dreimal den Deutschen Krimipreis erhielt. Jochen Schmidt nennt Peter Schmidts Debütroman „Mehnerts Fall“ (1981) „das wichtigste Debüt im deutschen Krimi seit dem Erscheinen von Richard Heys Erstling 1973“ (Jochen Schmidt: Gangster, Opfer, Detektive, 1989/2009 [Tipp: Erstausgabe antiquarisch suchen]). Rudi Kost und Thomas Klingenmaier sagten in ihrem 1995 erschienenem Autoren-ABC „Steckbriefe“ (antiquarische Suche lohnt sich): „Peter Schmidt hat hierzulande den Polit-Thriller salonfähig gemacht und ohne sonderliche Mühe einen Standard erreicht, der internationalen Vergleichen standhalten kann.“

Seine Geschichten aus der Welt der Geheimdienste sollte man sich heute, mit dem NSU-Desaster der Sicherheitsbehörden im Hinterkopf, noch einmal durchlesen. Inzwischen hat er über dreißig Romane veröffentlicht und „Einsteins Gehirn“ zeigt keine Spur von Altersmilde. Aber das kann auch an dem jungen Erzähler liegen, der keinen Respekt vor den Obrigkeiten hat.

Jedenfalls war die Veröffentlichung von „Einsteins Gehirn“ für die Kriminalakte die Gelgenheit, dem Autor einige Fragen zu stellen:

 

Was war die Initialzündung für „Einsteins Gehirn“?

 

Ich habe mich fast totgelacht, als ich den Grundeinfall hatte. Und dann weiter jeden Tag während des Schreibens – gelacht über meine verrückten jungen Oberklugscheißer Albert …

Als das Buch fertig war, stand ich morgens auf und ging barfuss und im Schlafanzug ins Arbeitszimmer, um etwas im Manuskript nachzusehen. Und der Bursche hat es geschafft, dass ich noch mal 45 Seiten vom Anfang meines eigenen Romans las – und lachte …

Das ist tatsächlich passiert. Aber Vorsicht. Alberts kommt erst mal harmlos und witzig daher, doch vielleicht wird man damit ja in eine Falle gelockt? Wenn man das Ganze mit seinen verschiedenen Ebenen überblickt, ist es ein äußerst durchtriebenes, ja geradezu hinterhältiges Buch.

 

Einige Ihrer Romane sind Ich-Erzählungen. Andere nicht. Wie wählen Sie die Erzählperspektive aus? Und haben Sie eine Lieblingsperspektive?

 

Die Perspektive entwickelt sich aus dem Bauchgefühl heraus, was für den Stoff am effektivsten erscheint. Bei Einsteins Gehirn musste ich unbedingt in die Ich-Erzähler-Rolle des kleinen Besserwissers schlüpfen – der dann ja eigentlich in vielen Bereichen ein exzellenter Fachmann ist – was man natürlich eher mitbekommt, wenn man selber einer ist …

 

Obwohl Sie als Polit-Thriller-Autor bekannt sind, haben Sie immer auch in anderen Genres Geschichten erzählt. Wonach entscheiden Sie, welches Genre Sie bedienen?

 

Zunächst einmal ist es mein Bedürfnis nach Abwechslung. Wobei der Polit- und Spionagethriller wegen seiner vielen gesellschaftlichen Facetten und Möglichkeiten durchaus eine Sonderstellung einnimmt. Aber ich fände es langweilig, immer nur in einem „Stil“ zu malen. Oder mein Leben mit dem immer selben Detektiv zu verbringen. Wie eine meiner Freundinnen sagte, bevor sie mich verließ: „Du bist nur ein Lebensabschnittsgefährte“. Krimi-Schemata nach dem Motto: „Hier liegt die Leiche und nun kommt der Kommissar, Detektiv oder einer seiner anderen modernen Protagonisten, z. B. Gerichtsreporter, und findet den Täter“, scheinen mir meist zu abgegriffen.

 

Was halten Sie von den Genreregeln?

 

In Einsteins Gehirn gibt es ein – oder mehrere? – Verbrechen. Auch drei Leichen … aber womöglich gibt es am Ende gar keinen Mörder? Statt dessen „nur“ Schuldige? Und es gibt Gauner und Betrüger. Aber keinen Ermittler im klassischen Sinne. Albert will zwar die wahren Hintergründe des Gaunerstücks ergründen, dem er sein Leben verdankt. Doch dann passiert ihm die Aufklärung sozusagen wie nebenher auf seinem Roadtrip um die Welt. Nehmen wir nur den Zufall, dass er in einem New Yorker Hotel Zeuge eines Selbstmordversuchs wird, ohne den er später bei seinen Recherchen nicht weitergekommen wäre. Wir haben es also mit einem Krimi anderer Art zu tun. Mal liegt der Fokus auf der Verfolgung der Spuren und Indizien, mal auf anderen Themen. Zum Beispiel auf dem „sexuellen Irrsinn“ des Pubertierenden, der Klimakatastrophe, dem Problem der Willensfreiheit, der Theodizee, auf Schönheit, Glück, Fühlen, Determinismus, Quantenphysik. Oder auf Alberts interessantem Versuch der Moralbegründung. Auf den Ungerechtigkeiten innerhalb demokratischer Gesellschaften und der Möglichkeit neuer Kriege. Und unserer (manchmal) dubiosen Medienkultur mit ihren aufgesetzten Talkshows.

Genau dieses Miteinander von Themen und Kriminalhandlung erscheint mir reizvoller, als der einfache Krimi, weil der oft eingezwängt in einem belletristischen Korsett daherkommt.

 

Wie sind ihre Schreibroutinen?

 

Mit den Jahren hat sich eine Arbeitsweise herausgebildet, die sich vor allem am Vorankommen orientiert: Die „innere Flamme“ muss brennen. Es gibt ein Exposé, einen möglichst weit entwickelten Entwurf, aber kein tägliches Pensum. Überarbeiten? Das Ding ist nie fertig. Rituale? Nein, abgedunkeltes Zimmer, gelegentliche Tasse Tee oder Espresso, sonst nichts.

 

Welche fünf Bücher würden Sie für ein langes Sommerwochenende empfehlen?

 

Außer dem verrückten Albert und „Einsteins Gehirn“? – Ich finde, Albert ist auf so abenteuerliche Weise durchgeknallt und sagt dabei so viel Wichtiges, dass ein langes Wochenende kaum ausreichen würde, um seine Wahrheiten – und Hinterfotzigkeiten – auszuloten …

 

Aber gut, das neue Jahrhundert ist noch jung. Nehmen wir mal ein paar Klassiker des 20. Jahrhunderts:

Der Spion, der aus der Kälte kam“ (John le Carré)

Der Prozess“ (Franz Kafka)

Die Stunde der Komödianten“ (Graham Greene)

Der alte Mann und das Meer“ (Ernest Hemingway)

 

Vielen Dank für die Antworten! Sie dürfen das Verhörzimmer jetzt verlassen.

Peter Schmidt: Einsteins Gehirn

Gmeiner, 2012

320 Seiten

11,90 Euro

Hinweise

Homepage von Peter Schmidt

Lexikon der deutschen Krimi-Autoren über Peter Schmidt

Krimi-Couch über Peter Schmidt

Wikipedia über Peter Schmidt

 


Im Verhörzimmer: Don Winslow über Nikolai Hel und seinen neuen Thriller „Satori“

Juni 13, 2011

Eric van Lustbader hat es getan. Nachdem er bereits ein erfolgreicher Schriftsteller war, wurde er von Robert Ludlums Nachlassverwalter gefragt, ob er einen Jason-Bourne-Roman schreiben wollte. Sein siebter Bourne-Roman ist für nächstes Jahr angekündigt.

John Gardner, damals ebenfalls ein bekannter Autor, wurde von Ian Flemings Erben gefragt, ob er James-Bond-Romane schreiben möchte und er sagte zu. Danach kamen Raymond Benson, Sebastian Faulks und Jeffery Deaver (Ja, genau der Jeffery Deaver).

Jetzt hat auch Don Winslow ein solches Angebot angenommen. In den vergangenen Jahren erschrieb er sich einen glänzenden Ruf als Chronist des Verbrechens in Südkalifornien und, nachdem er in Deutschland einige Jahre nicht verlegt wurde, hat er auch hier eine steigende Zahl treuer Leser. Als er gefragt wurde, ob er einen Roman mit Nikolai Hel als Helden schreiben wollte, konnte er, ein großer Fan von Trevanians Roman „Shibumi“, nicht „Nein“ sagen.

In „Satori“ erzählte Winslow jetzt spannend und sehr kurzweilig die Vorgeschichte zu „Shibumi“ und wir erfahren, wie Nikolai Hel, der mehrere Sprachen spricht, ein ausgezeichneter Kämpfer, Liebhaber und Go-Spieler ist (halt irgendwie ein Ebenbild von Derek Flint), in den frühen fünfziger Jahren seinen ersten Auftrag erledigte.

Die Veröffentlichung des tollen Polit-Thrillers war für die Kriminalakte die Gelegenheit, Don Winslow einige Fragen zu stellen.

Was fasziniert Sie an Nikolai Hel?

Er ist auf vielen Ebenen ein faszinierender Charakter, aber am interessantesten ist für mich die in dem Charakter inne wohnende Kombination (und Konflikt) von westlicher und asiatischer Kultur. Als ein Europäer geboren (sein Vater ist Deutscher, seine Mutter Russin) und aufgezogen in Asien, wird er ständig in beide Richtungen gezogen. Er will wichtige philosophische Ideen von beiden Kulturen bewahren. Zur gleichen Zeit ist er ein Einzelgänger – er ist Teil beider Kulturen, aber er kann nie ganz zu einer gehören.

Wie unterschied sich für Sie das Schreiben über einen bereits bestehenden und bekannten Charakter gegenüber ihren eigenen Charakteren?

Über Nikolai Hel zu schreiben war als ob ich ein Geschenk erhalte – dieser faszinierende Mann mit dem bestehendem interessantem Hintergrund und all seinen Fähigkeiten. Ich las „Shibumi“ als es veröffentlicht wurde. So kannte ich ihn bereits.

Aber hier übernahm ich zum ersten Mal einen Charakter, der von jemand anderem erfunden wurde. Ich fühlte eine große Verantwortung das Original nicht zu verraten, aber gleichzeitig zu versuchen, ein zeitgemäßes Buch zu schreiben.

Die wirkliche Herausforderung war, die Welt durch Nikolais Augen zu sehen – wenn ich das tun konnte, wusste ich, welche Entscheidungen ich zu fällen hatte.

Was waren für Sie die größten Herausforderungen beim Schreiben von „Satori“?

Einige. Die erste war, wie schon gesagt, die Herausforderung einen bestehenden Charaktere aufzunehmen. Dann war da die Aufgabe, den Stil von Trevanian zu respektieren, ohne ihn zu imitieren – also, zu versuchen meine Stimme mit seiner zu vereinigen. Am Ende ging es darum, etwas üppiger und lyrischer zu schreiben als ich es in meinen eigenen Arbeiten tue.

Zum Schluss ging es um die historischen Fragen. „Satori“ spielt 1951/1952 in Japan, China und Vietnam. Also musste ich viel recherchieren und versuchen die Plätze und die Zeit nachzuempfinden.

Zum Glück bin ich ein Geschichts-Geek und ich liebe die Recherche.

Ihre ersten Romane waren die Privatdetektivserie mit Neal Carey. Dann wechselten sie mit „Bobby Z“ zu Einzelwerken (und den beiden Boone-Daniels-Romanen), die im heutigen Südkalifornien spielen. Daher würde ich gerne wissen, was Ihnen an Einzelwerken und Kalifornien so gefällt.

Kalifornien ist für mich unendlich interessant. Es hat eine so große Vielfalt von Landschaften und Kulturen. Es ist so schön und dann ist da die hässliche Schattenseite. Für einen Krimiautor ist das eine Goldmine.

Zu Einzelwerken gegen Serien – ich bin gierig. Ich will beide schreiben. Am Ende ist es eine Frage der Geschichte, die ich erzählen will. Einige Geschichten haben ein festes Ende und es wäre falsch, sie zu einer Serie auszubauen. Andere sind mehr ein Marathon als ein Sprint. Du willst länger laufen; die Strecke langsamer mit diesem Charakter bewältigen.

Wie schreiben Sie ihre Bücher?

Meine Schreibroutinen sind sehr einfach. Je nach Jahreszeit beginne ich zwischen 5.00 und 5.30 Uhr im Morgen, arbeite bis 10.00 Uhr, jogge oder gehe dann 4 bis 6 Meilen – oder mache eine andere sportliche Betätigung. Danach gehe ich bis ungefähr 5.00 Uhr zurück an den Schreibtisch.

Normalerweise mache ich die Recherche für ein Buch, während ich ein anderes schreibe. Aber das ist flexibel und hängt von der Situation ab. Manchmal weißt du nicht, was du nicht weißt, bis du es schreibst. Dann musst du eine Pause machen und die Antwort herausfinden. Zum Beispiel: dein Charakter verlässt sein Hotel und dreht sich nach rechts – Weißt du, was er sieht, riecht, hört? Wenn nicht, musst du es herausfinden, damit du den Leser auf diesen Weg mitnehmen kannst.

Outlines machte ich früher. Heute kaum noch. Denn es kann eine nutzlose Übung sein. Normalerweise sagen oder tun meine Charaktere etwas, das ich nicht geplant hatte und die Geschichte in eine andere – normalerweise bessere Richtung – lenkt. Ich habe eine grobe Idee, in welche Richtung die Geschichte sich bewegt – immer basierend auf den Charakteren – aber ich will überrascht werden.

Ich überarbeite jeden Tag; ich ändere ständig, was ich getan habe. Nachdem ich die Anmerkungen von meinem Herausgeber erhalten habe, schreibe ich vom Anfang bis zum Ende eine neue Fassung.

Als tägliches Schreibziel habe ich keine Seitenzahl oder Anzahl von Worten im Kopf. Mein einziges Ziel ist es, jeden Tag gut zu schreiben. Dieses Ziel erreiche ich nicht immer.

Don Winslow: Satori

(übersetzt von Conny Lösch)

Heyne, 2011

608 Seiten

12,99 Euro

Originalausgabe

Satori

Grand Central Publishing, New York, 2011

Hinweise

Homepage von Don Winslow

Deutsche Homepage von Don Winslow

Meine Besprechung von Don Winslows „Pacific Private“ (The Dawn Patrol, 2008)

Meine Besprechung von Don Winslows „Pacific Paradises“ (The Gentlemen’s Hour, 2009) und „Tage der Toten“ (The Power of the Dog, 2005)

Meine Besprechung von Don Winslows „Bobby Z“ (The Death and Life of Bobby Z, 1997)

Meine Besprechung von Don Winslows „Satori“ (Satori, 2011)

Don Winslow in der Kriminalakte


Was soll der „Heidenlärm“, Herr Hellmann?

Mai 12, 2011

Julian von Thelen ist als Hotelmanager eines Fünf-Sterne-Hotels ein Ass. Für seine Untergebenen ist er ein Aas. Doch dass der vierundreißigjährige Single eines Abends, spärlich bekleidet, an der Türschwelle zu seinem Apartment wie eine gefällte deutsche Eiche umfällt und sich dann stundenlang nicht bewegen kann, gönnt man ihm dann doch nicht. Auch nicht, dass er mit höchst unfeinen Mitteln aus seinem Job gedrängt werden soll.

Von Thelen glaubt, dass der Grund dafür in einem von ihm vor einigen Wochen in einer Nebenstraße beobachtetem Mord liegt. Dummerweise ist er der einzige Zeuge und die Polizei glaubt ihm nicht. Und seitdem er an seiner Türschwelle umfiel benimmt er sich an bestimmten Türschwellen, bei Telefonaten und auf Konferenzen immer seltsamer. Denn der Atheist von Thelen behauptet, die „Stimme Gottes“ zu hören und dass er ihm gehorchen müsse.

Mehr soll hier nicht verraten werden. Denn bei einem glänzend geschriebenem Thriller wie „Heidenlärm“, der sich im besten Sebastian-Fitzek-Tempo liest, steigt der Lesespaß mit dem eigenen Nichtwissen.

Im Verhörzimmer der „Kriminalakte“ beantwortete der „Heidenlärm“-Schreiber Alfred Hellman einige Fragen.

Was war die Ausgangsidee für „Heidenlärm“?

Es gab zwei, beide drehen sich um Betrug und falsche Versprechungen:

1. Medikamentenfälschung – hat mich beschäftigt, weil sie so hinterhältig und verlogen daherkommt, Heilung verspricht, aber Leid bewirkt. Die Umsätze sollen höher sein als beim Rauschgifthandel.

2. Ein Gefühl, das Julian Barnes so beschrieben hat: ‚Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn’.

Warum hast du dich entschieden, die Geschichte aus der Perspektive des doch ziemlich unsympathischen Hotelmanagers Julian von Thelen zu schreiben?

Weil unsympathische Protagonisten spannender sind als nette Leute. Außerdem bleibt Platz für Läuterung.

Warum hast du hast „Heidenlärm“ aus von Thelens Perspektive geschrieben?

Es war für mich die einzige Möglichkeit. Andere Perspektiven habe ich ausprobiert, von Varianten der 3. Person Singular, bis hin zur auktorialen Position, fand aber, dass ich diese Geschichte am besten ‚von innen’ erzählen kann. Vor allem, weil so die Gratwanderung zwischen Glauben und Zweifel leichter darzustellen war.

Wie wichtig war für dich beim Schreiben, dass die Geschichte in Berlin spielt?

Berlin bildet – erst recht für jemanden wie mich, der aus dem angeblich katholischen Rheinland stammt – eine ziemlich heidnische Kulisse. Das erzeugt einen schönen Kontrast. Grundsätzlich könnte die Geschichte aber auch woanders spielen. Gäbe es Gott, wäre er ja überall – und das Verbrechen sowieso.

Wie sähe deine Wunschbesetzung für eine Verfilmung aus?

Der Hotel-Manager Julian van Thelen, Empfänger himmlischer Botschaften und Ermittler wider Willen: Hugh Laurie.

Der Boulevard-Magazin-Regisseur: Jean Reno oder Udo Kier.

Dessen Gehilfe, der Kameramann und Killer: Javier Bardem.

Der geschäftsführende Medikamentenfälscher: Philip Seymour Hoffman

Die oft errötende, aber charakterstarke Linda Kranz: Charlotte Gainsbourg.

Der Priester: Bruno Ganz.

Schwarzheinrich, der Hüter des Kirchenportals: Bill Nighy.

Bernadette aus Treptow, die als Erste die Tränen der Berliner Madonna sah: Cosma Shiva Hagen.

Der Psychiater Professor Conrads: Christoph Waltz.

Welche fünf Bücher würdest du für den Strandkorb empfehlen?

1. Don Winslow, „Tage der Toten“, Suhrkamp – fast so gut wie „Der Pate“.

2. Colin Cotterill, „Dr. Siri und seine Toten“, Goldmann – der einzige Leichenbeschauer von Laos, geschrieben gegen fast alle Krimi-Regeln.

3. Val McDermid, „Vatermord“, Knaur – ein realistischer und spannender Ausflug in menschliche Abgründe.

4. Åke Edwardson, „Toter Mann“, List – der feinste Krimi-Schreiber aus Schweden.

5. Roger Smith, „Kap der Finsternis“, Heyne – Spannung und Tempo aus Südafrika.

Alfred Hellmann: Heidenlärm

Emons, 2011

240 Seiten

9,90 Euro

Hinweise

Meine Besprechung von Alfred Hellmanns „Vor den Hymnen“

Mein Interview mit Alfred Hellmann über „Vor den Hymnen“


Im Verhörzimmer: Friedrich Ani und die Sache mit dem „Süden“

April 12, 2011

Die Rückkehr von Tabor Süden in sein geliebtes München in dem grandiosen Roman „Süden“ verschaffte mir einen guten Vorwand für ein Gespräch mit Krimiautor Friedrich Ani. Das fast „Tatort“-lange Gespräch fand vor einer Woche ohne Zeugen in einem Nebenzimmer des Hotel Savoy in der Nähe des legendären Bahnhof Zoo statt.

 

Süden“

 

Am Ende von „Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel“ quittierte Tabor Süden („Ich arbeite auf der Vermisstenstelle der Kripo und kann meinen eigenen Vater nicht finden.“) seinen Dienst bei der Kripo und, bis auf das kurze Gastspiel „Der verschwundene Gast“ 2008 in der „Kaliber.64“-Reihe (wobei Süden in der Geschichte noch Polizist ist), gab es in den vergangenen Jahren kein Lebenszeichen von ihm. Er war verschwunden. In Köln hieß es. Mit „Süden“ kehrt Tabor Süden jetzt nach sechs Jahren wieder in ein verändertes München zurück. Er hat einen Anruf von seinem Vater erhalten. Und weil der Mensch auch etwas zum Beißen braucht (wobei Tabor Süden sich in „Süden“ vor allem flüssig ernährt), nimmt er einen Job in der Detektei von Edith Liebergesell an. Sein erster Auftrag: er soll einen vermissten Wirt finden.

Für Süden-Erfinder Friedrich Ani war Tabor Süden in den vergangenen Jahren allerdings sehr präsent. Es gab die schon erwähnte „Kaliber.64“-Geschichte. Es gab die beiden im April 2009 ausgestrahlten, hochkarätig besetzte, sehenswerte TV-Filme „Kommissar Süden und das Geheimnis der Königin“ (Regie: Martin Enlen) und „Kommissar Süden und der Luftgitarrist“ (Regie: Dominik Graf), für die Ani die Drehbücher schrieb und auch einen Grimme-Preis erhielt. Ursprünglich war eine Tabor-Süden-TV-Serie mit Ulrich Noethen als Tabor Süden geplant, aber irgendein ZDF-interner Kuddelmuddell (auch Ani weiß immer noch nicht, was genau zur Einstellung nach nur zwei Filmen führte, aber er ist darüber immer noch verärgert) beendete die Serie, bevor sie ihr Publikum finden konnte. Wiederholungen gab es bislang keine und auch auf DVD wurden die beiden „Kommissar Süden“-Filme nicht veröffentlicht. Und dabei waren die Quoten gar nicht so schlecht.

Damals bekam Ani wieder Lust auf Tabor Süden.

Für den dritten, 2009 erschienenen Polonius-Fischer-Roman „Totsein verjährt nicht“ hatte er ursprünglich ein Treffen von Fischer und Süden geplant. Der Verlag war von der Idee nicht begeistert und so musste Fischer das verschwundene Mädchen suchen.

Und dann schrieb Ani den neuen Süden-Roman und gleichzeitig drei halbstündige Hörspiele für den SWR, die im Juni und Juli gesendet werden. In diesen kurzen Vermisstengeschichten ist Tabor Süden ein Privatdetektiv. Das ist nur der Beginn einer Süden-Offensive.

Im November gibt es als Taschenbuch die Weihnachtsgeschichte „Süden und die Schlüsselkinder“. Der Knaur-Verlag plant parallel dazu eine Wiederveröffentlichung der ersten drei Süden-Bücher mit einem neuen Cover. Im Frühjahr 2012 wird es einen zweiten, kürzeren Süden-Roman geben und die zweite, wieder aus drei Süden-Büchern bestehende Lieferung und im Herbst 2012 die letzten vier Süden-Romane des zehnbändigen Zykluses; parallel zur Taschenbuch-Ausgabe von „Süden“. Im Frühjahr 2013 gibt es einen weiteren Süden-Roman als Hardcover, für den es auch schon erste Ideen gebe. Denn Ani will ihn weiter als Detektiv ermitteln lassen und dann auch mehr von der Detektei erzählen.

Dieser Wechsel von der Polizei in eine Detektei war von Ani gewollt. Dennoch stellt sich die Frage, ob Ani mit dem Wechsel seine Charakters von einem an Recht und Gesetz gebundenen Polizisten zu einem Privatdetektiv, der über keine besondere Rechte verfügt, aber auch nicht mehr gezwungen ist, einen Verbrecher zu verhaften, eine Verschiebung in seinem erzählerischem Kosmos plant.

Es war schon eine extrem bewusste Entscheidung, jetzt mal jemand zu haben, der nicht eine Polizeibelobigungsfunktion hat. Ich wollte, dass er seine Arbeit weitermachen kann. Das Suchen von vermissten Personen geht auch in einer Detektei sehr gut. Das ist relativ realistisch und passt auch gut zum Süden. So ein Freelancer, der Geld verdienen muss, und seine Arbeit machen kann. Der Süden ist in dem Sinn ja kein Anarcho. Er ist vielleicht ein bisschen viel im Gasthaus oder er trinkt gelegentlich Bier, aber er ist von seiner Haltung kein anarchistischer Mensch. Er ist ein gewissenhafter Mensch. Er ist gern unter Leuten. Er ist gern dabei. Deshalb braucht er einen Beruf, wo er nicht versandelt. Die Gefahr bei Tabor Süden ist, dass er vereinsamt, wenn er nichts zu tun hat. Das spürt er. Deshalb braucht er einen Job – und den hat er jetzt. Ich bin schon froh, dass ich den Polizeiapparat jetzt nicht mehr beschreiben muss. Das fand ich auch immer ein bisschen einengend.

Manchmal bin ich da etwas mürrisch. Weil ich finde, wir schreiben genug Polizeibelobigungskrimis und irgendwann ist auch mal gut“, sagt Ani.

Von Anfang an war „Süden“ als längeres Werk geplant. Die Romane „Die Erfindung des Abschieds“, „German Angst“ und „Verzeihen“ mit Tabor Süden waren zwar auch länger, aber am bekanntesten ist die aus zehn Bänden bestehende, zwischen 2001 und 2005 erschienene Süden-Serie, deren Titel mit „Süden und…“ beginnen. Diese Bücher hatten immer zweihundert Seiten. „Süden“ ist ungefähr doppelt so lang. Dafür erzählt Ani auch drei Geschichten: die lange Geschichte vom verschwundenen Wirt, die private Geschichte von Südens Suche nach seinem Vater und eine kurze Geschichte von einer verschwundenen Mutter. Diese Struktur habe er von den TV-Filmen übernommen. Trotzdem sieht er seinen Stil als konträr zur TV-Dramaturgie an.

Der Roman ist meine Art zu schreiben“, betont er. Dort könne er auch Nebenfiguren ihren Raum geben und er müsse sich nicht an feste Vorgaben, wozu inzwischen die streng festgelegte Länge eines TV-Films und, bei einer Reihe wie „Tatort“, die Wünsche der Stammschauspieler gehören, halten.

Denn er nimmt sich lieber Zeit und, auch wenn am Ende von „Süden“ eine Thriller-Spannung aufkommt, ist es in einem gewissen Rahmen egal, ob Süden den Wirt tot oder lebendig findet.

(Kurzer Einschub: ich würde jetzt gerne unsere Diskussion über das Ende einfügen, aber das wäre ein Mega-Spoiler. Deshalb lasse ich es heute bleiben, aber ich will einige Ausschnitte aus dem Interview transkribieren. Dann erfahrt ihr auch Friedrich Anis Meinung zu dem Ende von „Süden“, warum der „Süden“ die viereinhalbte Fassung ist und ihr könnt einiges über die von uns während des Interviews beschrittenen Irrwege lesen. Doch jetzt weiter im Text.)

Das liegt auch daran, dass in „Süden“ die einzelnen Geschichten sich zu einem kunstvollem Ganzen fügen, das von Tabor Süden der wieder einmal im Milieu der kleinen Leute und Wirte ermittelt, zusammengehalten.

Mei, ich find halt; – ich hab halt immer gedacht, man sollte über das schreiben, was man kennt, was man liebt, was einen aufregt, was einem nahe ist. Ich glaub schon, dass ich mich auch in andere Milieus hineindenken könnte oder kann. Aber die kleinen Leute, die Unscheinbaren, sind mir halt die liebsten und einer muss es machen. Es ist halt meine Welt. Das bin halt ich. Und – und ich find, das gibt immer noch einen Menge her. Das erschöpft sich nicht. Der Simenon hat auch hunderte von Büchern über sehr unscheinbare Leute geschrieben. Das geht. Man muss halt nur die Augen aufhalten. Ich versuch das auch oft im Drehbuch. Dass ich Leute habe, die auch ganz normale Berufe haben. Und die Redakteure sind dann immer wieder ganz erstaunt, dass das auch mal wieder vorkommt.

Es gibt auch Leute, die das gar nicht mögen. Die sagen dann, das ist so sozialkritisch.

Aber Sozialkritik interessiert mich nicht. Ist eigentlich auch Quatsch.“

Für mich ist das Buch zeitlos. Es gibt keine plakative Hartz-IV-Kritik und Handys und Computer kommen eigentlich nicht vor“, werfe ich ein. So besitzt Tabor Süden erst am Ende des Romans ein Handy.

Ja, vieles ist vielleicht doch spürbar, wenn man es will.

Aber mir gefällt das eigentlich. Ich mag das, dass die alle etwas wie aus der Zeit gefallen sind. Das war auch in den zwei Verfilmungen so. Vor allem im „Luftgitarristen“ vom Dominik Graf. Dass man das Gefühl hat, die sind alle etwas neben der Gegenwart. Das ist mir da so bewusst geworden.

Das ist eine schöne Vorstellung. – Dabei bleib ich.“

Und diese Vorstellung hat Friedrich Ani in „Süden“ kongenial umgesetzt. Denn in „Süden“ ist Tabor Süden ganz bei sich – und Friedrich Ani ist auch ganz bei sich. Ein feines Buch.

Friedrich Ani: Süden

Droemer, 2011

368 Seiten

19,99 Euro

Lesungen

Dienstag, 12. April 2011, 19 Uhr

Café Weiß, Geißstraße 16, Stuttgart (Krimi & Hörbuch Undercover)

Mittwoch, 13. April 2011, 20 Uhr

Der Monarch, Skalitzer Straße 134, Berlin (Krimibuchhandlung Hammett)

Donnerstag, 14. April 2011, 20 Uhr

Goldener Löwe, Kellergewölbe, Am Markt 6, Olpe (Buchhandlung Dreimann)

Freitag, 15. April 2011, 20 Uhr

Die Fabrik, Mittlerer Hasenpfad 5, Frankfurt (Buchhandlung Schutt)

Hinweise

Homepage von Friedrich Ani

Meine Besprechung von Friedrich Anis „Wer lebt, stirbt“ (2007)

Meine Besprechung von Friedrich Anis „Der verschwundene Gast“ (2008)

Meine Besprechung von Friedrich Anis “Totsein verjährt nicht” (2009)

Meine Besprechung von Friedrich Anis “Die Tat” (2010)

Planet-Interview: Interview mit Friedrich Ani (18. Dezember 2008)


Im Verhörzimmer: Jim Nisbet will raus

Juni 9, 2010

Ich habe gegenüber ein nettes Café gesehen. Vor der Tür können wir dann das Interview machen“, schlägt Jim Nisbet in der pompösen Lobby des Westin Grand Hotel in Berlin-Mitte vor. Er besucht derzeit Italien und sein deutscher Verleger Frank Nowatzki lud ihn für eine Lesung nach Berlin ein.

In San Francisco ist es bestimmt wärmer“, wende ich, inzwischen wieder halbwegs an das heute wieder unfreundlich windige Hauptstadtwetter gewöhnt, ein.

Nein, das hier ist das typische Wetter in San Francisco.“ Wegen des Pazifiks sei dort die Temperatur immer ungefähr gleich und sie hätten im Sommer oft wochenlang keinen blauen Himmel. Das typische San-Francisco-Wetter sehe man, so Nisbet, in einer nebligen Szene des Noir „Out of the past“ oder in Hitchcocks „Vertigo“.

Am nahe gelegenen Gendarmenmarkt finden wir einen ruhigen Platz und können uns, nur vom periodisch ertönenden Pressluftbohrern unterbrochen, unterhalten.

Jim Nisbet veröffentlichte zuletzt „Windward Passage“, ein umfangreiches Werk, das auf dem San Francisco Book Fest den Preis als beste Science-Fiction-Buch erhielt.

Für Nisbet ist es kein Science-Fiction, sondern Political Fiction und natürlich auch ein Noir, wobei Nisbet zugibt, dass Noir schwer zu definieren sei. Jim Thompson, David Goodis und William Faulkner waren die ersten Noir-Autoren, die er las.

Bei Faulkner findet er auch schon die Möglichkeit des Mitleids, die ihm auch in seinen Werken wichtig ist. Bei vielen Noirs stört ihn nämlich dieses Fehlen von Menschlichkeit, das zum Leben dazu gehöre und er auch immer wieder erlebt habe. Als er 1967 mit einem Motorrad und ohne Geld durch Deutschland fuhr, war er immer wieder von Deutschen in ihre Häuser eingeladen worden und man habe sich dann irgendwie verständigt. Denn: „Ich konnte kein Deutsch und sie kaum Englisch.“

Außerdem stört ihm beim Standard-Noir, dass dieser keine Entwicklung erlaube. Er versuche dagegen immer ein größeres Bild von den Menschen und der Gesellschaft zu zeichnen. Denn auch die Gesellschaft entwickele sich. Der 1947 geborene Jim Nisbet selbst wuchs in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Süden auf und er war mit den direkten Nachfahren von Sklaven befreundet. Seine Großmutter sah im Fernsehen die Mondladung und jetzt ist Barack Obama Präsident. „Es ist unglaublich, dass ein Schwarzer Präsident ist“, stellt er fest. Noch vor vierzig Jahren war das undenkbar.

Gleichzeitig hat ein Noir auch immer eine dezidierte Haltung zur Gesellschaft. „Ein Kennzeichen eines Noir ist der Ärger, die Ungeduld und die Frustration über die Gesellschaft. Das ist schwer vorzutäuschen“, meint Nisbet. Bei einer Detektivgeschichte könne dagegen mehr geschwindelt werden. Denn dort geht es nur um das Rätsel und die verschiedenen Spuren zur Lösung. Die Autoren seien vielleicht kommerziell erfolgreich, aber nach ihrem Tod verschwänden sie aus den Buchläden.

Nisbets Karriere begann vielversprechend. Seine ersten Noirs veröffentlichte er in der renommierten Black-Lizard-Reihe, die inzwischen zu Random House gehört. Damals, in den den Achtzigern war Barry Gifford (der auch „Wild at Heart“ schrieb) der Herausgeber. Gifford leitete auch die Wiederentdeckung des inzwischen kultisch verehrten Jim Thompson ein. Als Thompson 1977 starb, war keines seiner Bücher mehr erhältlich.

Seitdem waren immer wieder Verlagsleute an Nisbet herangetreten und hatten ihm versprochen, ihn zu einem Bestseller-Autor zu machen. Nisbet hörte sich diese Versprechen immer wieder kopfschüttelnd an. Denn: „Meine Bücher sind nicht für alle. Sie werden keine Bestseller, weil sie der Welt einen Spiegel vorhalten. Das wollen die meisten nicht hören. Sie wollen normal weiterleben und müssen Geld verdienen.“

Nisbet konnte sich, auch weil er es nicht wollte, nie nur vom Schreiben ernähren. Er schrieb einfach immer das, was er wollte und, manchmal mit längeren Unterbrechungen, veröffentlichte er zwischen 1981 und heute elf Romane, die von der Kritik gelobt wurden und Preise erhielten. Zu seinen Fans gehören heute auch Größen wie James Ellroy und Michael Connelly. Aber: „Es ist seltsam. Je mehr ich eines meiner Bücher mag, desto weniger mögen es die anderen.“

Seine letzten Romane veröffentlichte Jim Nisbet in dem kleinen, aber feinen Verlag von Dennis McMillan. McMillans Bücher sind bei Sammlern begehrt und er kann, wenn er seine Bücher ausliefert, von den Buchhändlern verlangen, dass sie ihm eine bestimmte Menge ohne die Möglichkeit einer Rückgabe abnehmen. „Das habe ich bei keinem anderen Verleger gesehen“, erzählt Nisbet. „Außerdem hat Dennis überall Freunde. Als ich mit ihm durch die USA fuhr, konnten wir morgens um fünf Uhr an eine Tür klopfen, die Bewohner freuten sich, dass Dennis da war und wir erhielten ein feines Frühstück.“

Als dann der größere Verlag Overlook Press ihn nach seinem Backkatalog fragte, sagte er nicht nein. Vor wenigen Monaten brachte Overlook seinen neuesten Roman „Windward Passage“ und seinen bereits vor über zwanzig Jahren erstmals erschienenen zweiten Roman „Lethal Injection“ (Tödliche Injektion) heraus.

Ich bin erstaunt, dass Menschen das Buch heute noch lesen wollen“, meint er. Doch das ist vielleicht nicht so erstaunlich. Denn obwohl „Tödliche Injektion“ in den frühen Achtzigern spielt, ist es nicht veraltet. Es geht um zeitlose Themen. Sein Held ist ein alkoholsüchtiger Arzt, der sein Leben hasst und in einer kaputten Ehe feststeckt (Geht es uns nicht allen so?) und der jetzt die Chance auf eine Flucht aus diesem Leben ergreift (Wollen wir das nicht alle?). Es ist eine Anklage gegen die Todesstrafe, die heute in den USA wesentlich umstrittener ist als damals – und es geht um eine Gesellschaft, die zunehmend auseinanderfällt und auch der Mittelstand um sein Überleben kämpfen muss. Diese Verlustängste sind inzwischen, wie der sonntägliche „Tatort“ wöchentlich zeigt, auch bei den Betroffenen angekommen.

In seinem 2006 erschienen Noir „Dunkler Gefährte“ ist sein Held wieder ein Mann aus dem Mittelstand, der nichts falsch machte und trotzdem alles verliert. Das beginnt schon mit dem Verlust seines Jobs, aus dem er wegrationalisiert wird, weil die Qualitätskontrolle ein überflüssiger Kostenfaktor ist.

Das Buch schrieb sich wie von selbst. Ich hatte da nur den Anfang, in dem Banerjhee Rolf die Blumen wässert und sich mit seinem zwielichtigen Nachbarn Toby Pride unterhält. Der Rest ergab sich einfach.“

Nisbet plant den Plot normalerweise nicht vor. Am Anfang hat er eine Idee, einen Dialog, eine Szene oder einen Charakter, der ihn genug fasziniert, um mit dem Schreiben zu beginnen.

Denn wenn ich nicht selbst fasziniert bin von der Geschichte, wie soll es jemand anderes sein?“

Der Plot ergebe sich dann, wie das Leben, bei dem auch nicht alles vorhersehbar sei, beim Schreiben.

Wenn Nisbet mit dem Schreiben einer Geschichte beginnt, geht er es wie einen Job an. Er beginnt um neun Uhr morgens und schreibt bis er sein Tagesziel erreicht hat. „Normalerweise zehn Seiten. Das Problem ist, die richtigen zehn Seiten zu schreiben.“

Die Länge ergebe sich anhand der Geschichte. Deshalb hat „Dunkler Gefährte“ 150 und „Windward Passage“ 450 Seiten.

Bislang hat Nisbet nur Einzelwerke geschrieben. Das mache das Verkaufen schwieriger, aber für ihn sei wichtig, das sein neues Buch nicht wie das vorherige sei.

Bei „Death Puppet“, seinem letzten Black-Lizard-Roman, änderte er sogar in letzter Minute das Ende. Es gab damals einen Eigentümerwechsel und der Managing Editor rief ihn an: „Ich kann das Buch herausbringen, wenn du es heute korrekturliest.“ Nisbet ließ alles stehen und liegen und fuhr zum Verlag nach Berkeley, las das bereits fertig gesetzte Manuskript durch und schrieb das Ende neu.

Nisbet schrieb in den vergangenen Jahrzehnten neben den Romanen auch Gedichte und Theaterstücke. „Für mich ist das alles Literatur. Es sind verschiedene Methoden, wie bei einem Roman, wenn ich von der ersten in die dritte Person wechsele.“

Die Theaterstücke waren Einakter und der Einakter „Notes from the Earth“ ist ein immer wieder aufgeführter Monolog über den letzten Mann auf der Welt, der zu dem Geist seiner verstorbenen Freundin spricht. Nisbet inszenierte die Premiere und ein Schauspieler, der das Stück damals sah, präsentiert es noch heute, wenn er weiß, dass er nicht genommen wird, bei Vorsprechterminen. Er würde dann den Monolog so lange vortragen, bis die Regisseure sagten, es sei genug. Nisbet meint lachend: „Für mich hört sich das wie meine gesamte Karriere an.“

Als ich so langsam richtig durchgefroren bin, entdeckt uns sein deutscher Verleger Frank Nowatzki. Er will demnächst bei Pulp Master Nisbets Deutschlanddebüt „Tödliche Injektion“ wiederveröffentlichen und danach weitere Nisbet-Bücher veröffentlichen.

Für Jim Nisbet ist „Pulp Master“-Macher Frank Nowatzki ein Geistesverwandter von Dennis McMillan: „Es sind diese kleinen Verleger, die das Geschäft am Laufen erhalten.“

Die bekannten Delikte von Jim Nisbet

The Gourmet, The Damned don’t die (1981)

Tödliche Injektion (Lethal Injection, 1987)

Death Puppet (1989)

Across the Tasman Sea (1997)

Prelude to a Scream (1997)

You Stiffed Me (1998)

The Price of the Ticket (2003)

The Syracuse Codex (2005)

Dunkler Gefährte (Dark Companion, 2006)

The Octopus On My Head (2007)

Windward Passage (2010)

A Moment of Doubt (2010, angekündigt)

Hinweise

Homepage von Jim Nisbet

Jim Nisbet in der Kriminalakte

Die Fotos von Jim Nisbet sind von Frank Nowatzki (Pulp Master). Auf dem dritten Fotos sind, von links nach rechts, Frank Nowatzki, Jim Nisbet und ich am Ende eines langen Tages.


Im Verhörzimmer: D. B. Blettenberg über „Murnaus Vermächtnis“

Mai 19, 2010

Unter den Krimiautoren ist der deutsche D. B. Blettenberg der Globetrotter. Seine inzwischen elf Romane spielen in Afrika, Asien, Südamerika, Florida und Berlin. Für jeden Roman war er, oft als Entwicklungshelfer, länger in den Ländern. Auch in Ghana, dem Schauplatz seines neuesten und umfangreichsten Romans „Murnaus Vermächtnis“, arbeitete er.

Der Krimi (ein verniedlichendes Wort, das Blettenberg nicht mag; er fragt sich auch, ob „Murnaus Vermächtnis“ überhaupt ein Kriminalroman ist) ist, wie Blettenbergs andere Werke, ein kurzweiliges und sehr informatives Vergnügen. Denn er möchte nicht nur unterhalten, sondern auch Wissen vermitteln, ohne dabei eine bestimmte Weltsicht zu predigen. Als 1981 sein erster Roman „Weint nicht um mich in Quito“ erschien, wurde das mit dem gut dotierten Edgar-Wallace-Preis ausgezeichnete Werk von einigen Kritikern als das Ende des Soziokrimis gefeiert. Denn bereits in seinem Debütroman orientierte er sich vor allem an den Größen der angloamerikanischen Polit-Thriller-Riege, wie Eric Ambler und Ross Thomas.

Dieser Einfluss ist auch in seinem neuesten Werk „Murnaus Vermächtnis“ spürbar. Der Erzähler Victor Voss ist als Vierzigjähriger in Ghana gestrandet. Er war bei der Fremdenlegion, schreibt jetzt ein Buch und spielt Fremdenführer. Jetzt bittet Albin Grau ihn, ihn in die Voltaregion zu fahren. Schon auf der Hinfahrt kommt es zu einer Konfrontation mit dem cholerischen William und Grau wird ermordet. Zurück in Accra wird seine mütterliche Freundin Vera, die an einem Buch über Friedrich Wilhelm Murnau arbeitete, ermordet und alles hängt mit dem am 11. März 1931 bei einem Autounfall tödlich verunglückten Regisseur zusammen. Denn unter Filmfanatikern werden für Kopien seiner verschollenen Filme hohe Preise gezahlt. Anscheinend ist einer dieser verschollenen Filme in der Voltaregion.

Voss ist auf den ersten Buchseiten, wie der klassische Ambler-Held, der Spielball in einem Spiel, in das er gegen seinen Willen hineingestoßen wird, das er nicht überblickt und bei dem er froh sein kann, wenn er überlebt. Später wird deutlich, dass Voss viel stärker involviert ist, als er zunächst glaubte und dass er gerade wegen seiner Vergangenheit (Nein, nicht die Zeit bei der Fremdenlegion.) von Albin Grau als Führer engagiert wurde.

Die Ursprünge von „Murnaus Vermächtnis“

Die erste Idee für den Roman hatte Blettenberg, wie er mir Anfang Mai in einem ausführlichen Interview erzählte, allerdings nicht vor sechs Jahren in Ghana, sondern bereits in den frühen Neunzigern in Managua, der Hauptstadt von Nicaragua. Dort las er in der Wochenendbeilage der Berliner Morgenpost, anlässlich einer Arte-Dokumentation, einen Artikel über Friedrich Wilhelm Murnau und seinen letzten Film „Tabu“, den dieser mit Ureinwohnern auf einer Südseeinsel drehte. Das Murnau-Porträt mit dem an einer Schreibmaschine sitzenden Regisseur erinnerte ihn an den mit ihm befreundeten Regisseur Peter Keglevic („Der Bulle und das Mädchen“). Blettenberg arbeitete an den Drehbüchern für die Keglevic-Filme „Vickys Alptraum“ und „Falling Rocks“ mit.

Zufällig sah er kurz darauf in einem regionalen Sender, der sonst nur ein uninteressantes Programm brachte, Keglevics Spielfilm „Der Skipper“ (der für diese Ausstrahlung kein Geld erhielt. Murnau war in Mexiko mit einer illegalen Vorführung eines seiner Filme konfrontiert.). Bei einem Telefongespräch unterhielt er sich mit Keglevic darüber.

Zurück in Deutschland sah er dann die Dokumentation, recherchierte über Murnau und überlegte, ob er, wie Jörg Fauser es mit Marlon Brando getan hatte, über den Stummfilmregisseur eine subjektive Biographie schreiben sollte.

Aus der Idee wurde nichts und der Murnau-Artikel wanderte in Blettenbergs Archivbox.

2003/2004 arbeitete Blettenberg als Landesdirektor für den Deutschen Entwicklungsdienst in Ghana. Im Gegensatz zu seinen früheren Auslandsaufenthalten wollte er zuerst kein in Ghana spielendes Buch schreiben.

Er traf King Ampaw. Ampaw ist in Ghana ein bekannter Regisseur. Zuletzt inszenierte er den auch in deutschen Kinos gelaufenen Spielfilm „No Time to die“. Außerdem hatte Ampaw in Werner Herzogs Bruce-Chatwin-Verfilmung „Cobra Verde“, neben Klaus Kinski, eine Hauptrolle.

Bereits acht Jahre vor „Cobra Verde“ drehte Werner Herzog mit Klaus Kinski „Nosferatu – Phantom der Nacht“, ein fast bildgenaues Remake von Murnaus stilbildendem Horrorfilm „Nosferatu, eine Symphonie des Grauens“, der auf Bram Stokers „Dracula“ basiert.

Die Voltaregion, das ehemalige Deutsch-Togo, in der auch wichtige Teile des Romans „Murnaus Vermächtnis“ spielen, faszinierte Bletteberg in Ghana am meisten. Einerseits wegen der Landschaft, andererseits weil dort noch Juju (eine Form des Voodoo) praktiziert wird.

Er las viel über die Kolonialgeschichte. So erfuhr er von der Segelschule als Teil der deutschen Entwicklungshilfe. Er informierte sich über die Geschichte von Ghana und über Jerry John Rawlings, der von 1981 bis 2001 der Präsident von Ghana war und der „Che Guevara von Westafrika“ (Blettenberg) ist. Er durchstöberte die Antiquariate nach Büchern und Freunde empfahlen ihm Bücher über Rawlings und die Militärdiktatur, die es nur in Ghana gibt und auch dort teilweise nicht mehr erhältlich sind.

Es kam über die Jahre also einiges zusammen und irgendwann packte Blettenberg der Ehrgeiz, eine Geschichte zu erzählen, die die auf den ersten Blick nicht zusammenpassenden Elemente Ghana und Murnau miteinander verbindet. Das gelang ihm mit dem Thema Tabus und Tabubrüche.

Gleichzeitig wollte er sich verschiedener Genres bedienen und ein Schauerelement sollte enthalten sein. Er selbst nennt den Roman auch Tropical Noir oder Tropical Gothic. Die meisten seiner Romane würde er Abenteuer-Politthriller nennen. „Barbachs Bilder“ als sein Non-Maigret sei die große Ausnahme.

Das Schreiben von „Murnaus Vermächtnis“

Bevor er mit dem Roman bekann, schrieb er eine 120-seitigen Murnau-Biographie. „Bis jetzt gibt es – außer einem schmalen Buch von Lotte Eisner aus dem Jahr 1967 – keine Murnau-Biographie.“

Die Passagen über Friedrich Wilhelm Murnau in „Murnaus Vermächtnis“ sind, weil sie auf Tatsachen basieren, in der dritten Person geschrieben. Blettenberg übernahm große Teile seiner Murnau-Biographie in den Roman.

Die Geschichte von Victor Voss ist dagegen in der ersten Person Singular geschrieben. Für die Ich-Perspektive habe gesprochen, dass Voss immer am Ort des Geschehens ist (Ein Problem beim Konstruieren vieler Geschichten ist, dass der Autor dafür sorgen muss, dass der Ich-Erzähler entweder selbst am Ort des Geschehens ist oder ihm jemand anderes die wichtigen Informationen erzählt, ohne dass die Geschichte langweilig wird. Das ist gar nicht so einfach.) und es um Tabuverletzungen geht. Es geht um moralische Grauzonen und das Verdrängen von unangenehmen Erinnerungen.

Das kann nur in der ersten Person erzählt werden. Sonst wirkt es schnell künstlich“, so Blettenberg. Denn sein Erzähler muss sich seiner Vergangenheit stellen. So wird Voss, nachdem er auf den ersten Seiten noch der normale, austauschbare Ich-Erzähler, der, ähnlich einem Detektiv oder Reporter, vor allem durch die Geschichte führen soll, immer mehr zu einem komplexen Charakter, der sich auch mit den Tabus, gegen die er in der Vergangenheit verstieß, und den moralischen Grauzonen, in die er sich so begab, stellen muss.

Eine Folge dieser Entscheidung war, so Blettenberg, dass das Buch, auch wegen der komplexen Geschichte, mindestens zweihundert Seiten dicker werde und er über vierhundert Seiten schreiben werde. Das wusste er von Anfang an. Die erste Fassung hatte dann neunhundert Seiten.

Beim Schreiben versucht Blettenberg einen Kompromiss zwischen Planung und Improvisation zu finden.

Vor dem Schreiben entwirft er einen Plot. Aber es ist nicht alles geplant und er lässt die Charaktere auch ihre eigenen Entscheidungen treffen. Außerdem beschäftigt er sich mit einigen Fragen erst, wenn sie entschieden werden müssen. So informierte er sich erst relativ spät über die Archivierung von Filmen und er war erstaunt, wieviel Platz ein Spielfilm benötigt.

Auch werden einige Charaktere im Lauf des Schreibens zunehmend wichtiger. So war der schweizer Saft- und Marmeladenfabrikant zunächst nur ein Charakter, der in der Abafun Lodge für einen glaubwürdigen Hintergrund sorgte. „Später ist mir aufgefallen, dass er die Lösung für ein Problem, das ich hatte, war“, erzählt Blettenberg.

Ich habe eine gewisse Sicherheit, dass ich gut rauskomme“, fährt er fort. Dennoch kann es sein, dass er, wenn er gute Ideen hat, die zweite Hälfte komplett neu aufbaut.

Während des Schreibens verwirft er selbstverständlich einige Ideen, wie einen Tauchgang von Voss. Andere Szenen streicht er, nachdem er das Manuskript abgeschlossen hat. So hatte er in einer früheren Fassung die komplette 30-seitige Synopse von Murnaus verschollenem „Four Devils“ aufgenommen.

Einige seiner Testleser hielten diese Passage für zu lang. „Andere sagten, ich solle keine Zeile des 900-seitigen Manuskripts streichen.“ Aber weil er einen Roman und keine filmhistorische Abhandlung schreiben wollte, kürzte er die Inhaltsangabe von „Four Devils“ auf wenige Zeilen ein. Auch einige Passagen aus Murnaus Leben und seinem Umfeld, die in seiner Murnau-Biographie standen, sind – falls er sie überhaupt in eine frühere Fassung aufgenommen hatte – vor dem Druck von ihm gestrichen worden.

Am Ende erstellte er, wegen der Länge von „Murnaus Vermächtnis“, den Prolog, den er „Aufblende“ nannte. „Es ist ein Versprechen und Einstimmung auf die Geschichte.“

Die Einteilung in vier Akte, eine Auf- und Abblende machte er nach dem Schreiben. Sie weist noch einmal darauf hin, dass es in dem Buch um Filme, vor allem Stummfilme, die noch in Akte (vulgo Filmspulen), unterteilt waren, geht.

D. B. Blettenbergs Lektüre

Mit meiner traditionellen Abschlussfrage nach fünf Büchern für den nächsten Urlaub stellte ich D. B. Blettenberg dann vor ungeahnte Probleme. In den vergangenen Monaten hatte er vor allem Sachbücher für seinen nächsten Roman gelesen und er wollte mir unbedingt Bücher empfehlen, die ich noch nicht gelesen hatte. Nach längerem Überlegen nannte er:

– Hugh R. Trevor-Roper: Der Eremit von Peking

– Albert Sánchez Pinol: Pandora im Kongo

– Ulf Miehe: Puma

– Hans Herbst: Mendoza

– Charles McCarry: Christophers‘ Ghost

Als wir dann zur Bücherwand gingen, zeigte er mir die Bücher seiner Lieblingsautoren, die ihn teilweise um die halbe Welt begleiteten. Elmore Leonard, Eric Ambler, Carl Hiaasen („Ich kann von ihm allerdings nur ein halbes Buch lesen. Dann wird es mir zu viel.“), James W. Hall, Brian Freemantle, Ted Allbeury, Len Deighton, Charles McCarry, Alan Furst, James Lee Burke, James Ellroy (mit einer persönlichen Widmung), Ed McBain („Ein Meister des Dialogs.“), Natsuo Kirino, Dennis Lehane, Michael Connelly, Tony Hillerman, Maj Sjöwall/Per Wahlöö, etwas Mickey Spillane, zwei Keller-Romane von Lawrence Block („Mehr kenne ich noch nicht von ihm.“), und die Geschenkausgabe von Elmore Leonards „Ten Rules of Writing“.

D. B. Blettenberg: Murnaus Vermächtnis

Dumont, 2010

576 Seiten

19,95 Euro

Hinweise

Homepage von D. B. Blettenberg

Meine Besprechung von D. B. Blettenbergs „Land der guten Hoffnung“

Meine Besprechung von D. B. Blettenbergs „Murnaus Vermächtnis“

Wikipedia über D. B. Blettenberg

Lexikon der deutschen Krimiautoren über D. B. Blettenberg

Krimi-Couch über D. B. Blettenberg


Ein Gespräch mit „Submarino“-Autor Jonas T. Bengtsson

Februar 24, 2010

Noch bevor ich meine erste Frage stellen kann, erzählt Jonas T. Bengtsson mir in der Lobby des Grand Hotel Esplanade von der vor wenigen Stunden erfolgten Premiere von „Submarino“ auf der Berlinale im Wettbewerb.

Der Roman „Submarino“

In dem Noir „Submarino“ erzählt Bengtsson von zwei jungen Männern, die nach ihrer Adoption zu Brüdern erklärt wurden. Ihre Jugend verbrachten sie in Pflegeheimen und -familien. Jetzt ist der eine ein Junkie, der versucht seinem Sohn ein normales Leben zu geben. Dafür wird er zum Drogenhändler. Der andere verbringt seine Zeit, nach einer Haftstrafe, in einem Fitness-Studio, übernimmt Prügeljobs und begeht kleinere Verbrechen. Eines Tages fällt ihm ein Obdachloser auf, den er von früher als den Bruder seiner großen Liebe kennt. Er will ihm helfen.

Als Bengtsson mit dem Schreiben von „Submarino“ begann, wusste er nicht, wie die Geschichte endet. Er begann mit einigen Charakteren und Themen.

Doch schon schnell entwarf er die Struktur des Romans und damit auch das Ende. In der ersten Hälfte „Ivan“ steht Nick und sein Versuch dem Obdachlosen Ivan zu helfen, im Mittelpunkt. In der zweiten, längeren Hälfte, „Martin“, erzählt er die Geschichte von Nicks Bruder und seinem Sohn Martin.

Ich wollte zwei nur lose miteinander verknüpfte Geschichten erzählen. Sie sollten sich aber beeinflussen“, erklärt Bengtsson. „Sie sind verbunden durch das schlimme Ereignis in ihrer Kindheit und die Themen Vaterschaft und Liebe. Ich erzähle eine griechische Trägodie im heutigen Kopenhagen.“

Für beide Brüder ist die Vergangenheit sehr lebendig und sie unterbricht immer wieder den Fluss der Erzählung, ohne dass „Submarino“ zu einem sich aus bedeutungslosen Splittern zusammensetzendem Werk wird. In ihrem Leben gibt es zwischen der Gegenwart und den Traumata der Vergangenheit keinen Bruch. Das liegt weniger daran, dass für sie die Vergangenheit noch lebendig ist, sondern mehr daran, dass sie kein Ziel habe. Ihr Leben ist statisch.

Sie haben vielleicht, wie Nick, viele Bekannte, aber keine Freunde. Bengtsson erzählt von Menschen, denen wir täglich in der Großstadt auf der Straße oder in der U-Bahn begegnen, die aber nicht am normalen gesellschaftlichen Leben teilnehmen wollen: „Es sind Menschen, die am Rand unseres Bewusstseins leben.“

Insofern könne „Submarino“, so Bengtsson, auch in einer anderen nordeuropäischen Großstadt spielen. Aber in Marokko würde die Geschichte der beiden Brüder nicht funktionieren, weil sie dann mit vollkommen anderen Problemen zu kämpfen hätten. Dort müssten sie um ihr überleben kämpfen, aber in Kopenhagen (wo „Submarino“ spielt) gäbe es ein soziales Netz mit Übergangswohnheimen und Familienbetreuern. Die beiden Brüder haben ihr Leben als Verbrecher und Süchtige selbst gewählt. Aber sie versuchen, aus dem Leben auszubrechen. Denn, so Bengtsson: „Niemand ist eine Insel.“

Allerdings haben sie in ihrer hoffnungslos verkorksten Erziehung kein Instrumentarium zum Bewältigen von Problemen erlernt. Daher enden all ihre Bemühungen unglücklich.

Sie versuchen das Beste zu tun. Aber es führt sie, auf verschiedenen Wegen, ins Gefängnis. Dabei haben sie durchaus edle Motive. Der eine will einem Freund helfen, der als Penner auf der Straße lebt. Der andere will seinem Sohn ein besseres Leben ermöglichen. Dafür wird der Junkie zum Drogenhändler.

In „Submarino“ zeichnet Bengtsson einen Zirkel von Gewalt und Hoffnungslosigkeit, der durch den Titel und die Erklärung des Titels noch verstärkt wird. „Submarino“ (U-Boot) ist eine in Chile während der Pinochet-Diktatur angewandte Foltermethode, bei der der Kopf einer Person bis zur Erstickungsgrenze unter Wasser gedrückt wird. In den vergangenen Jahren erlangte das sehr ähnliche „Waterboarding“ wieder traurige Berühmtheit.

Weil die Geschichten der Brüder schlecht ausgehen, zeigt Bengtsson in „Submarino“ einen fast schon deterministischen, sich von Generation zu Generation fortpflanzenden Zyklus von Gewalt und Hoffnungslosigkeit. Diese fatalistische Lesart gefällt Bengtsson nicht.

Denn, so Bengtsson: „Ich wollte nicht generalisieren. Der Roman ist keine Aussage über die Welt. Ich war an den beiden Brüdern und ihrem individuellem Kampf interessiert. Denn in ‚Submarino‘ gibt niemand auf.“

Sie sind am Anfang isoliert und versuchen wieder ein Teil der Gesellschaft zu werden. So will Nick das Richtige tun, aber das Ergebnis ist fatal und sogar die von ihm gewünschte Buße wird ihm vom Staat verwehrt.

Ich wollte, dass es etwas anonym und zeitlos ist“ erklärt Bengtsson die auf den ersten Blick vorhandene Austauschbarkeit der Orte. Denn Straßen, Fitnessstudios und MacDonalds gibt es in jeder größeren Stadt. „Dennoch sind die Orte für mich und meine Freunde gut erkennbar.“

Das Schreiben als alleinerziehender Vater

Am liebsten würde er nachts schreiben. Aber mit einem vierjährigem Sohn gehe das nicht, erklärt der alleinerziehende Vater. Nachdem er seinen Sohn ins Bett gebracht habe, müsse erst einmal ein, zwei Stunden ausspannen und wenn er danach mit dem Schreiben begönne, wäre er am nächsten Tag zu müde.

Deshalb schreibt er seinen dritten Roman vor allem tagsüber. Er ist strukturell an ein Märchen (vor allem aus dem slavischen und deutschen Sprachraum) angelehnt, wird umfangreicher als „Submarino“ sein und soll in Dänemark gegen Jahresende erscheinen.

Viel Zeit verwende er wieder auf die Struktur. Die Geschichte als eine Abfolge von Plottwists, Wendepunkten, Set-ups und Pay-offs, interessiert ihn weniger. Das wirke auf ihn beim Lesen von Romanen oft zu mechanisch und zu sophisticated. Er versuche dagegen möglichst natürlich zu erzählen.

Für Bengtsson ist ein Kind der beste reality check den es gibt. Im Moment liebt sein Sohn Superhelden und Bengtsson bekennt freimütig: „Ich könnte wahrscheinlich mehr über Superhelden als über meine Bücher reden.“

Und wir unterhalten uns dann einige Minuten über Superman, Spiderman und Batman, der Bengtsson immer besser als die braveren Superhelden gefallen hat. Entsprechend gut gefällt ihm auch Frank Millers Reinterpretation von Batman und – Bengtsson ist ein großer Robert-Downey-jr.-Fan – Iron-Man.

‚Der Pate“ und „25 Stunden‘ waren gute Romanverfilmungen“, sagt Bengtsson. David Benioffs gleichnamiger Roman habe ihm auch gefallen. Dessen zweiter Roman „Stadt der Diebe“ erinnerte ihn dann zu sehr an eine Vorlage für ein Hollywood-Drehbuch. Er ist ein Freund von kürzeren Romanen, gerne unter zweihundert Seiten, und der Kurzgeschichten von Heinrich Böll.

Die Verfilmung von „Submarino“

Thomas Vinterberg war an den Charakteren und den Themen von ‚Submarino‘ interessiert. Ich hatte das starke Gefühl, dass er wirklich an dem Buch interessiert war“, sagt Bengtsson. Vinterberg ist bei uns als Mitbegründer der „Dogma“-Bewegung bekannt. Zusammen mit anderen Filmemachern, wie Lars von Trier, stellten sie Mitte der Neunziger ein Reinheitsgebot für Filme auf, gegen das sie dann mehr oder weniger bewusst verstießen. Vinterberg drehte den auch kommerziell erfolgreichen „Dogma“-Film „Das Fest“, „It’s all about Love“ und „Dear Wendy“.

Bengtssons erster positiver Eindruck bestätigte sich. Er war für den Autor einer Vorlage ungewöhnlich stark in die Produktion involviert. Er zeigte Vinterberg die Schauplätze von seinem Roman. Er las mehrere Drehbuchfassungen und er war auch öfters bei den Dreharbeiten.

Wenn die Dreharbeiten nicht im Januar gewesen wären, wäre ich wahrscheinlich jeden Tag am Set gewesen“, bekennt er freimütig und auch der so entstandene Film gefällt ihm sehr gut.

Die Premiere von „Submarino“ war wenige Stunden vor unserem Gespräch auf der Berlinale im Wettbewerb läuft. „Die Leute waren während der Vorstellung ganz still.“ Danach wurde gefeiert.

Die ersten Kritiken für das düstere Drama fallen positiv aus. „Submarino“ wird frühestens im Herbst in den deutschen Kinos laufen. Ein Starttermin steht noch nicht fest.

Jonas T. Bengtsson: Submarino

(übersetzt von Günther Frauenlob)

Tropen Verlag, 2009

384 Seiten

19,90 Euro

Originalausgabe

Submarino

People’s Press, Kopenhagen 2007

Verfilmung

Submarino (Dänemark 2010)

Regie: Thomas Vinterberg

Drehbuch: Tobias Lindholm, Thomas Vinterberg

mit Jakob Cedergren, Peter Plaugborg, Patricia Schumann, Marten Rose, Gustav Fischer Kjærulff

Hinweise

Homepage von Jonas T. Bengtsson

Dänische Homepage zum Film

Berlinale: Programminformationen zu „Submarino“

Match Factory: Homepage und Presseheft zu „Submarino“