
Unter den Krimiautoren ist der deutsche D. B. Blettenberg der Globetrotter. Seine inzwischen elf Romane spielen in Afrika, Asien, Südamerika, Florida und Berlin. Für jeden Roman war er, oft als Entwicklungshelfer, länger in den Ländern. Auch in Ghana, dem Schauplatz seines neuesten und umfangreichsten Romans „Murnaus Vermächtnis“, arbeitete er.
Der Krimi (ein verniedlichendes Wort, das Blettenberg nicht mag; er fragt sich auch, ob „Murnaus Vermächtnis“ überhaupt ein Kriminalroman ist) ist, wie Blettenbergs andere Werke, ein kurzweiliges und sehr informatives Vergnügen. Denn er möchte nicht nur unterhalten, sondern auch Wissen vermitteln, ohne dabei eine bestimmte Weltsicht zu predigen. Als 1981 sein erster Roman „Weint nicht um mich in Quito“ erschien, wurde das mit dem gut dotierten Edgar-Wallace-Preis ausgezeichnete Werk von einigen Kritikern als das Ende des Soziokrimis gefeiert. Denn bereits in seinem Debütroman orientierte er sich vor allem an den Größen der angloamerikanischen Polit-Thriller-Riege, wie Eric Ambler und Ross Thomas.
Dieser Einfluss ist auch in seinem neuesten Werk „Murnaus Vermächtnis“ spürbar. Der Erzähler Victor Voss ist als Vierzigjähriger in Ghana gestrandet. Er war bei der Fremdenlegion, schreibt jetzt ein Buch und spielt Fremdenführer. Jetzt bittet Albin Grau ihn, ihn in die Voltaregion zu fahren. Schon auf der Hinfahrt kommt es zu einer Konfrontation mit dem cholerischen William und Grau wird ermordet. Zurück in Accra wird seine mütterliche Freundin Vera, die an einem Buch über Friedrich Wilhelm Murnau arbeitete, ermordet und alles hängt mit dem am 11. März 1931 bei einem Autounfall tödlich verunglückten Regisseur zusammen. Denn unter Filmfanatikern werden für Kopien seiner verschollenen Filme hohe Preise gezahlt. Anscheinend ist einer dieser verschollenen Filme in der Voltaregion.
Voss ist auf den ersten Buchseiten, wie der klassische Ambler-Held, der Spielball in einem Spiel, in das er gegen seinen Willen hineingestoßen wird, das er nicht überblickt und bei dem er froh sein kann, wenn er überlebt. Später wird deutlich, dass Voss viel stärker involviert ist, als er zunächst glaubte und dass er gerade wegen seiner Vergangenheit (Nein, nicht die Zeit bei der Fremdenlegion.) von Albin Grau als Führer engagiert wurde.
Die Ursprünge von „Murnaus Vermächtnis“

Die erste Idee für den Roman hatte Blettenberg, wie er mir Anfang Mai in einem ausführlichen Interview erzählte, allerdings nicht vor sechs Jahren in Ghana, sondern bereits in den frühen Neunzigern in Managua, der Hauptstadt von Nicaragua. Dort las er in der Wochenendbeilage der Berliner Morgenpost, anlässlich einer Arte-Dokumentation, einen Artikel über Friedrich Wilhelm Murnau und seinen letzten Film „Tabu“, den dieser mit Ureinwohnern auf einer Südseeinsel drehte. Das Murnau-Porträt mit dem an einer Schreibmaschine sitzenden Regisseur erinnerte ihn an den mit ihm befreundeten Regisseur Peter Keglevic („Der Bulle und das Mädchen“). Blettenberg arbeitete an den Drehbüchern für die Keglevic-Filme „Vickys Alptraum“ und „Falling Rocks“ mit.
Zufällig sah er kurz darauf in einem regionalen Sender, der sonst nur ein uninteressantes Programm brachte, Keglevics Spielfilm „Der Skipper“ (der für diese Ausstrahlung kein Geld erhielt. Murnau war in Mexiko mit einer illegalen Vorführung eines seiner Filme konfrontiert.). Bei einem Telefongespräch unterhielt er sich mit Keglevic darüber.
Zurück in Deutschland sah er dann die Dokumentation, recherchierte über Murnau und überlegte, ob er, wie Jörg Fauser es mit Marlon Brando getan hatte, über den Stummfilmregisseur eine subjektive Biographie schreiben sollte.
Aus der Idee wurde nichts und der Murnau-Artikel wanderte in Blettenbergs Archivbox.
2003/2004 arbeitete Blettenberg als Landesdirektor für den Deutschen Entwicklungsdienst in Ghana. Im Gegensatz zu seinen früheren Auslandsaufenthalten wollte er zuerst kein in Ghana spielendes Buch schreiben.
Er traf King Ampaw. Ampaw ist in Ghana ein bekannter Regisseur. Zuletzt inszenierte er den auch in deutschen Kinos gelaufenen Spielfilm „No Time to die“. Außerdem hatte Ampaw in Werner Herzogs Bruce-Chatwin-Verfilmung „Cobra Verde“, neben Klaus Kinski, eine Hauptrolle.
Bereits acht Jahre vor „Cobra Verde“ drehte Werner Herzog mit Klaus Kinski „Nosferatu – Phantom der Nacht“, ein fast bildgenaues Remake von Murnaus stilbildendem Horrorfilm „Nosferatu, eine Symphonie des Grauens“, der auf Bram Stokers „Dracula“ basiert.
Die Voltaregion, das ehemalige Deutsch-Togo, in der auch wichtige Teile des Romans „Murnaus Vermächtnis“ spielen, faszinierte Bletteberg in Ghana am meisten. Einerseits wegen der Landschaft, andererseits weil dort noch Juju (eine Form des Voodoo) praktiziert wird.
Er las viel über die Kolonialgeschichte. So erfuhr er von der Segelschule als Teil der deutschen Entwicklungshilfe. Er informierte sich über die Geschichte von Ghana und über Jerry John Rawlings, der von 1981 bis 2001 der Präsident von Ghana war und der „Che Guevara von Westafrika“ (Blettenberg) ist. Er durchstöberte die Antiquariate nach Büchern und Freunde empfahlen ihm Bücher über Rawlings und die Militärdiktatur, die es nur in Ghana gibt und auch dort teilweise nicht mehr erhältlich sind.
Es kam über die Jahre also einiges zusammen und irgendwann packte Blettenberg der Ehrgeiz, eine Geschichte zu erzählen, die die auf den ersten Blick nicht zusammenpassenden Elemente Ghana und Murnau miteinander verbindet. Das gelang ihm mit dem Thema Tabus und Tabubrüche.
Gleichzeitig wollte er sich verschiedener Genres bedienen und ein Schauerelement sollte enthalten sein. Er selbst nennt den Roman auch Tropical Noir oder Tropical Gothic. Die meisten seiner Romane würde er Abenteuer-Politthriller nennen. „Barbachs Bilder“ als sein Non-Maigret sei die große Ausnahme.
Das Schreiben von „Murnaus Vermächtnis“
Bevor er mit dem Roman bekann, schrieb er eine 120-seitigen Murnau-Biographie. „Bis jetzt gibt es – außer einem schmalen Buch von Lotte Eisner aus dem Jahr 1967 – keine Murnau-Biographie.“
Die Passagen über Friedrich Wilhelm Murnau in „Murnaus Vermächtnis“ sind, weil sie auf Tatsachen basieren, in der dritten Person geschrieben. Blettenberg übernahm große Teile seiner Murnau-Biographie in den Roman.
Die Geschichte von Victor Voss ist dagegen in der ersten Person Singular geschrieben. Für die Ich-Perspektive habe gesprochen, dass Voss immer am Ort des Geschehens ist (Ein Problem beim Konstruieren vieler Geschichten ist, dass der Autor dafür sorgen muss, dass der Ich-Erzähler entweder selbst am Ort des Geschehens ist oder ihm jemand anderes die wichtigen Informationen erzählt, ohne dass die Geschichte langweilig wird. Das ist gar nicht so einfach.) und es um Tabuverletzungen geht. Es geht um moralische Grauzonen und das Verdrängen von unangenehmen Erinnerungen.
„Das kann nur in der ersten Person erzählt werden. Sonst wirkt es schnell künstlich“, so Blettenberg. Denn sein Erzähler muss sich seiner Vergangenheit stellen. So wird Voss, nachdem er auf den ersten Seiten noch der normale, austauschbare Ich-Erzähler, der, ähnlich einem Detektiv oder Reporter, vor allem durch die Geschichte führen soll, immer mehr zu einem komplexen Charakter, der sich auch mit den Tabus, gegen die er in der Vergangenheit verstieß, und den moralischen Grauzonen, in die er sich so begab, stellen muss.
Eine Folge dieser Entscheidung war, so Blettenberg, dass das Buch, auch wegen der komplexen Geschichte, mindestens zweihundert Seiten dicker werde und er über vierhundert Seiten schreiben werde. Das wusste er von Anfang an. Die erste Fassung hatte dann neunhundert Seiten.
Beim Schreiben versucht Blettenberg einen Kompromiss zwischen Planung und Improvisation zu finden.
Vor dem Schreiben entwirft er einen Plot. Aber es ist nicht alles geplant und er lässt die Charaktere auch ihre eigenen Entscheidungen treffen. Außerdem beschäftigt er sich mit einigen Fragen erst, wenn sie entschieden werden müssen. So informierte er sich erst relativ spät über die Archivierung von Filmen und er war erstaunt, wieviel Platz ein Spielfilm benötigt.
Auch werden einige Charaktere im Lauf des Schreibens zunehmend wichtiger. So war der schweizer Saft- und Marmeladenfabrikant zunächst nur ein Charakter, der in der Abafun Lodge für einen glaubwürdigen Hintergrund sorgte. „Später ist mir aufgefallen, dass er die Lösung für ein Problem, das ich hatte, war“, erzählt Blettenberg.
„Ich habe eine gewisse Sicherheit, dass ich gut rauskomme“, fährt er fort. Dennoch kann es sein, dass er, wenn er gute Ideen hat, die zweite Hälfte komplett neu aufbaut.
Während des Schreibens verwirft er selbstverständlich einige Ideen, wie einen Tauchgang von Voss. Andere Szenen streicht er, nachdem er das Manuskript abgeschlossen hat. So hatte er in einer früheren Fassung die komplette 30-seitige Synopse von Murnaus verschollenem „Four Devils“ aufgenommen.
Einige seiner Testleser hielten diese Passage für zu lang. „Andere sagten, ich solle keine Zeile des 900-seitigen Manuskripts streichen.“ Aber weil er einen Roman und keine filmhistorische Abhandlung schreiben wollte, kürzte er die Inhaltsangabe von „Four Devils“ auf wenige Zeilen ein. Auch einige Passagen aus Murnaus Leben und seinem Umfeld, die in seiner Murnau-Biographie standen, sind – falls er sie überhaupt in eine frühere Fassung aufgenommen hatte – vor dem Druck von ihm gestrichen worden.
Am Ende erstellte er, wegen der Länge von „Murnaus Vermächtnis“, den Prolog, den er „Aufblende“ nannte. „Es ist ein Versprechen und Einstimmung auf die Geschichte.“
Die Einteilung in vier Akte, eine Auf- und Abblende machte er nach dem Schreiben. Sie weist noch einmal darauf hin, dass es in dem Buch um Filme, vor allem Stummfilme, die noch in Akte (vulgo Filmspulen), unterteilt waren, geht.
D. B. Blettenbergs Lektüre
Mit meiner traditionellen Abschlussfrage nach fünf Büchern für den nächsten Urlaub stellte ich D. B. Blettenberg dann vor ungeahnte Probleme. In den vergangenen Monaten hatte er vor allem Sachbücher für seinen nächsten Roman gelesen und er wollte mir unbedingt Bücher empfehlen, die ich noch nicht gelesen hatte. Nach längerem Überlegen nannte er:
– Hugh R. Trevor-Roper: Der Eremit von Peking
– Albert Sánchez Pinol: Pandora im Kongo
– Ulf Miehe: Puma
– Hans Herbst: Mendoza
– Charles McCarry: Christophers‘ Ghost
Als wir dann zur Bücherwand gingen, zeigte er mir die Bücher seiner Lieblingsautoren, die ihn teilweise um die halbe Welt begleiteten. Elmore Leonard, Eric Ambler, Carl Hiaasen („Ich kann von ihm allerdings nur ein halbes Buch lesen. Dann wird es mir zu viel.“), James W. Hall, Brian Freemantle, Ted Allbeury, Len Deighton, Charles McCarry, Alan Furst, James Lee Burke, James Ellroy (mit einer persönlichen Widmung), Ed McBain („Ein Meister des Dialogs.“), Natsuo Kirino, Dennis Lehane, Michael Connelly, Tony Hillerman, Maj Sjöwall/Per Wahlöö, etwas Mickey Spillane, zwei Keller-Romane von Lawrence Block („Mehr kenne ich noch nicht von ihm.“), und die Geschenkausgabe von Elmore Leonards „Ten Rules of Writing“.

D. B. Blettenberg: Murnaus Vermächtnis
Dumont, 2010
576 Seiten
19,95 Euro
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Hinweise
Homepage von D. B. Blettenberg
Meine Besprechung von D. B. Blettenbergs „Land der guten Hoffnung“
Meine Besprechung von D. B. Blettenbergs „Murnaus Vermächtnis“
Wikipedia über D. B. Blettenberg
Lexikon der deutschen Krimiautoren über D. B. Blettenberg
Krimi-Couch über D. B. Blettenberg
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