Der letzte deutsche Film, der die Probleme von Jugendlichen halbwegs ernsthaft thematisierte, war Detlev Bucks „Knallhart“. Allerdings überzeugte „Knallhart“ weniger als Jugenddrama, sondern vor allem als Gangster-Ghetto-Drama, das durchaus gelungen amerikanische Vorbilder nach Berlin versetzte. Über das Leben von Jugendlichen erfuhr man dagegen, außer einer Bestätigung der eigenen Vorurteile, nichts.
Dabei waren wir schon einmal weiter.
In den siebziger Jahren drehte Hark Bohm mit seiner Filmfamilie einige Filme für junge Zuschauer, die explizit ihre Sorgen und Sehnsüchte ansprachen und die auch mit den Jugendlichen gemeinsam entwickelt wurden. „Tschetan, der Indianerjunge“, „Nordsee ist Mordsee“, „Moritz, lieber Moritz“ und, nach einigen anderen Filmen, „Yasemin“ hießen sie und, obwohl sie damals für Diskussionen sorgten und auch an der Kinokasse erfolgreich waren, sind sie heute weitgehend vergessen. Denn sie liefen schon seit Ewigkeiten nicht mehr im Fernsehen, im Kino sowieso nicht und es gibt auch bislang keine DVD-Veröffentlichungen (Naja, genaugenommen wurde „Nordsee ist Mordsee“ 2009 in der Spiegel-Edition „Deutscher Film“ veröffentlicht und in der aus fünfzig Filmen bestehenden, limitierten, entsprechend teuren und ausverkauften „Filmverlag der Autoren“-Werkschau wurden „Tschetan, der Indianerjunge“ und „Nordsee ist Mordsee“ veröffentlicht.).
In „Nordsee ist Mordsee“ erzählt Hark Bohm die Geschichte des vierzehnjährigen Uwe Schiedrowsky (Uwe Enkelmann, heute bekannter als Uwe Bohm) und des gleichaltrigen Dschingis Ulanow (Dschingis Bowakow). Sie leben in einem Sozialen Wohnungsbau auf der Elbinsel Hamburg-Wilhelmsburg, damals von den Bewohnern auch Niggertown genannt und ein Paradies für Sozialarbeiter und Stadtplaner.
Uwe wird von seinem Vater Walter Schiedrowsky (Marquard Bohm, der Bruder von Hark Bohm), einem Barkassenschiffer, der ein richtiger Seemann werden wollte und der seinen Frust über seinen Job im Alkohol ersäuft, regelmäßig geschlagen. Dafür ist Uwe mit seinem Platzhirschgehabe, das er sich von seinem Vater abgeschaut hat, bei den Gleichaltrigen der unumstrittene Anführer.
Dschingis ist das genaue Gegenteil von Uwe und wird von Uwes Clique als Ausländer gehänselt. In einer abgelegenen Bucht baut er ein Schiff, das, als es von Uwe entdeckt wird, gleich von Uwe und seinen Freunden zerstört wird.
Es kommt zu einem Kampf zwischen Dschingis und Uwe. Dschingis gewinnt und er zwingt Uwe, das Schiff zu reparieren. Danach ist Uwe als Anführer abgesägt. Er versucht mit einem Autodiebstahl wieder deren Respekt zurück zu erobern. Selbstverständlich wird er von der Polizei erwischt und kassiert von seinem Vater erst einmal eine ordentliche Tracht Prügel.
In diesem Moment kann er sich nur an Dschingis wenden, der ihm anbietet, bei ihm zu übernachten. Aber Dschingis‘ Mutter, die in der deutschen Gesellschaft nicht auffallen möchte, lehnt die Bitte von ihrem Sohn ab.
Dschingis und Uwe, die sich jetzt endgültig von den Erwachsenen abgelehnt fühlen, beschließen gemeinsam mit dem von ihnen gebautem Schiff die Elbe hinunter zu fahren. Doch schon nach wenigen Metern, im Hamburger Hafen, zwischen all den großen Schiffen, merken sie, dass sie mit ihrem Kahn nicht weit kommen werden. Sie klauen ein kleines Segelboot und machen sich auf dem Weg zur Nordsee.
Als „Nordsee ist Mordsee“ 1976 in die Kinos kam war der Film ein Hit.
Gleichzeitig gab es mächtigen Ärger wegen der Freigabe. Denn die Freiwillige Selbstkontrolle (FSK) gab dem Film zuerst eine „ab 16 Jahre“-Freigabe und begründete dies mit den möglichen negativen Auswirkungen auf unter Sechzehnjährige und warnte vor Nachahmungseffekten. Hark Bohm klagte dagegen, weil er wollte, dass die Jugendlichen, für die er den Film gemacht hatte, sich den Film ansehen können. Ihm schwebte eine „ab 6 Jahre“-Freigabe vor. Diese Streit wurde von zahlreichen Zeitungsartikeln und einer entsprechend breiten Debatte über die Freigabepolitik, die Aufgabe der FSK und die Wirkung von Filmen („Wenn ein Film so einfach wirken würde, dann hätte ‚Es herrscht Ruhe im Land‘ in der Bundesrepublik eine Revolution auslösen müssen.“ [Hark Bohm]) begleitet. Letztendlich ging es um die auch heute noch bei der Freigabe von Filmen aktuellen Fragen, inwiefern mit den Freigaben auch erzieherische Aussagen verknüpft sind oder sollten und wie sehr die Freigabe eines Filmes teilweise sogar erwachsene Zuschauer vor möglichen negativen Auswirkungen beschützen soll.
Letztendlich wurde „Nordsee ist Mordsee“ am 13. Mai 1976 im Rechtsausschuss (der höchsten Berufungsinstanz der FSK) „ab 12 Jahre“ freigegeben. Diese Freigabe hat der Film heute immer noch und deshalb kann „Nordsee ist Mordsee“ im Fernsehen, ohne Ausnahmegenehmigung, nicht vor 20.00 Uhr gezeigt werden.
Dabei ist „Nordsee ist Mordsee“ trotz kleiner Schwächen in der Geschichte und dem Schauspiel (Hey, es sind Jugendliche und einige Laienschauspieler) immer noch ein überzeugender Film, der die Jugendlichen, ihre Sorgen und Nöte und die Zwänge in denen sie und ihre Eltern leben, ernst nimmt. Denn Hark Bohm lebte vor den Dreharbeiten zur Recherche drei Monate in Hamburg-Wilhelmsburg und erarbeitete das Drehbuch mit seinen Darstellern. So floss in die von Uwe Enkelmann und Dschingis Bowakow gespielten Charaktere viel von ihrer eigenen Geschichte ein und genau diese in jeder Sekunde spürbare dokumentarische Qualität gibt „Nordsee ist Mordsee“ seine Kraft.
„Nordsee ist Mordsee“ lohnt wirklich eine Wiederentdeckung.
Nordsee ist Mordsee (D 1976)
Regie: Hark Bohm
Drehbuch: Hark Bohm
mit Uwe Enkelmann, Dschingis Bowakow, Marquard Bohm, Herma Koehn, Katja Bowakow, Günter Lohmann, Corinna Schmidt, Ingrid Boje, Gerhard Stöhr, Rolf Becker
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DVD
Bild: 1,66:1 (anamorph)
Ton: Deutsch (Mono Dolby Digital)
Untertitel: –
Bonusmaterial: Trailer, Fotogalerie, Presseheft, Wendecover
Länge: 82 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Hinweise
Wikipedia über „Nordsee ist Mordsee“
Die Zeit: Hans C. Blumenberg über „Nordsee ist Mordsee“ (30. April 1976)