Impressionen von der Leipziger Buchmesse 2024: Lauter nette Krimiautor*innen

März 24, 2024

Nächstes Jahr sollte ich auf der Leipziger Buchmesse endlich die vielen Cosplayer*innen aus dieser und allen anderen Welten fotografieren. Die scheinen das Posieren zu genießen. Deadpool – auch ihn habe ich auf der Messe gesehen – wohl auch.

Dieses Jahr habe ich Interviews mit Christine Lehmann (über „Alles nicht echt“), Stefán Máni (über „Abgrund“) und Anthony J. Quinn (über „Frau ohne Ausweg“) geführt. Ich muss sie die Tage noch etwas bearbeiten.

Bis dahin gibt es einige Schnappschüsse von gutgelaunten Krimiautor*innen mit ihren neuesten Kriminalromanen. In alphabetischer Reihenfolge:

Frauke Buchholz ist mit „Skalpjagd“ (Pendragon) am Ende einer Trilogie um den kanadischen Profiler Ted Garner, die vielleicht doch eine aus vier (oder mehr) Romanen bestehende ‚Trilogie‘ wird. Sie meinte, es gebe noch offene Fragen.

Jürgen Heimbach entführt uns in seinem neuen Krimi „Waldeck“ (Unionsverlag) in die sechziger Jahre zum ersten Burg-Waldeck-Festival. Während dort noch heute bekannte Musiker klampfen, sucht Journalist Ferdinand Broich einen untergetauchten SS-Arzt.

Chrstine Lehman lässt in ihrem 13. Lisa-Nerz-Krimi „Alles nicht echt“ (Ariadne) ihre Heldin in der Nachrichtenredaktion eines ÖRR-Senders ermitteln. Sie soll herausfinden, wer einige Daten aus dem Sender geklaut hat. Kurz darauf sucht sie einen Mörder.

Stefán Máni führt in Island seinen jungen Helden an den „Abgrund“ (Polar). Der Naivling glaubt, irgendetwas mit dem Verschwinden einer jungen Videothek-Mitarbeiterin zu tun zu haben. „Abgrund“ ist auch der erste Roman mit Kriminalpolizist Hörður Grímsson.

Anthony J. Quinn ist mit einer untergetauchten, aus Osteuropa kommenden „Frau ohne Ausweg“ (Polar) und seinem Ermittler Celcius Daly im irisch/nordirischen Grenzgebiet unterwegs. Daly sucht den Mörder ihres Zuhälters. Troubles garantiert

Das sind jetzt mindestens fünf leichengesättigte Lesetipps für den qualitätsbewussten Krimifan.


Impressionen von der Leipziger Buchmesse 2023

April 28, 2023

Sie ist wieder da: die Leipziger Buchmesse.

Wie andere Großveranstaltungen legte sie wegen der Coronavirus-Pandemie eine Zwangspause ein. Letztes Jahr fand sie nur als spontane Ad-hoc-Messe statt.

Dieses Jahr findet sie, bis Sonntag, am gewohnten Ort im gewohnten Rahmen statt.

Für die erste Post-Pandemie-Ausgabe wurde das Hallenkonzept geändert. Comics und Mangas, die immer populärer werden, sind jetzt in zwei von fünf Hallen präsent. Und wer wollte, konnte, schon vor dem Cosplay-Wettbewerb am 29. April, viele Cosplayer fotografieren.

In den restlichen drei Hallen sind Belletristik- und Sachbuchverlage. Dieses Jahr fielen mir, neben den vielen altbekannte, vertrauten und beliebten Verlagen, mehrere Musikbuchverlage auf. Und es gibt einen von mir ignorierten „Fokus Bildung“. Gefühlt gab es mehr Essensstände. Und es gab selbstverständlich viele Buchvorstellungen und Gesprächsrunden.

Ben Aaronovitch, der Erfinder von Peter Grant und der „Flüsse von London“-Krimifantasyserie, und „Panini“ Steffen Volkmer beim Signieren. Also, natürlich nur Ben Aaronovitch. Die deutschen Ausgaben seiner Werke erschienen bei dtv und Panini.

Else Laudan vom Argument Verlag vor ihrem Ariadne-Krimiprogramm und ihrer aktuellen Top-Empfehlung für alle, die einen guten Krimi lesen wollen: der neue Roman von Mary Paulson-Ellis „Das Erbe von Solomon Farthing“.

Die helle Macht hinter den immer lesenswerten Noirs des „Polar“-Verlages: Jürgen Ruckh, Britta Kuhlmann und Wolfgang Franßen (von links nach rechts)

Demnächst: mein auf der Leipziger Buchmesse geführtes ausführliches und, wie ich finde, sehr informatives Gespräch mit Kim Sherwood („James Bond: Doppelt oder Nichts“) und Christopher Golden (zuletzt „Road of Bones – Straße des Todes“).


Neu im Kino/Filmkritik: Das Autorenporträt „Alles über Martin Suter. Außer die Wahrheit.“

Oktober 7, 2022

Die Fantasie stimmt ja meistens mehr als die Realität.“

Martin Suter

Wie macht man einen Film über einen Schriftsteller? Bei einem Schauspieler ist das ja ziemlich einfach: einige Ausschnitte aus seinen Filmen, bevorzugt die Szenen, in denen er groß aufspielen kann, einige Statements von ihm, einige von Kollegen und ein Kritiker erklärt, warum der Schauspieler so grandios ist. Fertig. Bei Musikern werden die Filmausschnitte durch Konzertausschnitte ersetzt.

Aber bei einem Schriftsteller?

Eine Möglichkeit wird in „Alles über Martin Suter. Außer die Wahrheit.“ gezeigt. Nämlch indem man kurze Stellen aus dem Werk des Autors nachinszeniert und den Autor in diese Inszenierung stellt. Dann blickt Suter, immer etwas amüsiert wirkend, auf die von ihm erfundenen Figuren und er kann über ihre Geschichte reden. Daneben erzählt er auch, immer ein wenig selbstironisch und distanziert, über sich. Auch der Titel des Films ist von Martin Suter.

Suter selbst war, bevor er einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Schweiz wurde, unter anderem Werbetexter. Auf die weiteren Stationen Suters vor seinem Romandebüt „Small World“ geht André Schäfer in seinem Film kaum ein. Dieser Teil von Suters Leben ist für seine Romane unwichtig. „Small World“ erschien 1997 bei Diogenes. Seitdem schrieb er fast im Jahrestakt weitere Romane, Theaterstücke, Drehbücher und Liedtexte, die er mit Stephan Eicher vertonte. Alle seine Romane wurden zu Bestsellern, die mehr oder weniger Kriminalromane sind. Einige wurden verfilmt. Am bekanntesten dürften die „Allmen“-TV-Filme mit Heino Ferch sein.

2007 erhielt er für „Der Teufel von Mailand“ den Friedrich-Glauser-Preis. Er stand auch mal auf der Krimibestenliste.

Alles über Martin Suter. Außer die Wahrheit.“ ist ein sehr sympathisches Porträt eines sehr sympathischen und unprätentiösen Menschen, dem es durchgehend gelingt Nähe zu vermitteln und gleichzeitig nichts über sich zu verraten. Deshalb bleibt das Porträt konsequent an der Oberfläche. Auch nach neunzig Minuten, die wie im Flug vergehen, hat man erstaunlich wenig über Martin Suter und sein Werk erfahren.

Alles über Martin Suter. Außer die Wahrheit. (Schweiz/Deutschland 2022)

Regie: André Schäfer

Drehbuch: André Schäfer

mit Martin Suter, Margrith Nay Suter, Ana Suter, Stephan Eicher, Benjamin von Stuckrad-Barre, Bastian Schweinsteiger, Philipp Keel

Länge: 90 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Alles über Martin Suter. Außer die Wahrheit.“

Moviepilot über „Alles über Martin Suter. Außer die Wahrheit.“

Wikipedia über Martin Suter

Diogenes über Martin Suter

Homepage von Martin Suter

Meine Besprechung von Ralf Huettners Martin-Suter-Verfilmung „Der Koch“ (Deutschland/Schweiz 2014)


Alles Gute zum Geburtstag, Colin Dexter

September 29, 2020

Die Legende geht so: In den frühen siebziger Jahren verbringt Colin Dexter einen Familienurlaub in Wales. Es regnet ununterbrochen. Er schreibt zwei Kriminalgeschichten, die ihn nicht überzeugen. Er meint, er könne es besser. Er schreibt „Der letzte Bus nach Woodstock“ (Last Bus to Woodstock) mit Inspector Morse als Ermittler. Der Roman wird 1975 veröffentlicht und ist ein Erfolg.

Bis zu seinem Tod schreibt Colin Dexter (29. September 1930 in Stamford, England – 21. März 2017 in Oxford, England) zwölf weitere Morse-Kriminalromane und einige Kurzgeschichten. Einige mit, einige ohne Inspector Morse.

Der von Dexter erfundene Inspector Endeavour Morse ist einer der großen Ermittler der Kriminalliteratur. Sein Vorname wird erst in „ Der Tod ist mein Nachbar“ (Death is now my Neighbor, 1997) enthüllt. Bis dahin ist sein Vorname wahlweise ‚Inspector‘ oder ‚Morse‘. Bei Morse fällt vor allem seine Normalität auf. Morse ist angenehm unbelastet von privaten und psychischen Problemen. Er hat kein nennenswertes, die Ermittlungen störendes Privatleben. Er ist überzeugter Single. Er liebt Kreuzworträtsel, klassische Musik, ist gebildet und ein leidenschaftlicher Biertrinker. Das sind letztendlich nette Marotten, die beim Leser schnell ein Gefühl von Vertrautheit vermitteln und nicht weiter von dem Rätselplot ablenken. Denn die Morse-Krimis sind traditionsbewusste Rätselkrimis, die wohlige Erinnerungen an die Vergangenheit heraufbeschwören als es noch kein Internet, keine Mobiltelefone, keine DNA-Analyse und keine Videokameras an jeder Ecke gab.

So geht es in seinem jüngst vom Unionsverlag wiederveröffentlichen Morse-Krimis „Der Weg durch Wytham Woods“ (The Way through the Woods, 1992) um eine vor einem Jahr spurlos verschwundene schwedische Studentin. Während der Ermittlungen stößt Morse auf eine Gruppe von Männern, die in ihrer Freizeit gerne freizügige Aufnahmen von jungen Frauen machen und, wenn die Dame aufgeschlossen ist, auch einen Schritt weitergehen.

Dieser Sexkreis erinnert dann doch weniger an die frühen neunziger Jahre, in denen der Roman spielt, sondern an die siebziger Jahre, als die sexuelle Befreiung auch auf dem Land praktiziert wurde und die Kinos mit erotischen Filmen und Pornos überschwemmt wurden „Deep Throat“ wurde sogar zu einem Must-see-Film.

Das, vor allem die Heimlichtuerei und die Schuldgefühle der Männer, wirkte vor knapp dreißig Jahren vielleicht etwas altmodisch. Heute, wo wir den direkten Vergleich zu den damaligen Bestellern (wie „Das Schweigen der Lämmer“ und dem ganzen Serienkillergedöns), nicht mehr haben, liest sich auch dieser Morse-Krimi angenehm nostalgisch. Er ist, wie die anderen Morse-Krimis, gut geschrieben, gut geplottet und mit einem vertrackten Rätsel im Mittelpunkt. Auch wenn man in „Der Weg durch Wytham Woods“ die Zusammenhänge rasch erahnt.

Heute zählt der Roman zu den besten Morse-Krimis. Unter anderem in der „Good Reading Guide to Crime Fiction“ und der „The Rough Guide to Crime Fiction“ wird er als bester Morse-Krimi genannt. Er wurde von der CWA mit dem „Gold Dagger“ ausgezeichnet. In der „Rough Guide to Crime Fiction“ wird außerdem John Maddens Verfilmung für die „Inspector Morse“-TV-Serie gelobt.

Dexters Romane waren in England die Grundlage für die dort sehr erfolgreiche Krimiserie „Inspektor Morse, Mordkommission Oxford“ (Inspector Morse). John Thaw spielte Morse. Regisseure waren Peter Hammond, Jack Gold, John Madden, Danny Boyle und Antonia Bird. Anthony Minghella gehörte zu den Drehbuchautoren. Die Serie entstand von 1987 bis 2000. In Deutschland ist sie fast unbekannt.

Später entstanden die Spin-Offs „Lewis – Der Oxford-Krimi“ (mit dem aus der „Inspektor Morse“-Serie vertrauten Kevin Whately als Lewis) und „Der junge Inspektor Morse“ (gespielt von Shaun Evans).Und Colin Dexter hatte auch in ihnen zahlreiche Cameo-Auftritte.

Alles Gute zum Geburtstag, Colin Dexter! (wenn auch posthum, aber dafür vom Herzen kommend)

Zuletzt erschienen in der Neuausgabe des Unionsverlags, für die Eva Berié die alten Übersetzungen überarbeitet:

Colin Dexter: Der Wolvercote-Dorn

(übersetzt von Ute Tanner)

Unionsverlag, 2020

288 Seiten

12,95 Euro

Originalausgabe

The Jewel that was ours

Macmillan, London 1991

Deutsche Erstausgabe

Tod für Don Juan

Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek, 1992

Colin Dexter: Der Weg durch Wytham Woods

(übersetzt von Karin Pelz)

Unionsverlag, 2020

352 Seiten

12,95 Euro

Originalausgabe

The Way through the Woods

Macmillan, London 1992

Deutsche Erstausgabe

Finstere Gründe

Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1992

Die Inspector-Morse-Romane

Last Bus to Woodstock, 1975 (Der letzte Bus nach Woodstock)

Last seen wearing, 1976 (… wurde sie zuletzt gesehen; Zuletzt gesehen in Kidlington)

The silent World of Nicholas Quinn, 1977 (Die schweigende Welt des Nicholas Quinn)

Service of Aal the Dead, 1979 (Eine Messe für all die Toten)

The Dead of Jericho, 1981 (Die Toten von Jericho)

The Riddle of the Third Mile, 1983 (Das Rätsel der dritten Meile)

The Secret of Annexe 3, 1986 (Hüte dich vor Maskeraden; Das Geheimnis von Zimmer 3)

The Wench is dead, 1989 (Mord am Oxford-Kanal; Gott sei ihrer Seele gnädig)

The Jewel that was ours, 1991 ( Tod für Don Juan; Der Wolvercote-Dorn)

The Way through the Woods, 1992 (Finstere Gründe; Der Weg durch Wytham Woods)

The Daughter of Cain, 1994 (Die Leiche am Fluss; Die Töchter von Kain – Neuausgabe für Februar 2021 angekündigt)

Death is now my Neighbour,1996 (Der Tod ist mein Nachbar – Neuausgabe für Februar 2021 angekündigt)

The remorseful Day, 1999 (Und kurz ist unser Leben; Der letzte Tag – Neuausgabe für Juli 2021 angekündigt)

zusätzlich und um die Liste komplett zu machen, erscheint im Juli 2021 im Unionsverlag

Ihr Fall, Inspector Morse (6 Kurzgeschichten – angekündigt für Juli 2021)

Hinweise

Unionsverlag über Colin Dexter

Wikipedia über Colin Dexter (deutsch, englisch)

Krimi-Couch über Colin Dexter

Meine Besprechung von „Lewis – Der Oxford Krimi: Staffel 6“

Meine Besprechung von „Lewis – Der Oxford Krimi: Collector’s Box 1“

Meine Besprechung von „Lewis – Der Oxford Krimi: Gesamt Box“

Meine Besprechung von „Inspector Morse: Staffel 1“

Meine Besprechung von Colin Dexters „Gott sei ihrer Seele gnädig“ (The Wench Is dead, 1989)


Ein Gespräch mit Jack Ketchum

April 3, 2009

jack-ketchum

In den USA ist er vor allem unter Horrorfans schon länger bekannt und beliebt. Bereits sein erster Roman „Beutezeit“ sorgte 1981 wegen der Gewalt für einen Aufschrei bei den Sittenwächtern. Village Voice sprach von Gewaltpornographie. Neben mehreren Nominierungen und Bram-Stoker-Preisen, werden bekannte Kollegen wie Bentley Little, Robert Bloch, Richard Laymon und, vor allem, Stephen King, nicht müde seine Werke in den höchsten Tönen zu preisen. In den vergangenen Jahren erhielt Jack Ketchum in seiner Heimat dank der gelungenen Verfilmungen seiner Werke einen weiteren Popularitätsschub. „Jack Ketchum’s Evil“ und „Jack Ketchum’s The Lost“ gibt es inzwischen auch in Deutschland auf DVD. „Red“ erscheint demnächst und dürfte die einzige Ketchum-Verfilmung sein, die auch von Jugendlichen gesehen werden kann. Seit 2006 hat der Heyne-Verlag vier Ketchum-Romane veröffentlicht. Der fünfte Roman „Beutegier“ ist für Juni angekündigt.

Ende März besuchte Jack Ketchum Frankreich und Deutschland. Dabei ergab sich über seinen deutschen Lektor die Gelegenheit zu einem Interview (das letztendlich in dieser Fassung elektronisch zustande kam).

Spätestens als Jack Ketchum die letzte Frage beantwortete, wusste ich, warum mir seine Bücher gefallen.

AxelB: Für viele bist du ein Horrorschriftsteller. Aber für mich sind „Blutrot“ und „Amoklauf“ gute Kriminalromane. Wie würdest du daher die verschiedenen Genres Horror, Krimi und Thriller voneinander abgrenzen?

Jack Ketchum: Alle meine Bücher haben ein Element von Horror, eines mehr als andere. Aber wie mein Freund (und ein selbst ein guter Autor) Douglas E. Winter sagt ‚Horror ist eine Emotion, kein Genre’. Das trifft sicher auf die Gefühle des alten Mannes in „Blutrot“ zu, wenn sein Hund vor ihm erschossen wird. Oder wenn in „Amokjagd“ meine beiden zur Mitfahrt gezwungenen Passagiere die zufälligen Morde von Wayne beobachten müssen. Ich habe kein Problem damit, ein Horrorautor genannt zu werden, aber ich denke nicht, dass das Schubladendenken in Genres sehr hilfreich ist. Ich denke, das ist etwas, das uns Verleger und Händler vorgeben – eine Art des herunterbrechens der Leserschaft für die einfache Werbung. Wenn ich gezwungen werde, dann sage ich, dass ich meistens Horror- und Spannungsliteratur schreibe. Aber es gibt auch Schwarze Komödien. In meinem Werk ist alles Mögliche drin.

In diesen Büchern gibt es eine großartige Eröffnung, einprägsame Charaktere und eine gute Geschichte mit einem befriedigenden Ende. Aber was ist zuerst da: die Geschichte, das Thema oder die Charaktere?

Ich denke das Thema; also was ich sagen will. Dann eindeutig die Charaktere. Ich würde nie anfangen zu schreiben, bevor ich meine Charaktere habe. Denn ich denke, dass jedes gute Buch vor allem über menschliche Anliegen ist. Der Plot – wie die Charaktere ihr Ziel erreichen – ist für mich am unwichtigsten.

Wie schreibst du deine Geschichten?

Ich mache keine Outlines mehr. Ich finde es zu einschränkend. Ich arbeite mit drei Pinnwänden, auf denen ich Notizen über Setting, Geschichte, Charaktere, undsoweiter, befestigte. Wenn es nötig ist, arrangiere ich die Zettel um. Vor dem Schreiben habe ich eine grobe Idee von meinem Ziel, dem Thema und den Charakteren, aber wenn ich mit dem Schreiben beginne, versuche ich den Charakteren eine ziemlich lange Leine zu lassen. Sie sollen ihre eigenen Entscheidungen fällen. Genau wie im richtigen Leben. Da improvisiere ich dann viel. Wenn ich neue Szenen schreibe, tendiere ich dazu, nach ungefähr vier Stunden todmüde zu sein. Überarbeiten kann ich dagegen bis zu sieben Stunden.

In deiner Bibliographie gibt es neben den Romanen auch viele Kurzgeschichte. Was ist für dich der Unterschied zwischen ihnen?

Der Unterschied ist der zwischen einer Heirat und einem One-Night-Stand, im Wesentlichen. Das schöne beim Schreiben eines Romans ist, dass du für mindestens mehrere Monate weißt, was du jeden Tag tust. Und es ist sehr befriedigend, zu einer Gruppe alter Bekannter in neuen Situationen zurückzukehren. Das Schöne bei Kurzgeschichten ist, dass du in wenigen Tagen fertig bist. Ich denke, sie schaffen untereinander einen schönen Ausgleich.

Du hast außerdem einige Drehbücher geschrieben. Welche Erfahrungen hast du dabei gemacht?

Ich habe es auf dem schweren Weg herausgefunden, dass du bei einem Drehbuch mit viel mehr davonkommen kannst als in einem Buch. Die Tatsache, dass ein Film normalerweise nur zwei Stunden dauert, bedeutet, dass dir einige Ungenauigkeiten, Plotlöcher und sogar widersprüchliche Charakter-Eigenschaften beim Sehen überhaupt nicht auffallen. Ich rede nicht von den „Plotlöchern, durch die ein Truck passt“. Aber die Kleinigkeiten. „Old Flames“, zum Beispiel, begann als Drehbuch – eines das ich damals teilweise nicht mochte, weil es mir zu überflüssig erschien. Außerdem mochte es niemand sonst. Also legte ich es für einige Jahre weg. Dann erhielt ich die Möglichkeit, eine Prosaversion zu schreiben. Ich entfernte das überflüssige Material und schrieb eine neue Fassung, die mir gefiel. Beim Schreiben fand ich einige störende Ungenauigkeiten und Unterlassungssünden und beseitigte sie. Danach schrieb ich das Drehbuch mit den Änderungen neu. Es ist jetzt ein viel besseres Buch. Chris Siverston, der Regisseur von „The Lost“, schnappte es sich sofort

Es gibt noch weitere Unterschiede, die, obwohl ich gerne Drehbücher schreibe, für mich das Schreiben von Prosa befriedigender machen. In einem Film arbeitest du wirklich nur mit zwei Sinnen: Sehen und Hören, obwohl du die anderen implizieren kannst. In Prosa kannst du sie alle vollständig ansprechen. In Filmen kannst du nur die Oberfläche der Gefühle eines Charakters zeigen. Du kannst nicht wirklich so tief in das Bewusstsein von jemand einsteigen, wie in einem Roman. Auf der Haben-Seite ist, dass ein Drehbuch viel schneller als ein Roman oder ein Kurzroman geschrieben ist.

Vor allem “Blutrot” hat eindeutig eine moralische Botschaft. Wie behandelst du moralische Fragen und Themen in deinen Büchern?

Ich interessiere mich dafür, wie wir miteinander umgehen – in dem Fall von „Blutrot“ und einigen anderen Geschichten, habe ich auch Tiere einbezogen. Als Schriftsteller hast du im Rahmen von guten, unterhaltsamen Geschichten die einzigartige Möglichkeit, vor einem ziemlich großen Publikum deine Sorgen zu thematisieren und deinen Interessen nachzugehen, ohne dabei zu predigen.

Ich beginne oft mit etwas, das mir stinkt. Kindesmissbrauch, Missbrauch von Tieren, Vergewaltigung, Soziopathie im Allgemeinen. All diese und noch einige andere Sachen stinken mir. Also schreibe ich darüber. Nicht nur um meinen Ärger und meine Wut zu zeigen, sondern hoffentlich um diese Sachen ein wenig zu erforschen; sie ein wenig zu verstehen; und um einige unserer Reaktionen, wenn wir mit ihnen konfrontiert werden, zu verstehen.

Ein Jack-Ketchum-Interview kann unmöglich beendet werden, ohne eine Frage nach der Gewalt in deinen Büchern und inwiefern sie die amerikanische Kultur reflektiert zu stellen. Also: Wie ist die Verbindung zwischen deinen Charakteren und der Gewalt?

Es gibt Gewalt. So einfach ist das. Und offensichtlich nicht nur in der amerikanischen Kultur, sondern überall. Sollen wir über Josef Fritzl reden? Selbstverständlich kenne ich die Gewalt vor meiner Haustür in der guten alten USA am besten und deshalb schreibe ich vor allem darüber. Aber in „Cover“ schreibe ich über einen Überlebenden des Vietnamkrieges und die Gewalt dort. In „Closing Time“ ist der weltweite Terrorismus der Hintergrund.

Ich hatte nie ein Problem mit Gewalt in Büchern, Filmen oder dem Fernsehen. Im Gegenteil; ich denke es ist vielleicht heilsam und ein sicherer Ort, in dem du dich auf die schlimmsten Dingen, die dir vielleicht passieren können, vorzubereiten. In meiner eigenen Arbeit lehne ich grundlose Gewalt ab. Du sollst an sie glauben und Angst um die Menschen in Gefahr haben. Pappkameraden und Cartoongewalt langweilen mich zu Tode. Aus dem gleichen Grund langweilen mich Silikonbrüste. Ich tendiere dann zum Vorspulen.

Bist du in Minute 01:28 der Gerichtsmediziner in dem Trailer zur neuesten Jack-Ketchum-Verfilmung “Offspring”?

Ja. Du kannst mich außerdem hier sehen:


Würdest du fünf Bücher für den nächsten Urlaub empfehlen?

Gerne!

Charlie Huston’s THE SHOTGUN RULE (Killing Game)

Duane Swierczynski’s THE BLONDE (Blondes Gift)

James Lee Burke’s PEGASUS DESCENDING

Jim Harrison’s THE ENGLISH MAJOR

Stewart O’Nan’s A PRAYER FOR THE DYING (Das Glück der anderen)

Ted Kerasote’s MERLE’S DOOR.

Jetzt habe ich dir sogar ein Six-Pack gegeben.

Vielen Dank für die ausführlichen Antworten.

Bibliographie (nur Romane)

Beutezeit (Off Season, 1980; 1999 ungekürzt als “Off Season: The Unexpurgated Edition”)

Hide and Seek (1984)

Cover (1987)

She Wakes (1989)

Evil (The Girl Next Door, 1989)

Beutegier (Offspring, 1991 – angekündigt für Juni 2009)

Amokjagd (Joyride; auch Road Kill, 1994)

Stranglehold; auch Only Child (1995)

Blutrot (Red, 1995)

Ladies‘ Night (1997)

The Lost (2001)

The Crossings (2004)

Old Flames (2008)

Verfilmungen

Jack Ketchum’s The Lost – Teenage Serial Killer (The Lost, USA 2005, Regie/Drehbuch: Chris Sivertson)

Jack Ketchum’s Evil (The Girl Next Door, USA 2007, Regie: Gregory Wilson, Drehbuch: Daniel Farrands, Philip Nutman)

Red (Red, USA 2008, Regie: Trygve Allister Diesen, Lucky McKee, Drehbuch: Stephen Susco)

Offspring (USA 2010, Regie: Andrew van den Houten, Drehbuch: Jack Ketchum – derzeit Postproduktion)

Hinweise

Homepage von Jack Ketchum

Fantastic Fiction über Jack Ketchum (Bibliographie mit den Kurzgeschichten)

Meine Besprechung von „Blutrot“ und „Amokjagd“ (mit weiteren Links)