Die Legende geht so: In den frühen siebziger Jahren verbringt Colin Dexter einen Familienurlaub in Wales. Es regnet ununterbrochen. Er schreibt zwei Kriminalgeschichten, die ihn nicht überzeugen. Er meint, er könne es besser. Er schreibt „Der letzte Bus nach Woodstock“ (Last Bus to Woodstock) mit Inspector Morse als Ermittler. Der Roman wird 1975 veröffentlicht und ist ein Erfolg.
Bis zu seinem Tod schreibt Colin Dexter (29. September 1930 in Stamford, England – 21. März 2017 in Oxford, England) zwölf weitere Morse-Kriminalromane und einige Kurzgeschichten. Einige mit, einige ohne Inspector Morse.
Der von Dexter erfundene Inspector Endeavour Morse ist einer der großen Ermittler der Kriminalliteratur. Sein Vorname wird erst in „ Der Tod ist mein Nachbar“ (Death is now my Neighbor, 1997) enthüllt. Bis dahin ist sein Vorname wahlweise ‚Inspector‘ oder ‚Morse‘. Bei Morse fällt vor allem seine Normalität auf. Morse ist angenehm unbelastet von privaten und psychischen Problemen. Er hat kein nennenswertes, die Ermittlungen störendes Privatleben. Er ist überzeugter Single. Er liebt Kreuzworträtsel, klassische Musik, ist gebildet und ein leidenschaftlicher Biertrinker. Das sind letztendlich nette Marotten, die beim Leser schnell ein Gefühl von Vertrautheit vermitteln und nicht weiter von dem Rätselplot ablenken. Denn die Morse-Krimis sind traditionsbewusste Rätselkrimis, die wohlige Erinnerungen an die Vergangenheit heraufbeschwören als es noch kein Internet, keine Mobiltelefone, keine DNA-Analyse und keine Videokameras an jeder Ecke gab.
So geht es in seinem jüngst vom Unionsverlag wiederveröffentlichen Morse-Krimis „Der Weg durch Wytham Woods“ (The Way through the Woods, 1992) um eine vor einem Jahr spurlos verschwundene schwedische Studentin. Während der Ermittlungen stößt Morse auf eine Gruppe von Männern, die in ihrer Freizeit gerne freizügige Aufnahmen von jungen Frauen machen und, wenn die Dame aufgeschlossen ist, auch einen Schritt weitergehen.
Dieser Sexkreis erinnert dann doch weniger an die frühen neunziger Jahre, in denen der Roman spielt, sondern an die siebziger Jahre, als die sexuelle Befreiung auch auf dem Land praktiziert wurde und die Kinos mit erotischen Filmen und Pornos überschwemmt wurden „Deep Throat“ wurde sogar zu einem Must-see-Film.
Das, vor allem die Heimlichtuerei und die Schuldgefühle der Männer, wirkte vor knapp dreißig Jahren vielleicht etwas altmodisch. Heute, wo wir den direkten Vergleich zu den damaligen Bestellern (wie „Das Schweigen der Lämmer“ und dem ganzen Serienkillergedöns), nicht mehr haben, liest sich auch dieser Morse-Krimi angenehm nostalgisch. Er ist, wie die anderen Morse-Krimis, gut geschrieben, gut geplottet und mit einem vertrackten Rätsel im Mittelpunkt. Auch wenn man in „Der Weg durch Wytham Woods“ die Zusammenhänge rasch erahnt.
Heute zählt der Roman zu den besten Morse-Krimis. Unter anderem in der „Good Reading Guide to Crime Fiction“ und der „The Rough Guide to Crime Fiction“ wird er als bester Morse-Krimi genannt. Er wurde von der CWA mit dem „Gold Dagger“ ausgezeichnet. In der „Rough Guide to Crime Fiction“ wird außerdem John Maddens Verfilmung für die „Inspector Morse“-TV-Serie gelobt.
Dexters Romane waren in England die Grundlage für die dort sehr erfolgreiche Krimiserie „Inspektor Morse, Mordkommission Oxford“ (Inspector Morse). John Thaw spielte Morse. Regisseure waren Peter Hammond, Jack Gold, John Madden, Danny Boyle und Antonia Bird. Anthony Minghella gehörte zu den Drehbuchautoren. Die Serie entstand von 1987 bis 2000. In Deutschland ist sie fast unbekannt.
Später entstanden die Spin-Offs „Lewis – Der Oxford-Krimi“ (mit dem aus der „Inspektor Morse“-Serie vertrauten Kevin Whately als Lewis) und „Der junge Inspektor Morse“ (gespielt von Shaun Evans).Und Colin Dexter hatte auch in ihnen zahlreiche Cameo-Auftritte.
Alles Gute zum Geburtstag, Colin Dexter! (wenn auch posthum, aber dafür vom Herzen kommend)
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Colin Dexter: Der Wolvercote-Dorn
(übersetzt von Ute Tanner)
Unionsverlag, 2020
288 Seiten
12,95 Euro
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Originalausgabe
The Jewel that was ours
Macmillan, London 1991
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Deutsche Erstausgabe
Tod für Don Juan
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek, 1992
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Colin Dexter: Der Weg durch Wytham Woods
(übersetzt von Karin Pelz)
Unionsverlag, 2020
352 Seiten
12,95 Euro
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Originalausgabe
The Way through the Woods
Macmillan, London 1992
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Deutsche Erstausgabe
Finstere Gründe
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1992
Die Inspector-Morse-Romane
Last Bus to Woodstock, 1975 (Der letzte Bus nach Woodstock)
Last seen wearing, 1976 (… wurde sie zuletzt gesehen; Zuletzt gesehen in Kidlington)
The silent World of Nicholas Quinn, 1977 (Die schweigende Welt des Nicholas Quinn)
Service of Aal the Dead, 1979 (Eine Messe für all die Toten)
The Dead of Jericho, 1981 (Die Toten von Jericho)
The Riddle of the Third Mile, 1983 (Das Rätsel der dritten Meile)
The Secret of Annexe 3, 1986 (Hüte dich vor Maskeraden; Das Geheimnis von Zimmer 3)
The Wench is dead, 1989 (Mord am Oxford-Kanal; Gott sei ihrer Seele gnädig)
The Jewel that was ours, 1991 ( Tod für Don Juan; Der Wolvercote-Dorn)
The Way through the Woods, 1992 (Finstere Gründe; Der Weg durch Wytham Woods)
The Daughter of Cain, 1994 (Die Leiche am Fluss; Die Töchter von Kain – Neuausgabe für Februar 2021 angekündigt)
Death is now my Neighbour,1996 (Der Tod ist mein Nachbar – Neuausgabe für Februar 2021 angekündigt)
The remorseful Day, 1999 (Und kurz ist unser Leben; Der letzte Tag – Neuausgabe für Juli 2021 angekündigt)
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zusätzlich und um die Liste komplett zu machen, erscheint im Juli 2021 im Unionsverlag
Ihr Fall, Inspector Morse (6 Kurzgeschichten – angekündigt für Juli 2021)
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Hinweise
Unionsverlag über Colin Dexter
Wikipedia über Colin Dexter (deutsch, englisch)
Meine Besprechung von „Lewis – Der Oxford Krimi: Staffel 6“
Meine Besprechung von „Lewis – Der Oxford Krimi: Collector’s Box 1“
Meine Besprechung von „Lewis – Der Oxford Krimi: Gesamt Box“
Meine Besprechung von „Inspector Morse: Staffel 1“
Meine Besprechung von Colin Dexters „Gott sei ihrer Seele gnädig“ (The Wench Is dead, 1989)