„Boah, was war das?“ fragte ich mich am Ende von William Gibsons neuem Roman „Systemneustart“. Das soll das neue Werk des Mannes sein, der in den Achtzigern, neben Bruce Sterling, die Stimme des Cyberpunk war und als Science-Fiction-Autor eine Utopie von einem virtuellem Raum, dem Cyberspace, entwarf, die, knapp gesagt, das heutige Internet in all seinen Schattierungen ist. Vor allem die Neuromancer-Trilogie, aber auch die Idoru-Trilogie (die jetzt gesammelt als Taschenbuch erschien), sind zu recht Kultromane für die Science-Fiction-Gemeinde und die Internet-Geeks. Vor knapp zehn Jahren wandte Gibson sich der Gegenwart zu. Immerhin wurden seine Zukunftsvorstellungen ja langsam Realität.
Auch „Systemneustart“ spielt in der Gegenwart und es treten bekannte Charaktere aus seinen beiden vorherigen Romanen „Mustererkennung“ und „Quellcode“ auf. Und es geht wieder um die Welt der Werbung und der Waren.
Hollis Henry soll im Auftrag von Bigend herausfinden, wer der Designer hinter dem Modelabel Gabriel Hounds ist. Denn diese Kleider werden nur an halbseidenen Orten an ausgewählte Kunden verkauft. Es gibt auch keine Werbung dafür. Milgrim, der das vergangene Jahrzehnt in der Drogenrehabilitation verbrachte und einen Blick für Details hat, soll ihr helfen.
Schon diese Prämisse ist etwas haarig. Denn um das Modelabel wird ein Bohei gemacht, als ob es sich um eine Lieferung von illegalen Drogen oder Waffen handelt und der Verkauf von Klamotten ein Kapitalverbrechen ist. Denn es geht in „Systemneustart“ nicht um Industriespionage (was ja bedeuten würde, dass Konkurrenten um einen Markt kämpfen und sich einen Vorteil verschaffen wollen), sondern einfach nur darum herauszufinden, wer die Klamotten entwirft und das ist etwa so gefährlich wie eine Recherche in der städtischen Bibliothek. Aber Gibson inszeniert diese Suche, als ob es um das Ei des Kolumbus oder die drohende Vernichtung der Erde geht; – was dann doch etwas übertrieben-hysterisch wirkt. Jedenfalls für einen Roman, der sich nicht als Komödie oder Satire versteht. Humor ist sowieso in „Systemneustart“ Mangelware.
Stattdessen bewegen sich die blassen Charaktere mit großem Ernst von einem Ort an einen anderen Ort (immer in dieser Welt, nie in den tiefen des Cyberspace) und gefallen sich in ihrer Paranoia. Dafür verfremdet Gibson die Gegenwart bis zum Gehtnichtmehr und, während er mit seinen Cyberpunk-Romanen eine faszinierende, sich aus der Gegenwart speisende Utopie entwarft, hat er in „Systemneustart“ nichts zur Gegenwart und auch nichts zur Zukunft zu sagen.
Bis zum Ende bleibt vollkommen unklar, worum es überhaupt geht (Gabriel Hounds? Militärkleidung? Etwas anderes?) und, damit verbunden, was auf dem Spiel steht. Aber wenn unklar ist, worum es geht, ist einem auch die Geschichte egal.
Auch nachdem einer von Bigends Mitarbeitern entführt wird, wird es nicht klarer und, was beim Benutzen eines so altbewährten Erzählkniffs eigentlich ein Kunststück ist, auch nicht spannender. Es gibt sogar, kurz vor dem Geiselaustausch auf Seite 452 einen absurden Dialog zwischen einigen Hauptcharakteren, der das Dilemma des Buches ziemlich gut zusammenfasst:
„Verstehst du, was er da treibt?“
„Nein, aber es ist kompliziert.“
(…)
„Sie wollen, dass er für Milgrim gehalten wird.“
„Das weiß ich! Aber warum?“
„Jemand hat Bigends Starinformatiker entführt. Die verlangen, dass wir ihnen im Tausch Milgrim ausliefern.“
„Warum denn das?“
„Genau genommen“, sagte Hollis, „hat es wohl etwas damit zu tun, dass du dem Kerl, der euch verfolgt hat, einen Pfeil an den Kopf geworfen hast.“
Und auch wir Leser sind keinen Deut schlauer als Hollis. Außerdem ist uns reichlich egal, ob die Befreiungsaktion à la Schlechte-A-Team-Kopie gelingt oder schiefgeht. Deutlicher kann man wohl das Scheitern eines Romans nicht formulieren. Der Roman ist ein, auf gut fünfhundert, engbebruckte Seiten ausgewalzter literarischer Leerlauf von einem Mann, der das Genre revolutionierte.
„Systemneustart“ liest sich als ob man ein Spiel von Freizeitsoldaten beobachtet, ohne die Regeln zu kennen und die Freizeitsoldaten auch nur gegen imaginäre Gegner kämpfen. Dagegen ist das Beobachten von trocknender Farbe eine hochspannende Angelegenheit.
William Gibson: Systemneustart
(übersetzt von Hannes und Sara Riffel)
Tropen, 2011
496 Seiten
24,95 Euro
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Originalausgabe
zero history
G. P. Putnam’s Sons, New York 2010
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William Gibson: Die Idoru-Trilogie (Virtuelles Licht, Idoru, Futuremantic)
(überarbeitete Neuausgabe)
(übersetzt von Peter Robert)
Heyne, 2011
1056 Seiten
13,99 Euro
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Die Werke von William Gibson
Die Neuromancer-Trilogie
Neuromancer (Newromancer, 1984)
Biochips (Count Zero, 1986)
Mona Lisa Overdrive (Mona Lisa Overdrive, 1988)
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Die Idoru-Trilogie
Virtuelles Licht (Virtual Light, 1993)
Idoru (Idoru, 1996)
Futuremantic (All Tomorrow’s Parties, 1999)
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Die Bigend-Romane
Mustererkennung (Pattern Recognition, 2003)
Quellcode (Spook Country, 2007)
Systemneustart (zero history, 2010)
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Einzelwerke
(mit Bruce Sterling) Die Differenzmaschine (The Difference Engine, 1990)
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Kurzgeschichtensammlung
Vernetzt – Johnny Mnemonic und andere Geschichten (Burning Chrome, 1986)
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Hinweise
Deutsche Homepage von William Gibson
Rolling Stone interviewt William Gibson (2007)
De:Bug Magazin redet mit William Gibson (2008 )
Intor redet auch mit William Gibson (2008 )
The Boston Globe macht „Q&A“ mit William Gibson (2007)
Powells telefoniert mit William Gibson (2007)
Blog zu „Systemneustart“ (studentisches Projekt)
DShed: Lesung und Diskussion mit William Gibsonüber „Systemneustart“ (6. Oktober 2010, 69 Minuten)