Ich liebe bei DVDs die „Geschnittenen Szenen“. Am liebsten sogar mit einem Audiokommentar des Regisseurs oder Produzenten, in dem sie sagen warum eine eigentlich gute Szene doch nicht die letzte Schnittfassung überlebte. Die Macher sagen dann immer wieder, sie hätten die Szene gestrichen, weil sie von der eigentlichen Geschichte ablenkte oder diese nicht voranbrachte oder die Information bereits in einer anderen Szene vermittelt wurde.
Beim Lesen von Marcel Feiges Roman „Wut“ dachte ich immer wieder, wie viele überflüssige Szenen in dem Wälzer sind und ohne Verluste gestrichen werden könnten. Ganze Handlungsstränge bringen die Geschichte nicht voran. So erfahren wir alles Mögliche über einen Boulevardreporter. Aber nichts davon hat etwas mit der Jagd nach dem Mörder zu tun. Das gleiche gilt für Jessy Kalkbrenner; die erwachsene Tochter des Kommissars. Es ist für die Handlung vollkommen egal, dass sich ihre Eltern gerade scheiden lassen, dass sie ihren Vater nie ans Telefon bekommt, dass sie in einer Kneipe jobbt, wie anstrengend die Arbeit ist und dass sie mit ihren Freunden einen Geburtstag feiern will. Nichts davon hat etwas mit der Jagd nach dem Mörder zu tun. Nichts davon verrät uns wirklich etwas über die Charaktere. Diese bleiben letztendlich doch nur die aus dem Fernsehen bekannten Klischeefiguren. Denken Sie nur an die zahlreichen Kinder der „Tatort“-Kommissare die auch in ihren Zwanzigern immer noch aus dem elterlichen Nest wollen. An die Myriaden von TV-Kommissare, die gerne mal einen Sexualverbrecher so richtig hart rannehmen würden, keine Zeit für ihre Familie haben, der beste Ermittler der Stadt sind und suspendiert werden.
Außerdem sind in „Wut“ viele Szenen redundant. Nachdem Kommissar Kalkbrenner bei seinem ersten Auftritt ein Treffen mit seiner Tochter verpasst, wissen wir, dass für ihn der Beruf wichtiger als die Familie ist. Wir müssen das nicht unzählige Male mit kleinen Variationen immer wieder lesen. Ebenso müssen wir nicht zweimal lesen, dass Kalkbrenners demente Mutter wieder in ihre alte Wohnung geht und der Nachmieter ein doofer Stinkstiefel ist. Es bringt die Handlung nicht voran. Es sagt auch in der Wiederholung nicht mehr über den Charakter aus. Dramaturgisch gesehen ist es die gleiche Situation und das gleiche Verhalten. Also überflüssig.
Doch so füllt Feige letztendlich hunderte von Seiten. Dabei bewegt sich sein Hauptplot, die Jagd nach dem Mörder, ohne große Wendungen auf ihr Ziel zu. Dieser Plot verläuft sogar so geradlinig, dass der Klappentext fast alles verrät, weil er nicht anders kann.
Denn vor dem ersten Mord führt Feige Kommissar Paul Kalkbrenner, den Studenten Leif Nehring, Kalkbrenners Tochter Jessica, Kommissar Richard Stäuber und den Boulevardjournalisten Harald Sackowitz ein. Wer davon für die Geschichte wichtig sein wird und wer nicht, ist bis dahin – wenn man den Klappentext nicht kennt – vollkommen unklar. Geübte Krimileser dürften richtig vermuten, dass Kalkbrenner und Nehring die beiden Hauptcharaktere sind. Während Kalkbrenner den Mörder sucht und dabei weitere Leichen im Untergrund von Berlin findet, beginnt Nehring seine Sozialstunden beim Obdachlose e. V. abzuleisten. Er versorgt im Untergrund von Berlin Menschen mit Medikamenten. Als er den Dealer Ramon, dem er seine Strafe zu verdanken hat, sieht, verfolgt er ihn in den Untergrund und beobachtet, wie Ramon von einem Mann erschossen wird. Nehring kann flüchten. Als er später wieder zur Sozialstation geht, wird er bereits von Kalkbrenner erwartet. Bei dem Gespräch verheddert Nehring sich in Widersprüche und – jetzt habe ich ein Problem. Bis jetzt sind zwei Drittel des Romans um. Feige enthüllt bei diesem Gespräch die Identität des Mörders. Im letzten Drittel gibt es dann noch den Mord an einer US-Botschaftsangehörigen, ein Besäufnis, eine Kneipenschlägerei, mehrere Auftritte von anzugtragenden Bösewichtern und schließlich ein weiteres Treffen zwischen Kalkbrenner und Nehring, die nur gemeinsam die Mordserie stoppen können.
Letztendlich liest sich „Wut“ wie die Vorlage für den gähnend langweiligen „Großen Fernsehfilm der Woche“. Nie wird das Verhältnis von Haupt- und Nebengeschichten in ein sinnvolles Verhältnis gesetzt. Nie wird deutlich, wer die Hauptcharaktere und wer die Nebencharaktere sind und welche Bedeutung sie für die Geschichte haben. Alles ist in dem fast fünfhundertseitigen Werk irgendwie gleich wichtig. Früher hätte ein Pulpautor auf zweihundert Seiten die gleiche Geschichte mit zwei, drei weiteren Twists und einem weniger vorhersehbarem, gemeinerem Ende erzählt. Das wäre dann ein spannender Thriller und ein düsteres Großstadtporträt geworden.
Marcel Feige: Wut
Goldmann, 2007
480 Seiten
8,95 Euro
Lesung
Marcel Feige liest aus seinem Thriller „Wut“ am Donnerstag, den 27. September, um 20.30 Uhr in den Räumen der Berliner Unterwelten (Brunnenstraße 108a). Vor der Lesung gibt es eine Führung durch die historische Luftschutzanlage im U-Bahnhof Gesundbrunnen. Der Treffpunkt ist die südliche Vorhalle des U-Bahnhofs Gesundbrunnen (Ausgang Humboldthain/Brunnenstraße).
