Drängender Gedanke beim Lesen: „?“
Fazit, schon während dem Lesen gezogen und durch das Ende bestätigt: „Weiße Nächte“ von Rainer Gross ist weniger als ein Kriminalroman. Es ist eine dieser typischen deutschen Betroffenheitswerke, die es zu einer Tugend erheben, den Leser zu langweilen und die ich normalerweise nach den ersten Seiten entnervt weglege. Denn sie erzählen nach meiner Erfahrung keine Geschichte.
Auch „Weiße Nächte“ erzählt keine Geschichte, sondern reportiert nur, wie ein Uni-Dozent, der von irgendeiner Schuld (oder einem Verlangen) getrieben ist, sich mit seine Motorrad auf den Weg zum Nordkap macht. Bei einer früheren Fahrt dorthin ist irgendetwas geschehen. In seinem Gepäck hat er einen Revolver. Was er damit tun will, wissen wir nicht. Die Studentin Myriel begleitet ihn, weil sie ihren Freund im Norden treffen will. Das ist die schon nicht vielversprechende Ausgangslage. Denn es unklar, was der Protagonist in dieser Geschichte erreichen will.
Auf den folgenden gut zweihundert Seiten erzählt Gross nur, wie sie nach Norden fahren. Besondere Ereignisse gibt es während dieser Fahrt nicht. Es ist einfach nur eine ganz normale Motorradfahrt von zwei Menschen, die nichts füreinander empfinden und zufällig den gleichen Weg zurücklegen. Später erfahren wir – und der Klappentext verrät es auch fast (was allerdings nur bei einem Kriminalroman ein Problem wäre) -, dass bei einer früheren Fahrt er mit seiner Freundin Vera und seinem Freund Jan unterwegs war. Damals entwickelte Vera Gefühle für Jan (Es ist auch möglich, dass sie sich in Jan verliebte; dass der Erzähler sich das einbildete; oder dass die Beziehung einfach zu Ende war). Auf einer Klippe kam es zu einem Streit und Jan stürzte hinunter. Ob es ein Unfall oder ein gezielter Stoß des Erzählers war, bleibt unklar. Jedenfalls fuhren Vera und der Erzähler wieder zurück. Sie wurde kurz darauf schwanger, trieb ab und brachte sich um. Er wurde Dozent und will jetzt mit seiner Vergangenheit ins Reine kommen indem er sich, wie wir jetzt erfahren, erschießt (Fragen Sie nicht warum. Es ist einfach so.). Weil im entscheidenden Moment sein Motorrad umfällt, misslingt sein Selbstmordversuch. Er beschließt zurückzufahren.
Das ist alles und für eine Kurzgeschichte wäre die Szene an der Klippe mit dem Selbstmordversuch auch ausreichend.
Für einen Roman ist das allerdings zu wenig. In „Weiße Nächte“ fehlt alles, was zu einer packenden Geschichte gehört. Der Protagonist hat kein klar definiertes Ziel. Es gibt keine Konflikte. Die Reise verläuft problemlos. Seine Reisegefährtin ist ihm herzlich egal – und damit für die Fahrt dramaturgisch überflüssig. Er brütet allein vor sich hin – und teilt seine Gedanken niemandem mit. Wir wissen also bis zu der Szene auf der Klippe nicht, was er warum tun will.
Doch wenn ich als Leser nicht weiß, was der Protagonist erreichen will, ist mir sein Schicksal (und damit dann auch die ganze Geschichte) herzlich egal. Deshalb enttäuschte mich, nach dem vielversprechenden, mit dem Debüt-Glauser ausgezeichneten „Grafeneck“, der zweite Roman von Rainer Gross auf ganzer Linie.
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Rainer Gross: Weiße Nächte
Pendragon, 2008
200 Seiten
9,90 Euro
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Hinweise
Meine Besprechung von seinem Debüt „Grafeneck“

[…] was warum nicht funktioniert und wie ich es besser machen würde. Auch das gestern besprochene Buch „Weiße Nächte“ von Rainer Gross funktioniert nicht und ich fragte […]