Eine Nacht mit dem October Boy

Halloween, 1963, ein kleines Kaff im Nirgendwo des Mittleren Westens: jedes Jahr gibt es dort ein seltsam-archaisches Ritual. Die männlichen Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren werden fünf Tage eingesperrt und hungern gelassen. Dann, an Halloween, müssen sie den October Boy, eine mit Süßigkeiten behängte Vogelscheuche, jagen. Wer ihn tötet, bevor dieser um Mitternacht die Kirche erreicht, darf die Stadt verlassen und seine Familie erhält viel Geld. Die anderen Jungs müssen weiterhin in der Stadt bleiben.

Dieses Jahr will Peter McCormick den Lauf gewinnen. Allerdings gerät der Lauf, weil sich keiner mehr an die Spielregeln hält, schnell vollkommen außer Kontrolle.

„Die dunkle Saat“ von Norman Partridge wurde von Publishers Weekly in die Liste der hundert besten Romane des Jahres aufgenommen und erhielt den Bram-Stoker-Preis in der Kategorie „Long Fiction“. Dieser zu Recht erhaltene Preis zeigt, auch wenn der Bram-Stoker-Preis manchmal an Thriller vergeben wird, die Marschrichtung der Geschichte an. Denn obwohl es in „Die dunkle Saat“ etliche Morde gibt, ist die Jagd nach dem October Boy letztendlich ein übernatürliches Ritual, das dafür sorgt, dass auch im kommenden Jahr der Mais geerntet werden kann. Für diese Fruchtbarkeit des Bodens müssen Opfer gebracht werden.

Partridge versucht in seiner Horror-Geschichte überhaupt nicht, das jährliche Erscheinen des October Boys rational zu erklären. Er ist als ein Bote aus vergangenen Zeiten einfach immer schon da. Die Erwachsenen halten sich an die an sein Erscheinen geknüpften Regeln. Die meisten Jungen auch. Nur Peter McCormick und Kelly Haines, die er während des Laufs trifft und entgegen der Regeln mitnimmt, wollen ein neues, freieres Denken. Diese Geschichte erzählt Partridge spannend aus der Sicht eines allwissenden Erzählers.

Gleichzeitig fällt es beim Lesen nicht schwer, politische Botschaften in „Die dunkle Saat“ hinein zu interpretieren. Denn Partridge hat sicher nicht zufällig die Halloweennacht von 1963 gewählt. Wenige Tage später, am 22. November, wurde John F. Kennedy ermordet, am 28. August 1963 hielt Martin Luther King, als Abschluss des Marsches auf Washington, seine berühmte „I have a dream“-Rede, die 1964 zum Civil Rights Act und der erstarkenden Bürgerrechts- und Hippiebewegung führten. Insofern markiert das Jahr 1963 in der amerikanischen Geschichte einen wichtigen Markstein zwischen der heilen und geordneten Welt der Fünfziger und der aufkommenden neuen Freiheit. Dass diese heile Welt in den USA, wie auch in Deutschland, nicht so heil war, zeigt er in „Die dunkle Saat“, selbstverständlich in einer abstrakten Form, sehr nachdrücklich.

Mit 192 großzügig bedruckten Seiten ist „Die dunkle Saat“ eher eine Novelle, die bequem in einem Rutsch gelesen werden kann. Allerdings werden die in ihr aufgeworfenen Fragen zum Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, von Tradition und Erneuerung, einen länger verfolgen.

Norman Partridge: Die dunkle Saat

(übersetzt von Bernhard Kleinschmidt)

Rowohlt, 2008

192 Seiten

8,95 Euro

Originalausgabe

Dark Harvest

St. Martin’s Press, New York, 2007

Hinweise

Homepage von Norman Partridge

Dark Echo: Interview mit Norman Partridge (2001)

One Response to Eine Nacht mit dem October Boy

  1. […] Kurzer, sehr gelungener Horrorroman, der den Bram-Stoker-Award erhielt, über ein jährliches bizarr… […]

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