
Wie sich die Zeiten ändern. Als Michael Molsners „Rote Messe“ 1973 erschien, hatte es vor der Veröffentlichung bereits hinter den Kulissen Ärger gegeben. Molsners ursprünglicher Verlag rororo (mit dem legendären Lektor Richard K. Flesch) wollte das Buch nicht veröffentlichen. Flesch meinte, er werde keinen Roman mit einem Marxisten als Sympathieträger veröffentlichen. Molsner legte den Roman in die Schublade. Später erschien der Roman im S.-Fischer-Verlag und Molsners Schilderung der Provinz als Hort des Reaktionären traf den Nerv der Zeit.
Denn „Rote Messe“ ist ein paradigmatischer Soziokrimi, bei dem die Geschichte hinter der laut in die Welt hinausgebrüllten Botschaft und einigen literarischen Spielereien verschwindet. Die beiden Morde sind nur ein Vehikel für die Gesellschaftsanalyse aus dezidiert linker Perspektive, in der die Provinz als ein Ort voller verkappter Nazis, Rassisten und Anpasser geschildert wird. Damals wurde diese Analyse akzeptiert. Heute ist sie in ihrem einfachen Gut-Böse-Schema ermüdend plakativ.
Die Guten sind der Journalist Jakob Nestor, der bei der bürgerlichen Presse auch aus studentischer Sicht die Wahrheit schreibt, und Hermann Marwitz, der Führer einer Gruppe Studierender, die mit ihren Protestaktionen die Landwirtschaftsmesse in der baden-württembergischen Provinz stören wollen. Kurz vor der Messe wird der italienische Gastarbeiter Bracchi ermordet. Einige Kinder haben den die Stadt beherrschend Unternehmer August Tschaut bei der Tat heimlich beobachtet. Sie schweigen. Die Polizei ermittelt nicht gegen Tschaut.
Während der Messe, die von den Studis mit verschiedenen Aktionen zur titelgebenden „Roten Messe“ umfunktioniert wird, wird die von den Studierenden als Vorbild verehrte Journalistin Hanna Kahmm von einem wütendem Mob ermordet.
Die Bösen sind, nun, der gesamte Rest, aber vor allem die im Ort lebenden Spießer, die Polizei und die örtliche Tageszeitung (stellvertretend für die bürgerlichen Medien), die Nestor nach einem unbotmäßigen Artikel über die Messe nicht weiter beschäftigt.
Einige Wochen nach der Messe wird Nestor von einem befreundeten Polizisten eingeladen, ihn zu der Verhaftung von Bracchis Mörder zu begleiten. In den Stunden vor der Verhaftung liest Nestor eine von Marwitz geschriebene romanhafte Schilderung der Ereignisse der vergangenen Wochen. Diese Schilderung nimmt, mit kurzen Unterbrechungen in denen Nestor zu Wort kommt, den größten Teil des Romans ein.
„Rote Messe“ ist heute nur noch als Sittenbild einer längst vergangenen gesellschaftlichen Stimmung interessant. Es ist ein als Kriminalroman verkleideter Kommentar zur Gesellschaft. Das war das literarische Programm des Soziokrimis: Analyse und Kritik der Gesellschaft mit Hilfe eines populären Genres. Maj Sjöwall und Per Wahlöö hatte es mit der von Band zu Band immer politischer und zynischer werdenden zehnbändigen Polizeiromanserie um Martin Beck vorgemacht.
Aber die Beck-Romane funktionieren, wie die Verfilmung des Romans „Endstation für neun“ als „Massenmord in San Francisco“ zeigt, auch einfach als spannende Krimis. „Rote Messe“ funktioniert dagegen nur als einseitige Gesellschaftsanalyse. Es gibt keine Rätsel. Es gibt keine Ungewissheiten. Es gibt keinen Humor. Es gibt nur die absolute, selbstgerechte Gewissheit der beiden Erzähler Nestor (weniger) und Marwitz (mehr) über die Gesellschaft. „Rote Messe“ ist heute ähnlich verstaubt wie die Pamphlete der Studentenbewegung.
Und deshalb ist Molsners Frühwerk „Rote Messe“ als Bericht aus einer uns heute seltsam fremd erscheinenden Welt eine gute Wahl für die von Frank Göhre herausgegebenen „Kriminellen Sittengeschichte Deutschlands“.
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Michael Molsner: Rote Messe
(mit einem Nachwort von Jürgen Alberts – Band 5 der „Kriminelle Sittengeschichte Deutschlands“)
Edition Köln, 2008
240 Seiten
12,80 Euro
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Originalausgabe
S. Fischer Verlag, 1973
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Hinweise
[…] Meine Besprechung von Michael Molsners „Rote Messe“ […]
[…] Michael Molsner: Rote Messe (1973) […]
[…] Meine Besprechung von Michael Molsners “Rote Messe” (Originalausgabe 1973) […]