Beginnen wir mit dem Positiven: Benjamin Blacks neues Buch „Der Lemur“ ist schnell gelesen.
Es ist mit 160 Seiten sogar zu schnell gelesen, um es halbgelesen wegzulegen.
Danach fragt man sich, warum Black so wenig aus der vielversprechenden Prämisse gemacht hat.
Der Ex-Journalist John Glass soll die Memoiren seines Schwiegervaters William Big Bill Mulholland schreiben. Mulholland ist Multimilliardär und Ex-CIA-Agent. Glass beauftragt Dylan Riley, den titelgebenden „Lemur“, mit Hintergrundrecherchen. Riley findet auch etwas heraus, er will eine hohe Beteiligung am Buchvertrag (Böse Menschen würden von Erpressung reden.) und kurz darauf ist er tot. Ein Schuss ins linke Auge.
Man muss kein Genie sein, um zu vermuten, dass Riley von irgendjemand in Mulhollands Umfeld, der so ein Geheimnis bewahren wollte, umgebracht wurde.
Theoretisch gibt es jetzt eine Unzahl Verdächtiger: Mulholland selbst, seine Familie, seine Geschäftspartner und, selbstverständlich die CIA, der geübte Krimileser und Paranoiker alles zutrauen. Glass selbst glaubt eher, dass Riley ihn wegen seiner außerehelichen Affäre erpressen wollte. Weil sein Schwiegervater Mulholland strenggläubig ist, hätte Riley damit auch ein gutes Mordmotiv. Zum Glück hat er ein bombensicheres Alibi (Womit der tragfähige Plot des unschuldig Verdächtigten, der seine Unschuld beweisen muss, gestorben wäre.).
Glass und Captain Ambrose vom NYPD tappen, trotz der vielen potentiellen Täter, im Dunkeln. Denn Riley ist wahrscheinlich der Rechercheur mit den wenigsten Telefonaten, der saubersten Festplatte und den wenigsten Dokumenten.
Benjamin Black erzählt diese Geschichte, die er als Serial für das New York Times Magazine schrieb, assoziativ und lustlos. Denn der passiv-introvertierte, von Ängsten geplagte Glass sucht nie zielgerichtet den Täter. Er lässt sich von Gefühlen und Vermutungen leiten. Die anderen Charaktere bleiben austauschbar und blass. Sogar die zahlreichen, eher verwirrenden Rückblenden verraten letztendlich erstaunlich wenig über Mulhollands und Glass‘ Vergangenheit, aber John Huston tritt auf.
Auch die auf den ersten Blick vielversprechende CIA-Geschichte wird nicht weiterverfolgt. Am Ende erweist sie sich, wie vieles in „Der Lemur“, als verzichtbarer pseudo-interessanter Farbtupfer in Mulhollands weitgehend im Dunkeln bleibender Biographie.
Insgesamt entsteht beim Lesen von „Der Lemur“ sowieso der Eindruck, dass Black keine Ahnung hatte, was er mit seiner Prämisse anfangen sollte, er aber jede Woche eine Fortsetzung liefern musste und am Ende nach der Methode „Der Gärtner ist der Mörder“ irgendeine Lösung aus dem Hut zauberte.
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Benjamin Black: Der Lemur
(deutsch von Gerlinde Schermer-Rauwolf und Thomas Wollermann)
rororo, 2010
160 Seiten
11 Euro
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Originalausgabe
The Lemur
Picador, New York, 2008
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Hinweise
Wikipedia über Benjamin Black (deutsch, englisch)
Krimi-Couch über Benjamin Black
KiWi: John Banville interviewt Benjamin Black (oder umgekehrt; englisch)
