„Der Flüchtling“, Massimo Carlottos neues Buch, ist ein altes Buch. In seiner Heimat Italien erschien es bereits vor fast zwei Jahrzehnten und es ist auch kein Roman, sondern eine Quasi-Biographie, in der er einige Fragen beantwortet, die ihm damals viele Menschen stellten. Denn Carlotto war damals in Italien und auch in anderen europäischen Ländern (obwohl ich mich jetzt nicht mehr an die damaligen Schlagzeilen und Flugblätter erinnere) eine Berühmtheit. Er geriet am 20. Januar 1976 als linksradikaler Jugendlicher, nachdem er der Polizei einen bestialischen Mord an einer Studentin meldete, in die Mühlen der Justiz und er sollte als Mörder verurteilt werden. Im November 1982 flüchtete er. Zuerst nach Paris. Dann nach Mexiko. Dort wurde er, als er sich einen falschen Pass beschaffen wollte, von der Polizei geschnappt und, auf eigenen Wunsch, im Februar 1985 nach Italien ausgeliefert.
Dabei erfuhr er, dass er gar nicht gesucht wurde, weil die Polizei den Haftbefehl gegen ihn in einer Schublade vergessen hatte. Auch das sich dann bis 1993 anschließende Gerichtsverfahren barg noch mehrere solcher ironischer Momente. Denn letztendlich zog sich sein Verfahren auch deshalb so lange hin, weil sein Fall zwischen zwei Strafprozessordnungen verhandelt wurden und er so zu einem vieldiskutiertem Sonderfall der Rechtsprechung wurde.
Dieses Verfahren und die Anklage werden in „Der Flüchtling“ von Massimo Carlotto nur gestreift und hinterlassen daher beim heutigen Leser einige Fragen, die von der ausführlichen Zeittafel am Buchende gut beantwortet werden.
Denn als Carlotto das Buch kurz nach seinem Freispruch schrieb, war sein Fall und die damit zusammenhängende rechtspolitische Diskussion noch präsent. Darüber musste er keine Worte verlieren. Aber über sein Leben auf der Flucht war nichts bekannt.
Diesem Leben als Flüchtling widmet er in „Der Flüchtling“ die meiste Zeit. Dabei liest sich die Geschichte wie ein langes Interview, bei dem die Fragen fehlen, und der Befragte ausführlich antwortet. Es entsteht ein Bild der achtziger Jahre und der damaligen politischen linken Strömungen, die auch ein Auffang- und Unterstützernetz für die aus verschiedenen Ländern geflohenen Freiheitskämpfer (für die Jüngeren: das waren die guten Terroristen) boten.
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Massimo Carlotto: Der Flüchtling
(übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel)
Tropen, 2010
192 Seiten
18,95 Euro
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Originalausgabe
Il fuggiasco
Edizioni e/o, Rom 1994
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Hinweise

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