DVD-Kritik: Hark Bohms grandioser Jugendfilm „Nordsee ist Mordsee“

Januar 31, 2011

Der letzte deutsche Film, der die Probleme von Jugendlichen halbwegs ernsthaft thematisierte, war Detlev Bucks „Knallhart“. Allerdings überzeugte „Knallhart“ weniger als Jugenddrama, sondern vor allem als Gangster-Ghetto-Drama, das durchaus gelungen amerikanische Vorbilder nach Berlin versetzte. Über das Leben von Jugendlichen erfuhr man dagegen, außer einer Bestätigung der eigenen Vorurteile, nichts.

Dabei waren wir schon einmal weiter.

In den siebziger Jahren drehte Hark Bohm mit seiner Filmfamilie einige Filme für junge Zuschauer, die explizit ihre Sorgen und Sehnsüchte ansprachen und die auch mit den Jugendlichen gemeinsam entwickelt wurden. „Tschetan, der Indianerjunge“, „Nordsee ist Mordsee“, „Moritz, lieber Moritz“ und, nach einigen anderen Filmen, „Yasemin“ hießen sie und, obwohl sie damals für Diskussionen sorgten und auch an der Kinokasse erfolgreich waren, sind sie heute weitgehend vergessen. Denn sie liefen schon seit Ewigkeiten nicht mehr im Fernsehen, im Kino sowieso nicht und es gibt auch bislang keine DVD-Veröffentlichungen (Naja, genaugenommen wurde „Nordsee ist Mordsee“ 2009 in der Spiegel-Edition „Deutscher Film“ veröffentlicht und in der aus fünfzig Filmen bestehenden, limitierten, entsprechend teuren und ausverkauften „Filmverlag der Autoren“-Werkschau wurden „Tschetan, der Indianerjunge“ und „Nordsee ist Mordsee“ veröffentlicht.).

In „Nordsee ist Mordsee“ erzählt Hark Bohm die Geschichte des vierzehnjährigen Uwe Schiedrowsky (Uwe Enkelmann, heute bekannter als Uwe Bohm) und des gleichaltrigen Dschingis Ulanow (Dschingis Bowakow). Sie leben in einem Sozialen Wohnungsbau auf der Elbinsel Hamburg-Wilhelmsburg, damals von den Bewohnern auch Niggertown genannt und ein Paradies für Sozialarbeiter und Stadtplaner.

Uwe wird von seinem Vater Walter Schiedrowsky (Marquard Bohm, der Bruder von Hark Bohm), einem Barkassenschiffer, der ein richtiger Seemann werden wollte und der seinen Frust über seinen Job im Alkohol ersäuft, regelmäßig geschlagen. Dafür ist Uwe mit seinem Platzhirschgehabe, das er sich von seinem Vater abgeschaut hat, bei den Gleichaltrigen der unumstrittene Anführer.

Dschingis ist das genaue Gegenteil von Uwe und wird von Uwes Clique als Ausländer gehänselt. In einer abgelegenen Bucht baut er ein Schiff, das, als es von Uwe entdeckt wird, gleich von Uwe und seinen Freunden zerstört wird.

Es kommt zu einem Kampf zwischen Dschingis und Uwe. Dschingis gewinnt und er zwingt Uwe, das Schiff zu reparieren. Danach ist Uwe als Anführer abgesägt. Er versucht mit einem Autodiebstahl wieder deren Respekt zurück zu erobern. Selbstverständlich wird er von der Polizei erwischt und kassiert von seinem Vater erst einmal eine ordentliche Tracht Prügel.

In diesem Moment kann er sich nur an Dschingis wenden, der ihm anbietet, bei ihm zu übernachten. Aber Dschingis‘ Mutter, die in der deutschen Gesellschaft nicht auffallen möchte, lehnt die Bitte von ihrem Sohn ab.

Dschingis und Uwe, die sich jetzt endgültig von den Erwachsenen abgelehnt fühlen, beschließen gemeinsam mit dem von ihnen gebautem Schiff die Elbe hinunter zu fahren. Doch schon nach wenigen Metern, im Hamburger Hafen, zwischen all den großen Schiffen, merken sie, dass sie mit ihrem Kahn nicht weit kommen werden. Sie klauen ein kleines Segelboot und machen sich auf dem Weg zur Nordsee.

Als „Nordsee ist Mordsee“ 1976 in die Kinos kam war der Film ein Hit.

Gleichzeitig gab es mächtigen Ärger wegen der Freigabe. Denn die Freiwillige Selbstkontrolle (FSK) gab dem Film zuerst eine „ab 16 Jahre“-Freigabe und begründete dies mit den möglichen negativen Auswirkungen auf unter Sechzehnjährige und warnte vor Nachahmungseffekten. Hark Bohm klagte dagegen, weil er wollte, dass die Jugendlichen, für die er den Film gemacht hatte, sich den Film ansehen können. Ihm schwebte eine „ab 6 Jahre“-Freigabe vor. Diese Streit wurde von zahlreichen Zeitungsartikeln und einer entsprechend breiten Debatte über die Freigabepolitik, die Aufgabe der FSK und die Wirkung von Filmen („Wenn ein Film so einfach wirken würde, dann hätte ‚Es herrscht Ruhe im Land‘ in der Bundesrepublik eine Revolution auslösen müssen.“ [Hark Bohm]) begleitet. Letztendlich ging es um die auch heute noch bei der Freigabe von Filmen aktuellen Fragen, inwiefern mit den Freigaben auch erzieherische Aussagen verknüpft sind oder sollten und wie sehr die Freigabe eines Filmes teilweise sogar erwachsene Zuschauer vor möglichen negativen Auswirkungen beschützen soll.

Letztendlich wurde „Nordsee ist Mordsee“ am 13. Mai 1976 im Rechtsausschuss (der höchsten Berufungsinstanz der FSK) „ab 12 Jahre“ freigegeben. Diese Freigabe hat der Film heute immer noch und deshalb kann „Nordsee ist Mordsee“ im Fernsehen, ohne Ausnahmegenehmigung, nicht vor 20.00 Uhr gezeigt werden.

Dabei ist „Nordsee ist Mordsee“ trotz kleiner Schwächen in der Geschichte und dem Schauspiel (Hey, es sind Jugendliche und einige Laienschauspieler) immer noch ein überzeugender Film, der die Jugendlichen, ihre Sorgen und Nöte und die Zwänge in denen sie und ihre Eltern leben, ernst nimmt. Denn Hark Bohm lebte vor den Dreharbeiten zur Recherche drei Monate in Hamburg-Wilhelmsburg und erarbeitete das Drehbuch mit seinen Darstellern. So floss in die von Uwe Enkelmann und Dschingis Bowakow gespielten Charaktere viel von ihrer eigenen Geschichte ein und genau diese in jeder Sekunde spürbare dokumentarische Qualität gibt „Nordsee ist Mordsee“ seine Kraft.

Nordsee ist Mordsee“ lohnt wirklich eine Wiederentdeckung.

Nordsee ist Mordsee (D 1976)

Regie: Hark Bohm

Drehbuch: Hark Bohm

mit Uwe Enkelmann, Dschingis Bowakow, Marquard Bohm, Herma Koehn, Katja Bowakow, Günter Lohmann, Corinna Schmidt, Ingrid Boje, Gerhard Stöhr, Rolf Becker

DVD

Arthaus/Kinowelt

Bild: 1,66:1 (anamorph)

Ton: Deutsch (Mono Dolby Digital)

Untertitel: –

Bonusmaterial: Trailer, Fotogalerie, Presseheft, Wendecover

Länge: 82 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Wikipedia über „Nordsee ist Mordsee“

Die Zeit: Hans C. Blumenberg über „Nordsee ist Mordsee“ (30. April 1976)

 


TV-Tipp für den 31. Januar: Cocktail für eine Leiche

Januar 31, 2011

Arte, 20.15

Cocktail für eine Leiche (USA 1948, R.: Alfred Hitchcock)

Drehbuch: Arthur Laurents, Hume Cronyn

LV: Patrick Hamilton: The Rope, Rope’s End, 1929 (Theaterstück)

Zwei Studenten bringen, um ihre Überlegenheit zu demonstrieren, einen Mitstudenten um und feiern eine Party – mit dem Toten in einer für alle sichtbaren Truhe.

Hamiltons Stück basiert locker auf dem Fall Leopold/Loeb, bei dem 1924 zwei Studenten grundlos einen Mitstudenten umbrachten. Hitchcock faszinierte neben der moralischen Frage bei „Cocktail für eine Leiche“ ein technischer Aspekt: er drehte den Film in Echtzeit (von 19.30 Uhr bis 21.15 Uhr; beim Essen wird etwas geschummelt) ohne einen sichtbaren Schnitt. Das gelang Hitchcock, indem er immer am Ende einer Filmspule auf einen Gegenstand (wie die Truhe oder ein Jackett) fuhr und bei der nächsten Spule genau dort fortfuhr. In den dazwischen liegenden zehn Minuten gibt es nie einen Schnitt. Die Schauspieler mussten ihre Texte genau kennen, die Kamera bewegte sich durch den Raum und Gegenstände wurden hin und her bewegt. Und im Hintergrund verdunkelte sich die Skyline.

Damals wurde das Experiment verrissen und auch Hitchcock sagte später, die Idee sei idiotisch und gegen alle seine Prinzipien. Heute genießen wir den Film einfach als verdammt gute Verfilmung eines Theaterstücks mit guten Schauspielern, die gute Dialoge sprechen dürfen.

Mit James Stewart, John Dall, Farley Granger, Sir Cedric Hardwicke

Wiederholung: Mittwoch, 2. Februar, 14.45 Uhr

Hinweise

Wikipedia über Alfred Hitchcock (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von „Alfred Hitchcock präsentiert – Teil 1“

Meine Besprechung von „Alfred Hitchcock präsentiert – Teil 2“

Meine Besprechung von „Alfred Hitchcock zeigt – Teil 1“

Meine Besprechung von „Alfred Hitchcock zeigt – Teil 2

Meine Besprechung von Thily Wydras “Alfred Hitchcock”

Alfred Hitchcock in der Kriminalakte

Senses of Cinema (Ken Mogg) über Alfred Hitchcock

Francois Truffaut redet mit Alfred Hitchcock über „Rope“