Als Stefan Kiesbye auf der Leipziger Buchmesse ein Kapitel aus seinem neuesten Buch „Hemmersmoor“ vorlas, bemerkte ich, dass es nicht so schlecht ist. Jedenfalls wenn man das Buch nicht kennt.
Kiesbye las vor, wie einige Kinder einen achtjährigen Freund in den Tod treiben, indem sie ihn im Eiswasser nach einer Axt tauchen lassen.
Dieses Ereignis wird auf den Seiten 78 bis 85 erzählt.
Davor ist bereits einiges geschehen: Zugezogene wurden gelyncht, ein siebenjähriger Junge brachte seine Schwester um, eine andere Frau wurde in den Tod getrieben und ein Vater schwängerte seine Tochter.
Also schon mehr als genug Schandtaten für einen sehr blutigen Thriller.
Danach wird weniger gemordet. Sex und Inzucht sind ja auch ganz nett. Aber man ist schon etwas erstaunt, wenn ein Kapitel ohne eine Leiche endet. Dafür gibt’s dann im nächsten Kapitel gleich neun Babyleichen, die von ihrer Mutter ermordet und vergraben wurden.
Dieses groteske Übermaß an Sex und Gewalt, das Sodom und Gomorrha zu einem idyllischen Ort macht, langweilt allerdings schnell und raubt dem episodischem Buch jede Glaubwürdigkeit. Denn das alles soll sich innerhalb weniger Jahre in den späten Fünfzigern, frühen Sechzigern in einem kleinen Dorf in Norddeutschland ereignen. Und jedes Ereignis steht seltsam isoliert neben dem anderen. Denn Kiesbyes Schauerroman „Hemmersmoor“ kann am besten als eine Serie von Kurzgeschichten, bei denen zwar die gleichen Charaktere auftreten und die alle an dem gleichen Ort spielen, aber die sonst nichts miteinander zu tun haben, beschrieben werden.
Auch der Kniff, die einzelnen Geschichten von vier verschiedenen Charakteren, die meistens auch Täter sind, erzählen zu lassen, nutzt sich schnell ab und zeigt eher die Grenzen des Erzählers auf. In den ersten Geschichten sind Kiesbyes Ich-Erzähler sieben Jahre alt; am Ende des Buches stehen sie kurz vor ihrem Schulabschluss. Denn sie sprechen alle mit der distanzierten Stimme des Erzählers Stefan Kiesbye, die den gewollten (?) Eindruck hinterlässt, dass die Kinder absolute Psychopathen sind und weder als Kind noch als Erwachsene irgendeine Spur von Reue empfinden.
Diese distanzierte Sprache kennen wir bereits aus Stefan Kiesbyes hochgelobtem Debüt „Nebenan ein Mädchen“. In dem dünnen Buch (eher eine lange Kurzgeschichte oder eine Novelle) erzählt Moritz von seiner beginnenden Pubertät in einem kleinen Ort in den sehr späten Siebzigern im norddeutschen Wedersen. Dort bekämpfen sich zwei Jugendcliquen: die Dachse und die Füchse. Die Dachse entdecken einen Bunker, sie stellen Frauen nach, sie entdecken ein Findelkind und irgendwann geschieht ein Mord.
„Nebenan ein Mädchen“ ist, wie „Hemmersmoor“, das in einem geographischem und zeitlosem Nirgendwo angesiedelte, exemplarisch gemeinte Porträt einer deutschen Kleinstadt und dem Dorfleben, das dank einiger wohlplatzierter Hinweise auf Bands und Bücher (Hach, Kate Bush und Barclay James Harvest. Huch, Fanny Hill und Casanova.), aber nicht auf Filme und TV-Sendungen, einige nostalgische Erinnerungen wecken kann (wobei die einen dann an die Pink-Floyd-LPs mit Syd Barrett, die anderen an die Pink-Floyd-LPs ohne Syd Barrett denken. Einige werden „Wish you were here“, andere werden „The Wall“ hören.). Aber gleichzeitig berührt einen die Erzählung mit ihren vielen knappen Szenen und spartanischen Beschreibungen nicht. Denn während die Gewalt anfangs noch nachvollziehbar ist und durchaus in einem eher zufälligem Totschlag enden könnte (was zu einer Jugendstrafe führen würde), kommt der von Moritz und seinen Freunden geplante Mord ziemlich unvermittelt. Ebenso ist ihr Verhalten zu einem Findelkind in dieser Mischung aus emotionslosem Forscherblick, falscher Zuneigung und Verschwiegenheit kaum nachvollziehbar. Und dann gibt es – immerhin stehen pubertierende Jungs im Mittelpunkt – den ersten Sex.
Während „Nebenan ein Mädchen“ noch als Talentprobe durchgehen konnte, liest sich Stefan Kiesbyes zweiter Roman „Hemmersmoor“ wie ein ganz schlechtes Stephen-King-Best-of („Hey, lass uns einfach nur die Horrorszenen aneinanderklatschen.“) oder „Tannöd“ auf Acid.
Stefan Kiesbye: Hemmersmoor
Tropen, 2011
208 Seiten
17,95 Euro
–
Stefan Kiesbye: Nebenan ein Mädchen
(übersetzt von Stefan Kiesbye)
Heyne, 2010
208 Seiten
7,95 Euro
–
Deutsche Erstausgabe
Jens Seeling Verlag, 2008
–
Originalausgabe
Next door lived a girl
Low Fidelity Press, New York 2004
–
Hinweise
Klett-Cotta Verlagsblog: Interview mit Stefan Kiesbye (21. März 2011)
Börsenblatt: Interview mit Stefan Kiesbye (16. Juli 2009)
Bonusmaterial

