Eine „Tödliche Injektion“ von Jim Nisbet

Mai 16, 2011

Dr. Franklin Royce ist in Texas Gefängnisarzt, Alkoholiker und verheiratet. „unglücklich verheiratet“ wäre ein Euphemismus für den Zustand seiner Ehe und das erklärt vielleicht auch, weshalb er dem zum Tode verurteiltem Afroamerikaner Bobby Mencken zuhört, als dieser vor seinem Tod seine Unschuld beteuert. Danach setzt Royce ihm die Giftspritze und er darf das Geld für seine erste Hinrichtung einstreichen.

Aber das Gewissen lässt ihn nicht los und er beginnt in Menckens Leben im Armenviertel von Dallas herumzustöbern. Er trifft auf dessen Freundin, die drogensüchtige Prostituierte Colleen Valdez und Menckens Freund Fast Eddie, die wissen, was damals geschah. Royce verliebt sich in Colleen, bleibt bei den beiden, driftet immer mehr in deren kleinkriminelles Leben und wird vom Beobachter zum Mittäter.

Weil „Tödliche Injektion“ sogar nach Daniel Woodrels strenger Definition, wonach ein Noir schlecht enden müsse, ein Noir ist, ist der selbstverschuldete Weg von Royce in die Hölle klar vorgezeichnet und Jim Nisbet malt ihn aus, als ob Cornell Woolrich eine Auszeit vom Tod genommen hat. Viel schwärzer als „Tödliche Injektion“ kann ein Noir nicht sein.

Gleichzeitig thematisierte Jim Nisbet als einer der ersten Autoren, nachdem die Todesstrafe 1976 in den USA wieder aufgenommen wurde und 1982 in Texas, seitdem der Staat mit den meisten Hinrichtungen, erstmals ein Mann mit einer Giftspritze hingerichtet wurde, die Todesstrafe. Fast klinisch schildert Nisbet auf den ersten Seiten, wie Mencken, der wahrlich nicht als Vorbild taugt, mit einer tödlichen Injektion, die von einem Arzt verabreicht werden muss, hingerichtet wird und die Reaktionen einiger Texaner darauf.

Seitdem Jim Nisbet seinen beunruhigenden Roman schrieb, lief die texanische Hinrichtungsmaschine erst richtig an und es wurde immer offensichtlicher, dass viel zu oft Unschuldige zum Tod verurteilt werden. Insofern ist „Tödliche Injektion“ mit seiner Kritik an der Todesstrafe heute noch aktueller als damals, als nur wenige Menschen hingerichtet wurden.

Und nun zur Frage aller Fragen für die wenigen Menschen, die noch die deutsche Erstausgabe haben: Lohnt sich der Neukauf? Es gibt ein fünfseitiges Vorwort von Sandro Veronesi und eine komplette Neuübersetzung. Wer aber nicht die verschiedenen Übersetzungen vergleichen und beurteilen will, kann auch mit der alten, seit Jahren nur noch antiquarisch erhältlichen Ausgabe leben.

Für alle anderen lohnt sich der Kauf. Denn „Tödliche Injektion“ ist ein fabelhafter Noir, der jetzt hoffentlich die Aufmerksamkeit erhält, die er verdient.

Jim Nisbet: Tödliche Injektion

(neu übersetzt von Angelika Müller)

pulp master, 2011

240 Seiten

12,80 Euro

Deutsche Erstausgabe

Jim Nisbet: Tödliche Injektion

(übersetzt von Gabriele Kunstmann)

Black Lizard, 1989

Originalausgabe

Lethal Injection

Black Lizard Books, 1987

Hinweise

Homepage von Jim Nisbet

Meine Besprechung von Jim Nisbets „Dunkler Gefährte“ (Dark Companion, 2006)

Mein Interview mit Jim Nisbet

Jim Nisbet in der Kriminalakte


TV-Tipp für den 16. Mai: Red Riding: Yorkshire Killer 1974

Mai 16, 2011

HR, 23.30

Red Riding: Yorkshire Killer 1974 (GB 2009, R.: Julian Jarrold)

Drehbuch: Tony Grisoni

LV: David Peace: Nineteen Seventy-Four, 1999 (1974)

Yorkshire, 1974: Der ehrgeizige Lokaljournalist Eddie Dunford recherchiert im Fall eines verschwundenen Mädchens. Er entdeckt Parallelen zu ähnlichen Fällen.

Auftakt der grandiosen, aus drei Filmen bestehenden Verfilmung der Red-Riding-Romane von David Peace. Den zweiten Film, „1980“, zeigt der HR in einer Woche um 23.30 Uhr und den Abschluss, „1983“, gibt es in zwei Wochen um 23.30 Uhr.

Mit Andrew Garfield, Eddie Marsan, John Henshaw, Sean Bean

Hinweise

Meine Besprechung von David Peaces „1974“ (Nineteen Seventy-Four, 1999)

Meine Besprechung von David Peaces „1977“ (Nineteen Seventy-Seven, 2000)

Meine Besprechung von David Peaces „1980“ (Nineteen Eighty, 2001)

Meine Besprechung von David Peaces „1983“ (Nineteen Eighty-Three, 2002)

Meine Besprechung von David Peaces „Tokio im Jahr Null“ (Tokyo Year Zero, 2007)

Meine Besprechung von David Peaces „Tokio, besetzte Stadt“ (Occupied City, 2009)

Meine Besprechung der „Red Riding Trilogy“ (der Verfilmung der entsprechenden Bücher)

David Peace in der Kriminalakte