DVD-Kritik: Der brutale Western „Das Wiegenlied vom Totschlag“

Als „härtester Western der Geschichte“ ging Ralph Nelsons „Das Wiegenlied vom Totschlag“ in die Filmgeschichte ein. Damals konnte und sollte das Massaker am Filmende nur als Allegorie auf das Wüten der amerikanischen Soldaten in Vietnam gesehen werden und, ebenfalls konform zum Zeitgeist, als Abrechnung mit der amerikanischen Geschichte, ihrem Umgang mit den Ureinwohnern und auch, wenn auch in geringerem Umfang, als Verklärung des Lebens der Indianer als edle, friedliebende Wilde in der freien, schönen Natur (Sehen Sie sich nur die ersten Minuten an: während Buffy Sainte-Marie „Soldier Blue“ singt, gibt es atmosphärische Landschaftsbilder und, mit dem Ende des Songs, das Bild von einer Horde verdreckter, müder und schwitzender Soldaten, die ohne Uniform Filmschurken wären).

Heute sind die Vietnam-Referenzen weniger deutlich, aber dafür können wir an Afghanistan denken.

Außerdem fällt aus heutiger Sicht die Umkehrung der traditionellen Geschlechterrollen auf. Candice Bergen („Boston Legal“ für die Jüngeren; die Älteren kennen sie ja noch von früher) spielt Cresta Lee, eine New Yorkerin, die zwei Jahre Gefangene der Cheyenne und auch die Frau des Häuptlings Gefleckter Wolf war, und jetzt wieder zu den Weißen (und ihrem neuen Mann, einem Soldaten) zurückkehren will. Bei einem Überfall auf einen Geldtransporter der US-Army überleben nur sie und Honus Gant (Peter Strauss in seinem zweiten Film und seiner ersten Hauptrolle), ein wahres Greenhorn vor dem Herrn und überheblicher Hasenfuß, der selbstverständlich alles besser weiß, aber in der Wildnis keinen halben Tag überleben würde. Lee kennt sich dagegen in der Wildnis aus und sie übernimmt ohne zu zögern die Initiative. Gant stolpert dagegen von einem Ungeschick ins nächste und er ist extrem schüchtern und verklemmt.

Der gesamte Mittelteil des Films schildert dann die beschwerliche Reise von Cresta Lee und Honus Gant durch die Wildnis zum Lager der Soldaten und wie die beiden sich auf dem Marsch durch die Wildnis näherkommen und – Überraschung! – auch ineinander verlieben.

Das erzählt der TV-Routinier Nelson in seinem bekanntestem Film energisch, ohne Durchhänger und mit einer ordentlichen Portion Humor, der manchmal etwas von einer Screwball-Comedy hat.

Diese vergnügliche Liebesgeschichte hängt aber dramaturgisch in der Luft, weil sie mit dem Massaker am Anfang wenig und dem am Ende nichts zu tun hat. In ihr geht es halt nicht um das Verhältnis von Weißen zu Indianern, sondern von Frauen zu Männern und um die Beziehung von einem Greenhorn zu einer Person, die den Wilden Westen wie ihre Westentasche kennt und das Greenhorn durch die Wildnis schleppen muss. Dass sie außerdem eine Frau ist, steigert nur – zu unserem Vergnügen – die Minderwertigkeitskomplexe des Greenhorns.

In den letzten zwanzig Minuten des Western zeigt Nelson dann seine Version des historisch verbürgten Massakers am Sand Creek, Colorado. Am 29. November 1864 schlachtete eine 700 Mann starke Einheit der US-Kavallerie über 500 Indianer, mehr als die Hälfte Frauen und Kinder, und skalpierte über 100 Männer, die sich vor dem Kampf ergeben hatten, bestialisch ab. Die Bilder von Soldaten, die Frauen vergewaltigen und erschießen, Kinder erschießen, Arme abhacken, Wehrlose köpfen, aufschlitzen, erschießen, pfählen und zum Ausbluten aufhängen, beunruhigen immer noch. Nicht weil sie so drastisch sind. Da haben moderne Horrorfilme mehr zu bieten. Es ist die in den Bildern spürbare Wut, Empörung und Hilflosigkeit über das barbarische Verhalten der Soldaten die wehrlose, friedfertige Menschen töten und die Beiläufigkeit, in der es gezeigt wird. Fast als habe ein Reporter einfach mit seiner Kamera draufgehalten und die besten Bilder ausgewählt. In diesen Minuten ist „Das Wiegenlied vom Totschlag“ gar nicht so weit von damals zeitgenössischen Horrorfilmen, wie „Die Nacht der lebenden Toten“ und „The Texas Chainsaw Massacre“, die ebenfalls Allegorien auf den Vietnam-Krieg sind, Jedes Bild fragt, warum wir die Weißen für die Guten halten sollen.

Allerdings werden die Indianer erst am Ende des Films als hilflose Unschuldslämmer gezeigt. Am Anfang, wenn sie aus heiterem Himmel den gut geschützten Geldtransport überfallen und alle Soldaten töten und skalpieren, sind sie die Bösewichter und man kann die Empörung von Gant über das Ermorden seiner Kompanie verstehen. Dass die Indianer den Transport, wie ihm Cresta Lee erklärt, nur überfallen haben, um sich Geld für Waffen zu besorgen und sie das Skalpieren vom weißen Mann gelernt haben, ist in diesem Moment nur die Behauptung einer Frau, die aus der Sicht von Gant, viel zu lange unter Indianern lebte und eine Verräterin ist. Dennoch sind die Indianer jetzt als Bösewichter eingeführt, gegen die Lee und Gant sich auf ihrem Fußmarsch durch die Wildnis verteidigen müssen.

Und ohne das Massaker am Ende, das wie angeklebt wirkt, um dem Film eine sofort erkennbare gesellschaftspolitische Relevanz zu verschaffen, wäre „Das Wiegenlied vom Totschlag“ nur ein weiterer 08/15-Western. Vergnüglich, unterhaltsam, aber nicht weiter aufregend und wahrscheinlich schon lange ebenso vergessen wie die anderen Filme von Ralph Nelson.

Insofern ist „Das Wiegenlied vom Totschlag“ sehenswert als historisches Dokument, wegen des drastischen Massakers (das, obwohl die Soldaten in Wirklichkeit viel schlimmer gewütet haben sollen, allerdings einen stark spekulativen Charakter hat und sicher haben die Macher beim Dreh auch die Kinokasse im Blick gehabt) und der schön erzählten Liebesgeschichte. Aber „Das Wiegenlied vom Totschlag“ ist kein Klassiker. Dafür klaffen die formale Gestaltung, die erzählte Geschichte, der implizit formulierte Anspruch eine Anklage gegen die US-Regierung zu sein und die Durchführung zu weit auseinander.

Das Wiegenlied vom Totschlag (Soldier Blue, USA 1970)

Regie: Ralph Nelson

Drehbuch: John Gay

LV: Theodore V. Olson: Arrow in the Sun, 1969 (nach dem Filmstart auch als „Soldier Blue“ veröffentlicht)

mit Candice Bergen, Peter Strauss, Jorge Rivero, John Anderson, Donald Pleseance, Dana Elcar

Blu-ray

Kinowelt

Bild: 2,35:1 (1080/24p Full HD)

Ton: Deutsch, Englisch, Italienisch, Spanisch (Mono DTS-HD MA)

Untertitel: Deutsch, Dänisch, Finnisch, Italienisch, Norwegisch, Schwedisch, Spanisch

Bonusmaterial: Wendecover

Länge: 115 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Wikipedia über „Das Wiegenlied vom Totschlag“ (deutsch, englisch)

Cinema Retro über „Das Wiegenlied vom Totschlag“

Ikonen über „Das Wiegenlied vom Totschlag“

Nothing is written mag „Das Wiegenlied vom Totschlag“ überhaupt nicht

DVD Talk: Paul Mavis über „Das Wiegenlied vom Totschlag“

Bonus (das bekanntere Plakat/DVD-Cover)

2 Responses to DVD-Kritik: Der brutale Western „Das Wiegenlied vom Totschlag“

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