Zehn Autoren – Ein Buch – Tausend Seiten

Zu dem von Ed McBain herausgegebenen Sammelband „Die hohe Kunst des Mordens“

Die Idee war einfach und hatte ein nostalgisches Flair. Der Erfinder des 87. Polizeireviers, Ed Mc Bain, begann seine Karriere als Schriftsteller in den Fünfzigern. Damals wurde er, wie viele seiner Kollegen, nach der Zahl der Worte entlohnt und die Geschichten, auch Kurzroman oder Novelette genannt, hatten um die 10.000 Worte. Halt eine Geschichte, die länger als eine Kurzgeschichte ist, aber an einem Abend gelesen werden kann. Ed McBain schrieb mehrere Kollegen an und bat sie um eine Geschichte, die zwischen 10.000 und 40.000 Worten (für die Übersetzung erhöhte sich die Zahl der Worte auf 20.000 bis 60.000) hat. Zehn schrieben eine brandneue Geschichte für „Die hohe Kunst des Mordens“. Das ist der ziemlich falsche deutsche Titel für die im Original 2005 erschienene Sammlung „Transgressions“. Mein Wörterbuch übersetzt es mit „Überschreitung“, „Übertretung (Gesetze etc.)“, „Vergehen/Missetat“ und jede der drei Bedeutungen trifft den Inhalt der Geschichten besser als der deutsche Titel. Denn nicht in jeder Geschichte geschieht ein Mord. Manchmal geschieht zwar ein Mord, aber die Tat ist dann der Kollateralschaden, um etwas anderes zu verbergen. Und dann gibt es noch die Geschichten, in denen es überhaupt keine Leiche gibt.

Die zehn Geschichten sind zwischen 40 (Stephen King) und 160 Seiten (John Farris und Jeffery Deaver) lang. Geschrieben wurden sie von Lawrence Block, Jeffery Deaver, John Farris, Stephen King, Ed McBain, Sharyn McCrumb, Walter Mosley, Joyce Carol Oates, Anne Perry und Donald E. Westlake. Und, was bei diesen Namen offensichtlich ist, der Wälzer ist jeden einzelnen Cent wert.

Um Geld und nicht um Mord geht es bereits in der ersten Geschichte. Sie handelt von der hohen Kunst des Stehlens und Betrügens. Denn „Die Geldmacher“ von Donald E. Westlake ist eine weitere Dortmunder-Geschichte. Vor Jahren hatte Westlake von einem Verbrecher gehört, der Tonnen portugiesischer Scheine fälschte, weil er das Land aufkaufen wollte. Er wurde geschnappt. Als Westlake von McBain gefragt wurde, ob er eine 20.000-Wort-Geschichte schreiben wollte, verarbeitete er diese Geschichte in einer weiteren Dortmunder-Geschichte. Der resozialisierte Kirby Querk schlägt John Dortmunder und seinem Freund Andy Kelp das perfekte Verbrechen vor: Sie sollen in eine einsam gelegene Druckerei, die die Geldscheine für einen südamerikanischen Staat herstellt, einbrechen, Geld drucken und unerkannt verschwinden. Weil Querk in der Druckerei arbeitet, kann er die Papierbestände und das Zählwerk der Druckmaschine manipulieren. Dortmunder und Kelp sind einverstanden. Natürlich geht der Plan von dem einfachen Verbrechen grandios in die Hose.

Die Gaunerkomödie „Die Geldmacher“ ist ein willkommenes Wiedersehen mit Dortmunder und seinen Freunden. Leider wurden die letzten Dortmunder-Romane nicht mehr ins Deutsche übersetzt.

„Der Leichenräuber“ von Sharyn McCrumb spielt im neunzehnten Jahrhundert. Sie erzählt in dem betulichen Erzählduktus der damaligen Zeit die wahre Lebensgeschichte des Leichenräubers Grandison Harris. Er lebt als Sklave um 1850 bei einer Südstaatlerin. Als sie stirbt wird er 1852 für 700 Dollar nach Augusta, Georgia verkauft. Im Institut von Dr. George Newton übernimmt er in der Medizinischen Hochschule zuerst die verschiedensten Aufgaben, bis er zum Leichenräuber wird. Denn damals durften Mediziner keine Obduktionen vornehmen. Aber um mehr über den Verlauf verschiedener Krankheiten zu erfahren und um die angehenden Mediziner zu unterrichten, benötigten sie frische Leichen. Harris besorgt sie ihnen aus der Leichenhalle und vom Friedhof. Er starb 1911 im hohen Alter von über neunzig Jahren. McCrumbs Geschichte endet kurz vor seinem Tod.

„Der Leichenräuber“ ist eine eindrückliche Geschichte von Forscherdrang und dem Leben eines Afroamerikaners im neunzehnten Jahrhundert.

In „Das Maismädchen: Eine Liebesgeschichte“ von Joyce Carol Oates wird ein 16-jähriges, in einer Vorstadt von New York lebendes Mädchen von einer Gruppe Jugendlicher entführt. Die aus Mädchen bestehende Gruppe der Entführer hängt einem obskuren Glauben an das Maismädchen und dessen Opferung an. Oates springt in der vorhersehbaren Geschichte ziemlich unglücklich zwischen der verzweifelten Mutter und den Entführern und zwischen Realität und Traum hin und her.

Auch Walter Mosleys „Archibald Lawless: Freier Anarchist“ kann nicht vollständig überzeugen. Der Journalistik-Student Felix Orlean braucht Geld und nimmt eine Stelle als Schreiber bei Archibald Lawless an. Lawless ist ein merkwürdiger Arbeitgeber, der zu den seltsamsten Zeiten in seinem Büro ist, sich Freier Anarchist nennt, aber auch ein Verbrecher sein könnte und Orlean scheinbar sinnlose Recherche-Aufträge gibt. Orlean weiß nie, was sein Arbeitgeber vorhat und auf welcher Seite des Gesetzes er steht.

„Archibald Lawless: Freier Anarchist“ knüpft natürlich an die Pulp-Tradition an, in der gesetzlose Helden für Gerechtigkeit sorgen und, vor allem, auf jeder Seite etwas passiert. Nur bei Mosley wird dies hier etwas unglücklich mit anarchistischen Botschaften verknüpft, die im Verlauf der Geschichte immer mehr der Deckmantel für schnöde kapitalistische Interessen zu sein scheinen. Aber „Archibald Lawless: Freier Anarchist“ ist, obwohl es bis heute noch keine Folgegeschichte gibt, offensichtlich als der Beginn einer Serie konzipiert. Und als Pulp-Serie kann ich mir das Gespann Lawless/Orlean gut vorstellen.

„Geiseln“ von Anne Perry ist ein kleines Kunstwerk. Auf knapp achtzig Seiten erzählt sie von einer Geiselnahme, entwirft das Soziogramm einer letztendlich zerrütteten Familie und der Emanzipation einer Frau von ihrem Mann. Bridget und Connor O’Malley sind seit 24 Jahren verheiratet. Connor ist ein Hardliner der Protestanten und Zielscheibe der IRA. Auch seine Frau Bridget und ihre Tochter Roisin sollen sich seinen Prinzipien beugen. Jetzt können Bridget und Connor ein gemeinsames Wochenende abseits der Politik in einem einsamen Strandhaus verbringen. Doch schon kurz nach ihrer Ankunft werden sie als Geiseln genommen.

Die im heutigen Irland spielende Geschichte kann auch leicht als eine Allegorie auf die US-amerikanische Außenpolitik nach dem 11. September verstanden werden. Denn Connor O’Malley manövriert sich mit seiner unversöhnlichen Haltung genau in die Schwierigkeiten hinein, in die sich die USA auch hineinmanövrierten.

Die mit vierzig Seiten kürzeste Geschichte des Buches „Nachgelassene Dinge“, von Stephen King, beschäftigt sich explizit mit den Folgen von 9/11 für die Überlebenden. Scott Staley war am 11. September nicht an seinem Arbeitsplatz im World Trade Center. Er überlebte die Katastrophe und zog sich in seine Wohnung zurück. Jetzt tauchen in seiner Wohnung Gegenstände von seinen verstorbenen Kollegen, die sie an ihrem Arbeitsplatz hatten, auf.

Stephen Kings „Nachgelassene Dinge“ ist natürlich kein Krimi. Es ist eine Erzählung über den Umgang mit dem Tod. King meint, es sei wichtig die Erinnerung an die Toten wach zu halten und für die Toten bedeutsame Gegenstände, wie Sonnebrillen, Lucite-Würfel und Furzkissen, helfen uns dabei.

Auch Lawrence Block beschäftigt sich in der Keller-Geschichte „Kellers Umstellung“ mit den Nachwirkungen von 9/11. Denn der Profikiller Keller versucht mit der Wirklichkeit in den USA nach dem Anschlag klarzukommen. Dabei fragt er sich auch, ob er weiterarbeiten soll. Wie Keller dann mit seiner Sinnkrise umgeht, verrät viel über Lawrence Block, der hier wahrscheinlich ohne große Veränderungen, seine eigenen Gedanken über 9/11 niederschrieb. Das erste Mal beschäftigte Block sich in „Small Town“ mit den Auswirkungen des Anschlags auf seine Heimatstadt und die in ihr lebenden Menschen. In „Kellers Umstellung“ stellt er sich die Frage, ob er nach so einem Anschlag einfach so weiterleben kann wie bisher. Keller gibt die amerikanisch-pragmatische Antwort und erschießt sein nächstes Opfer. Und Block schreibt ein weiteres Buch.

„Einfach nur Hass“ ist ein geradliniger Polizeiroman mit den Detektiven des 87. Polizeireviers und die erste Geschichte, die dem deutschen Titel halbwegs gerecht wird. Mit dieser langlebigen Serie begründete Ed McBain den modernen Polizeiroman. In Isola (eigentlich New York) werden mehrere Taxifahrer ermordet. Auf der Windschutzscheibe des Wagens befindet sich immer ein Davidstern. Carella und seine Kollegen glauben, dass der Mörder ein fanatischer Moslem ist.

„Einfach nur Hass“ ist eine dieser sauber geplotteten, gut erzählten Geschichten, die gleichzeitig unterhalten und informieren. Denn Ed McBain streut etliche Informationen über die verschiedenen Religionen, besonders natürlich den Islam, und die Wirkung von religiösem Hass ein. Das ist von der ersten bis zur letzten Zeile spannende und gute Unterhaltungsliteratur.

Das gilt auch für die beiden mit jeweils 160 Seiten längsten Geschichten.

„Die Modelle des Malers“ von John Farris ist ein düsterer Psychothriller. John Ransome ist ein weltbekannter Maler. Immer im Abstand von mehreren Jahren verkauft er einige wenige Bilder von seinem neuesten Modell. Die Kunstwelt feiert ihn für seine lebensechten Zeichnungen. Für die junge Künstlerin Echo Halloran ist das Angebot das neueste, gutbezahlte Modell von John Ransome zu werden der erste Schritt zu einer eigenständigen Karriere als Malerin. Sie begibt sich mit Ransome auf eine monatelange Klausur. Zur gleichen Zeit versucht ihr Freund Peter O’Neill, ein New Yorker Polizist, herauszufinden, was mit den früheren Modellen von John Ransome geschah.

„Auf ewig“ von Jeffery Deaver könnte, wie Mosley „Archibald Lawless“-Geschichte, der Start einer neuen Serie sein. Denn sein Held, Detective Talbot Simms vom Dezernat Wirtschaftskriminalität/Statistischer Dienst, ist mit Leib und Seele Mathematiker. Er glaubt, dass man mit Zahlen und Statistiken die Welt erklären kann. Deshalb wird er auch sofort hellhörig, als in Westbrook, New York, zwei reiche, ältere Ehepaare sich selbst umbringen. Denn seine Statistiken sagen ihm, dass das nicht sein kann. Ein Doppelselbstmord ginge noch als statistischer Ausreiser durch. Aber zwei ist mindestens einer zu viel. Talbot Simms, der bis dahin nur brav die Statistiken erstellte, initiiert seine ersten Ermittlungen.

„Die hohe Kunst des Mordens“ ist das literarische Äquivalent zu einer großen Probierpackung einer Nobelkonfiserie. Oder wie Ed McBain in der Einleitung schreibt: „Die zehn Kurzromane sind so unterschiedlich wie die Männer und Frauen, die sie sich ausgedacht haben, doch sie alle zeigen dieselbe leidenschaftliche Hingabe und dasselbe schriftstellerische Können. Noch mehr als das, man hat das Gefühl, dass die Autoren etwas Neues, Unerwartetes ausprobieren und bereit sind, ihre eigene Überraschung mit uns zu teilen.“

 

Ed McBain (Hrsg.): Die hohe Kunst des Mordens

Goldmann, 2006

1056 Seiten

13 Euro

 

Enthält:

Lawrence Block: Kellers Umstellung (Keller’s adjustment, übersetzt von Stefan Lux)

Jeffery Deaver: Auf ewig (Forever, übersetzt von Hans-Peter Kraft)

John Farris: Die Modelle des Malers (The Ransome women, übersetzt von Peter Beyer)

Stephen King: Nachgelassene Dinge (The things they left behind, übersetzt von Wulf Bergner)

Ed McBain: Einfach nur Hass (Merely hate, übersetzt von Marie-Luise Bezzenberger)

Sharyn McCrumb: Der Leichenräuber (The resurrection man, übersetzt von Peter Beyer)

Walter Mosley: Archibald Lawless: Freier Anarchist (Archibald Lawless, Anarchist at large: Walking the line, übersetzt von Rainer Schmidt)

Joyce Carol Oates: Das Maismädchen: Eine Liebesgeschichte (The corn maiden: A love story, übersetzt von Silvia Morawetz)

Anne Perry: Geiseln (Hostages, übersetzt von Peter Pfaffinger)

Donald E. Westlake: Die Geldmacher (Walking around money, übersetzt von Stefan Lux)

 

Originalausgabe:

Ed McBain (Hrsg.): Transgressions

Forge, 2005

784 Seiten

 

Für die Taschenbuchausgabe wurden die Geschichten auf vier Bücher verteilt (was lesefreundlicher, aber nicht billiger ist):

Transgressions Vol. 1: Lawrence Block, Jeffery Deaver

Transgressions Vol. 2: John Farris, Stephen King

Transgressions Vol. 3: Ed McBain, Walter Mosley, Donald E. Westlake

Transgressions Vol. 4: Sharyn McCrumb, Joyce Carol Oates, Anne Perry

 

 

Weitere Informationen zu den Autoren:

Homepage von Lawrence Block: http://www.lawrenceblock.com/index_flash.htm

Lawrence Block in der Spurensuche:

Besprechung von „Telling Lies for Fun and Profit“ und „Spider, spin me a web: http://www.alligatorpapiere.de/spurensuche-dreissig-zwei.html

Besprechung von „All the Flowers are dying“ (ein Matthew Scudder-Roman): http://www.alligatorpapiere.de/spurensuchefuenf-block.html

Das von mir herausgegebene Werk „Lawrence Block – Werkschau eines New Yorker Autors“: http://www.nordpark-verlag.de/krimikritikfuenf.html

 

Homepage von Jeffery Deaver: http://www.jefferydeaver.com/

 

Homepage von John Farris: http://home.earthlink.net/~blackleatherrequired/home.html

 

Homepage von Stephen King: http://www.stephenking.com/

 

Homepage von Ed McBain: http://www.edmcbain.com/

 

Homepage von Sharyn McCrumb: http://www.sharynmccrumb.com/index.html

 

Homepage von Walter Mosley: http://www.hachettebookgroupusa.com/features/waltermosley/index.html

 

Homepage von Joyce Carol Oates:-

 

Homepage von Anne Perry: http://www.anneperry.net/

 

Homepage von Donald E. Westlake: http://www.donaldwestlake.com/

Donald E. Westlake unter seinem Pseudonym Richard Stark in der Spurensuche:

Besprechung von „Ask the Parrot“: http://www.alligatorpapiere.de/spurensuche-dreissig-sechs.html

Vorstellung der Parker-Serie: http://www.alligatorpapiere.de/spurensuche-dreissig.html

18 Responses to Zehn Autoren – Ein Buch – Tausend Seiten

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  11. […] Ed McBain (Hrsg.): Die hohe Kunst des Mordens, 2006 (Transgressions, 2005) […]

  12. […] Meine Besprechung von Stephen Kings „Nachgelassene Dinge“ (The things they left behind) in Ed Mc… […]

  13. […] Meine Besprechung von Stephen Kings „Nachgelassene Dinge“ (The things they left behind) in Ed Mc… […]

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