Ivo Ritzer sucht das „Fernsehen wider die Tabus“

August 29, 2011

Lange Zeit war das Fernsehen das ungeliebte Schmuddelkind. Dumme Unterhaltung für die Massen, und vom Feuilleton genau deshalb weitgehend ignoriert. Das hat sich in den vergangenen Jahren mit Serien wie den „Sopranos“, „The Wire“, „Sex and the City“, „24“ und den „Desperate Housewives“, geändert. Fernsehen ist jetzt, wenn man den Kulturkritikern glauben will, der moderne Gesellschaftsroman und mit ihren Grenzüberschreitungen (Sex! Gewalt! Sprache!! Amoralische Helden.) auch subversiv. Es ist Unterhaltung für gebildete Menschen, während gleichzeitig das Kino immer mehr zum lärmend-infantilen Kindergarten verkommt.

Doch ist das US-Fernsehen, auf den sich der Diskurs über die Qualität des Fernsehens konzentriert und, was angesichts der Marktmacht und weltweiten Verbreitung auch nachvollziehbar ist, wirklich so tabubrechend, wie es sich gerne gibt?

In dem reichhaltig bebilderten Essay „Fernsehen wider die Tabus – Sex, Gewalt, Zensur und die neuen US-Serien“ geht Ivo Ritzer dieser Frage, gerüstet mit dem kulturwissenschaftlichen Analyseapparat, nach.

Außerdem erklärt er den rechtlichen Rahmen, in dem in den USA Serien produziert und im Fernsehen verwertet werden. Kurz gesagt gibt es ein frei empfangbares Fernsehen, in dem bestimmte Jugendschutzrichtlinien gelten (die sich vor allem an nackter Haut [ich sage nur Nipplegate] und obszöner Sprache [„Fuck“ geht gar nicht. Aber „Frack“ geht] orientieren) und dem Bezahlfernsehen, das sich nicht darum kümmern muss. Allerdings wurden einige Serien, die zuerst im Bezahlfernsehen und später im freien Fernsehen gezeigt wurden, für die Zweitverwertung bearbeitet. So wurde bei „Sex and the City“ jedes „fucking“ durch ein „freaking“ ersetzt und damit natürlich auch die gesamte Tonlage der Serie verändert.

Ebenso wurde auf DVD, einer weiteren Verwertungsmöglichkeit, dann die „unzensierte“ Fassung genommen. Wobei „Zensur“ hier locker gebraucht wird, denn natürlich waren die Folgen nicht zensiert, sondern die Produzenten hatten beschlossen, eine harmlosere Fassung zu zeigen. Das zeigte sich in den vergangenen Jahren besonders deutlich bei Spielfilmen, die für die Kinoauswertung in den USA für die PG-13-Freigabe um profane Sprache, nackte Haut und auch Gewaltdarstellungen erleichtert werden, die anschließend auf der unzensierten DVD, manchmal auch als „Director’s Cut“ beworben, finden und im schlimmsten Fall nur im Zeigen eines nackten Busens (was uns Deutsche nicht weiter aufregt) und eines Schimpfwortes besteht (siehe „Zwölf Runden“, „Stirb langsam 4.0“ oder John Waters‘ „A Dirty Shame“, der beim Erstellen der harmlosen Version sichtlich seinen Spaß hatte).

Das relativiert den tabubrechenden Gestus der von den Feuilleton-Kritikern so hochgelobten Serien, die in den USA auch beachtliche Quoten erreichen und in Deutschland fast alle mehr oder weniger grandios gefloppt sind, erheblich, ohne deren erzählerischen, schauspielerischen und inszenatorischen Qualitäten zu mindern.

Über Ritzer Schlußpointe, dass in Wirklichkeit Serien wie „Human Target“ (das mir gefiel) und „Hawaii 5-0“ (das ich für grottenschlecht halte) subversiv seien, muss ich noch einmal nachdenken:

Es ginge demnach weder darum, im Sinne einer nostalgischen Altlinken mit dem Pathos der Transgression vermeintlich Tabuisiertes zu attackieren noch im Sinne einer reaktionären Neurechten in der Rückkehr zu vormodernen Tabus den eigentlichen Tabubruch zu lokalisieren. Vielmehr wäre die Ohnmacht gegenüber der (Simulations-)Macht zu akzeptieren und zum Schein an ihrem Spiel zu partizipieren. Genau dadurch könnte sie zu überlisten sein: im Durchschauen der Systemlogik, das keine Utopie als Horizont mehr reklamiert.

In diesem Sinne wären eher ‚harmlose‘, das heißt jugendfreie und ‚unterkomplexe‘, pseudo-narrative Network-Serien wie ‚Hawaii Five-0 (2010f.; CBS), ‚Human Target‘ (2010f,; Fox) oder ‚Nikita‘ (2010f; CWT) progressiv; in ihrer narzisstischen Fetischisierung der Oberfläche.“

Insgesamt ist „Fernsehen wider die Tabus“ eine gelungene Zusammenfassung des derzeitigen Standes des US-Fernsehens und er liefert auch eine gute Interpretationsfolie.

Ivo Ritzer: Fernsehen wider die Tabus – Sex, Gewalt, Zensur und die neuen US-Serien (Kultur & Kritik 3)

Bertz + Fischer, 2011

136 Seiten

9,90 Euro

Hinweise

Seite von Ivo Ritzer

Jungle World: Ivo Ritzer über „Tabus schauen“ (ein gekürzter Auszug aus „Fernsehen wider die Tabus“)

 

 


TV-Tipp für den 29. August: Dreileben

August 29, 2011

ARD, 20.15

Dreileben: Etwas Besseres als den Tod (D 2011, R.: Christian Petzold)

Drehbuch: Christian Petzold

Wiederholung: Mittwoch, 31. August, Eins Festival, 20.15 Uhr

ADR, 21.45

Dreileben: Komm mir nicht nach (D 2011, R.: Dominik Graf)

Drehbuch: Markus Busch, Dominik Graf

Wiederholung: Donnerstag, 1. September, Eins Festival, 20.15 Uhr

ARD, 23.30

Dreileben: Eine Minute Dunkel (D 2011, R.: Christoph Hochhäusler)

Drehbuch: Christoph Hochhäusler

Wiederholung: Freitag, 2. September, Eins Festival, 20.15 Uhr und 23.30 Uhr

Dominik Graf (59), Christian Petzold (50) und Christoph Hochhäusler (39) stritten sich über ihre filmischen Vorstellung und beschlossen, einfach anhand dreier eigener Filme, die sich aufeinander beziehen sollten, ihre verschiedenen Sichtweisen zu demonstrieren. Das klingt jetzt so richtig verkopft. Dabei dürfte es für uns Zuschauer ein richtiges Vergnügen sein. Denn nachdem die drei Regisseure die Prämisse formuliert hatten (ein Frauenmörder soll nach Dreileben, einem Ort im Thüringer Wald, geflüchtet sein), drehte jeder seinen eigenen Film, der mal mehr, mal weniger ein Krimi ist.

Das Fernsehen nennt diese konzentrierte Ausstrahlung von drei Neunzigminütern an einem Abend sicher „Ereignis“ und das ist es auch. Aber gleichzeitig werden die Filme etwas lieblos an einem Montagabend im Sommer weggesendet. Denn eigentlich hätte man doch mal den sonntäglichen „Tatort“ für etwas anderes ausfallen lassen können.

Hinweise

ARD über „Dreileben“

Spiegel Online über „Dreileben“ (zur TV-Ausstrahlung, und, etwas unbegeistert, auf der Berlinale)

Der Tagesspiegel über „Dreileben“

FAZ über „Dreileben“ (Überschrift: „Drei Regisseure retten das deutsche Fernsehen“ – Geht’s nicht auch eine Nummer kleiner?)

epd Film über „Dreileben“

Cargo: Ein Bericht von den „Dreileben“-Dreharbeiten

Meine Besprechung von Dominik Grafs „Schläft ein Lied in allen Dingen“

Meine Besprechung der von Dominig Graf inszenierten TV-Serie  „Im Angesicht des Verbrechens“

Meine Besprechung von Johannes F. Sieverts Interviewbuch „Dominik Graf – Im Angesicht des Verbrechens: Fernseharbeit am Beispiel einer Serie“

Dominik Graf in der Kriminalakte