„Shame“, der zweite Spielfilm von Künstler Steve McQueen, wieder mit Michael Fassbender in der Hauptrolle, ist in vielerlei Hinsicht das Gegenstück zu seinem Debüt „Hunger“.
Während in „Hunger“ die IRA-Gefangenen keine Freiheiten hatten, sie die Zellenwände mit ihren Exkrementen beschmierten und Bobby Sands, der so etwas wie der Protagonist des Films ist, sich zu Tode hungerte, ist in „Shame“ alles klinisch sauber und der Protagonist genießt alle Freiheiten, die das Leben in der Großstadt bietet. Niemand schreibt ihm vor, wie er zu Leben hat. Brandon ist Single, arbeitet in einem modernen Büro (wobei nie klar wird, welchen Beruf er hat), seine Eltern sind tot und zu seiner Schwester bemüht er sich, keinen Kontakt zu haben. Sein Leben ist bestimmt vom ständigen Sex. Mal mit Frauen, mal allein, mal im Internet; egal, solange es keine langfristige Bindung oder Liebe gibt. Dabei hat er sich inzwischen in einem selbstgebauten, unsichtbaren Gefängnis isoliert.
Diese Charakterstudie ist konventioneller als „Hunger“, bei dem ein gesättigtes Hintergrundwissen über den Nordirlandkonflikt, das Gefängnisleben der IRA-Häftlinge, den Hungerstreik von 1981 und den Hungerstreiktod von Bobby Sands am 5. Mai 1981 hilfreich zum Verständnis des Films sind, der sonst eine unübersehbare Tendenz zur l’art pour l’art hat. In „Shame“ gibt es von Anfang an einen identifizierbaren Protagonisten und einen Hauch von Story. Denn der Film ist in erster Linie das dialogarme Porträt eines scheinbar erfolgreichen Mannes, dessen Leben sich nur noch um Sex dreht.
Steve McQueen vertraut wieder einmal auf seine Schauspieler, die Bilder, die Bildkompositionen und die Schnitte. Es gibt, wie auch in „Hunger“, lange Szenen und statische Einstellungen. So läuft Fassbender, eine gefühlte Ewigkeit und ohne einen Schnitt, mehrere Blocks durch das nächtliche Manhattan. Oder Carey Mulligan (zuletzt „Drive“), die seine ebenfalls verhaltensgestörte Schwester spielt, singt die durch Frank Sinatra bekannt gewordene Hymne „New York, New York“ und ihr Gesang und die Reaktionen der anderen Schauspieler wurden mit mehreren Kameras gleichzeitig aufgenommen. Und wie er die moderne Großstadt- und Büroarchitektur in seine Geschichte einbezieht, verrät den Blick eines Künstlers.
Aber „Shame“ bleibt letztendlich ein rein intellektuelles Vergnügen, bei dem man für sich locker die Lücken ausfüllt, die McQueen und seine Autorin Abi Morgan (zuletzt „Die eiserne Lady“) lassen. Denn auch ohne eine umfassende Recherche, wie sie es getan haben, und Hintergrundwissen, wie es für „Hunger“ nötig war, um den Film nicht nur als Kunstwerk zu sehen, weiß man einiges über Sexsucht und die Frage, ob die Freiheiten der Moderne für den Einzelnen wirklich gut sind, ist leicht verständlich. Auch wenn sie in „Shame“ an einem Extremfall dargestellt wird, der, auch weil die Vergangenheit von Brandon höchstens in einigen Nebensätzen angesprochen wird, eher als exotisch wahrgenommen wird und die Macher unschlüssig waren, ob sie eben jenen Einzelfall zeigen wollten, der das strukturelle Gegenstück zu Bobby Sands in „Hunger“ ist, sie etwas über Anonymität, Freiheit und Sexsucht in der Großstadt (vulgo den Mensch in der sexualisierten Gesellschaft) sagen wollten oder eine Krankheit, was Sexsucht wie Alkoholismus ist und die bei den Betroffenen, so McQueen, zu immer neuem Sex und dem Gefühl der Scham darüber führt, schildern wollten.
Insofern lässt „Shame“ einen etwas unbefriedigt zurück: großartige Schauspieler, großartige Regie, Kamera und Schnitt, aber emotional ungefähr so berührend wie ein abstraktes Gemälde.
Shame (Shame, GB 2011)
Regie: Steve McQueen
Drehbuch: Steve McQueen, Abi Morgan
mit Michael Fassbender, Carey Mulligan, James Badge Dale, Nicole Beharie
Länge: 100 Minuten
FSK: ab 16 Jahre
Bundesweiter Kinostart am 1. März 2011 (wir Berliner haben einen vorgezogenen Start spendiert bekommen)
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Hinweise
Wikipedia über „Shame“ (deutsch, englisch)
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Bonushinweise
Ein aktuelles Interview (30. November 2011) von Scott Feinberg mit Steve McQueen und vielen störenden Nebengeräuschen (Merke: es ist keine gute Idee, ein Interview in einem Café aufzunehmen!)
Und ein Interview mit Steve McQueen und Michael Fassbender (ohne störende Nebengeräusche)
[…] Meine Besprechung von Steve McQueens “Shame” (Shame, GB 2011) Teilen Sie dies mit:TeilenE-MailDruckenDiggTwitterFacebookStumbleUponRedditGefällt mir:Gefällt mirSei der Erste, dem dieser post gefällt. […]