Die 800 Seelen-Gemeinde Orania ist ein Paradies. Denn es hat in Südafrika die geringste Kriminalitätsrate. Die Bewohner lassen sogar die Schlüssel in ihren Autos stecken.
Orania ist die Hölle. Denn in dem Ort leben seit 1990 nur weiße Südafrikaner, die kein Teil der Rainbow Nation sein wollen. Sie sind Rassisten, die sich die Apartheid zurückwünschen.
Orania ist ein Experiment. Denn die Bewohner versuchen vollkommen autark zu Leben. Sie wollen eine sich selbst versorgende Gemeinschaft sein.
„Orania ist die Manifestation der Ängste und Wünsche jener Afrikaaner, die – anders als die meisten anderen – nicht zurechtkommen in der neuen ‚Rainbow Nation‘. Das Konstrukt Orania bot mir eine Möglichkeit, filmisch der Frage nach kultureller Identität sowie innerer und äußerer Abgrenzung nachzugehen“, sagt Regisseur Tobias Lindner über seinen Dokumentarfilm „Orania“, für den er drei Monate ohne ein Team in Orania lebte, die Bewohner beobachtete und sich mit ihnen unterhielt. So entstand – mit bescheidenen Mitteln – ein vorurteilsfreier Blick, der eben auch immer den Zwiespalt zwischen der Selbstwahrnehmung der Oranier, die eine afrikaanische Gesellschaft aufbauen wollen, und der Wirklichkeit thematisiert. Denn viele Oranier sind schon älter, sie hängen der von ihnen idealisierten Vergangenheit an, leben ein altertümliches Leben, das eher an einen deutschen Fünfziger-Jahre-Heimatfilm als an die Gegenwart erinnert. Es gelten rigide Regeln, die vor allem die wenigen Jugendlichen zu spüren bekommen. So hat ein Jugendlicher, der in Johannesburg ein Kleinkrimineller war, zwar Probleme mit der von den Oraniern geforderten Disziplin. Aber dass das so schlimm ist, dass er am Ende des Films Orania verlassen muss, scheint dann – wir erfahren die Gründe nicht – doch weniger an ihm, sondern an dem konservativem Gesellschaftsbild der Oranier und ihrer Unfähigkeit, mit problematischen Jugendlichen umzugehen, zu liegen. Sowieso ist der soziale Druck, wie Lindner an einer Familie zeigt, die er während ihrer ersten Wochen in Orania begleitet, sehr hoch. So sagt der Familienvater, der einen regulären Busbetrieb in die nächste größere Stadt aufbauen will, in einer Radiosendung, er würde auch Schwarze, wenn sie Afrikaans sprächen, nicht betrunken seien, sich benähmen und den Fahrpreis bezahlten, mitnehmen. Später sagt er gegenüber dem Regisseur, dass wegen diesem Satz niemand mit ihm mitfahren möchte und schlecht über ihn geredet würde.
Die Bewohner von Orania haben auch keinen Kontakt zu Schwarzen. Sogar die schwarzen Lieferanten dürfen nicht in die Stadt zum Schwimmbad hineinfahren. Der Bademeister, der sich vor der Kamera rühmt, keine Vorurteile zu haben, kommt mit seinem Jeep zum Ortseingang und lädt die Getränke und Snacks um.
Lindner porträtiert ohne einen Off-Kommentar (in dem er einige Fakten zur sozialen und ökonomischen Struktur von Orania hätte liefern können) und ohne wertende Schnitte mehrere Oranier. Er zeigt das Konstrukt Orania und fordert die Zuschauer auf, darüber nachzudenken, was Orania ist und wo wünschenswerte kulturelle Identität in Rassismus umschlägt.
Das führt aber auch dazu, dass er Probleme, wie die schwierige ökonomische Lage von Orania, die fast schon verzweifelte Suche nach neuen Bewohnern und die Weltsicht der Oranier im Film kaum anspricht und so die Oranier als vielleicht etwas schrullig, etwas konservativ, aber eigentlich ganz nette weiße Männer porträtiert werden. Da hätte Lindner stärker nachfragen und zuspitzen müssen. Aber „Orania“ ist auch ein Erstlingswerk, das Lindners Potential als Dokumentarfilmer zeigt.
Orania (Deutschland 2012)
Regie: Tobias Lindner
Drehbuch: Tobias Lindner
Länge: 98 Minuten
FSK: ab 0 Jahre
–
Hinweise
Podiumsdiskussion über den Film, aufgezeichnet am 28. April 2013 im Sputnik-Kino (Berlin)
