Henrik Tikkanen, wohnhaft in „Brändövägen 8 Brändö. Tel. 35“

Tikkanen - Brändövägen 8 Brändö Tel 35

In seiner Heimat ist Henrik Tikkanen heute, dreißig Jahre nach seinem Tod, immer noch bekannt. Bei uns ist er dagegen absolut unbekannt. Ältere Semester kennen vielleicht noch seine Frau Märta Tikkanen. Vor allem für ihren Roman „Wie vergewaltige ich einen Mann?“ (1975), der auch kurz darauf verfilmt wurde, und der in feministischen Kreisen diskutiert wurde.
Aber die Ereignisse, die Henrik Tikkanen in „Brändövägen 8 Brändö. Tel. 35“ schildert, fanden lange vor seiner Heirat mit Märta und seiner Karriere als politischer Karikaturist statt. In dem Buch erzählt er von seiner Kindheit und Jugend.
Tikkanen wurde 1924 als Kind einer vermögenden und angesehenen Familie geboren, die in Brändö, einem kleinen Ort bei Helsinki, lebt. Er gehört zur schwedischsprechenden Minderheit in Finnland: „Am besten wäre es, alles auf das Schicksal zu schieben, das mich in einem unmöglichen Land zur Welt kommen ließ, in dem knapp über drei Millionen Menschen leben, die eine Sprache sprechen, die kein anderer Mensch auf der Welt begreift. Damit nicht genug. In diesem Land sprechen meine Eltern eine andere Sprache, die lediglich ein Zehntel der Bevölkerung versteht. Die Ausdrucksweise meiner Eltern ist darüber hinaus von einer Art, die lediglich ein Hundertstel dieses Zehntels kapiert. Um den Rest des Volkes scheren sie sich ohnehin einen Dreck. Andererseits sind sie großzügig genug, das gesamte russische Volk zu hassen, das ihr nächster Nachbar ist. Selbstverständlich haben sie niemals versucht, Russisch zu lernen, sodass sie nicht ein Wort von dem verstehen, was zweihundert Millionen Menschen sagen und denken, und darauf sind sie stolz.“
Und weil Tikkanens Vater in Dresden studiert hatte und deshalb die Deutschen mochte, hatte Tikkanen ein deutsches Kindermädchen, das ihm als erste Sprache Deutsch beibrachte.
In einem Husarenritt geht es durch Tikkanens Kindheit und Jugend bis zum Kriegsende und die Familienmitglieder, die er herrlich respektlos als Ansammlung verkrachter Existenzen porträtiert, die aufgrund ihres Standes Narrenfreiheit genossen und reichlich Alkohol genossen.
In Finnland war „Brändövägen 8 Brändö, Tel. 35“, das mit dem Tod von Tikkanens Vater endet, ein Bestseller. Tikkanen schrieb in „Bävervägen 11 Hertonäs“ (1976) und „Mariengatan 26 Kronohagen“ (1977) seine Biographie fort.
Für uns ist der Roman eine kleine Entdeckung und ein Blick in ein anderes Skandinavien, vor allem ein Skandinavien abseits der dicken Kriminalromane und der alten Henrik-Ibsen-Stücke. Dank des scharfen satirischen Blicks und des ätzenden Sarkasmus ist „Brändövägen 8 Brändö, Tel. 35“ eine etwas andere Familiengeschichte, die mit treffenden Aphorismen über das Leben und die Politik gewürzt wird, wie „Zu versuchen, ein Land davon abzubringen, einen Krieg anzufangen, war außerdem eine Einmischung in dessen innere Angelegenheiten, doch zu kämpfen und das andere Land zu erobern war völlig in Ordnung.“
Allerdings empfiehlt es sich, das Buch mit dem Nachwort von Karl-Ludwig Wetzig, der die Biographie auch übersetzte, zu beginnen. Denn dort werden einige Hintergründe erklärt, die, als die Biographie 1975 erschien, allgemein bekannt waren, aber die wir nicht kennen.

Henrik Tikkanen: Brändövägen 8 Brändö. Tel. 35
(übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig)
Verbrecher Verlag, 2014
152 Seiten
22 Euro

Originalausgabe
Brändövägen 8 Brändö. Tel. 35
1975

Hinweis
Wikipedia über Henrik Tikkanen

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