Schon der Anfang von „Untervörde“ erfordert einiges an Gutwilligkeit. Immerhin sollen wir glauben, dass eine 22-jährige erst während einer sommerlichen Fahrradtour 2012 zufällig erfährt, dass ihre Mutter im August 1997 ermordet wurde. Ihr wurde damals gesagt, dass ihre Mutter bei einem Autounfall starb. Ihr Vater zog mit ihr aus dem Dorf Untervörde weg – und sie hat deshalb auch nicht erfahren, dass der Mörder ihrer Mutter kurz darauf verhaftet und verurteilt wurde.
Auch später erfuhr Klara Göbel nichts davon. Während all der Jahre hat niemand in der Verwandschaft oder von den Bekannten ihres Vaters darüber gesprochen. Naja, ihre gesamte Verwandschaft ist schon tot und zu den früheren Bekannten ihrer Eltern hat sie keinen Kontakt. Auch im Nachlass ihres Vaters entdeckte sie nichts. Und, wenn wir gerade dabei sind, auch kein Reporter fragte bei ihr, was sie davon hält, dass der Mörder ihrer Mutter wieder frei kommt. Immerhin zog sie von Untervörde an der Weser nach Berlin und sie änderte nicht ihren Namen. Bei der heutigen Aufregung über Sexualmorde ist das ein durchaus naheliegender Gedanke. Immerhin wurde ihre Mutter vergewaltigt und erdrosselt.
Außerdem wirken alle Alterangaben immer leicht verschoben. So ist Klaras Mutter 1971 geboren; sie gebar ihre Tochter 1990 als Neunzehnjährige. Ist selten, kommt aber in den besten Familien vor. Ihr Vater ist einige Jahre älter. Er starb 2011 mit Anfang fünfzig. D. h. er ist spätestens 1960 geboren. Dieser Altersunterschied von über zehn Jahren scheint in dem Dorf allen egal gewesen zu sein. Denn er wird im Roman nicht einmal angesprochen.
Ebenso seltsam ist die Beziehung von Klara zu ihrem Vater. Immerhin heißt es auf Seite vierzig, dass sie sich schon seit Jahren nicht mehr gesehen haben, während sie in Berlin die Schauspielschule absolvierte und mit Anfang Zwanzig abschloss. Das ist jetzt zwar nicht gänzlich unmöglich, aber wenn man die Erinnerungen von Klara an ihren Vater liest, denkt man eher an eine Endzwanzigerin. Aber eigentlich hat sie ihn, ohne dass uns irgendein Grund genannt wird, dann wohl seit ihrem sechzehnten oder siebzehnten Geburtstag nicht mehr gesehen.
Selbstverständlich kann es die merkwürdigsten Beziehungen geben und wahrscheinlich wird jetzt irgendein Leser brüllen „ich kenne eine solche Familie“, aber es ist einfach unnötig kompliziert, nicht besonders glaubwürdig und lenkt von der eigentlichen Geschichte ab. Denn Höhmann hätte auch einfach schreiben können, dass Klara die Erinnerungen überkamen, als sie im Wald das Kreuz sah und sie schockiert war, dass der Mörder wieder frei ist.
Schockiert ist sie auch im Roman. Aber ihr aus heiterem Himmel kommender Hass gegen den Mörder und ihre Rachegelüste wirken absolut nicht glaubwürdig. Denn plötzlich wird aus der Frau, die nichts über ihre Mutter weiß, eine die Todesstrafe befürwortende Furie, die wild gegen die lasche Justiz und den vor Gericht lügenden Mörder und seinen Anwalt polemisiert; – ehe sie plötzlich aus der Geschichte verschwindet und mit ihr verschwindet auch die Justizkritik.
Stattdessen beginnen zwei Polizisten den Mörder von Bernd Pohlmeier, dem damaligen Täter, zu suchen und eine Sache ist sicher: Klara, die für die Polizei auch keine Tatverdächtige ist, hat ihn nicht umgebracht. Immerhin will sie in diesem Moment immer noch Pohlmeier umbringen. Damit werden ihre Selbstjustizgedanken in diesem Moment zu einer akademischen Übung mit einem höchst unangenehm reaktionärem Beigeschmack. Denn das ist dieser „wegsperren, und zwar für immer“-Populismus, der bestimmten Angeklagten nur ein Verfahren vor einem Lynchmob zugesteht.
„Untervörde“ ist ein psychologisch vollkommen unglaubwürdiger Krimi, der nie versucht glaubwürdige Charaktere in einer glaubwürdigen Geschichte zu präsentieren. Stattdessen läuft eine Trägerin des vermeintlich gesunden Volksempfindens kopflos durch die unnötig komplizierte, zunehmend uninteressantere Geschichte.
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Christiane Höhmann: Untervörde
grafit, 2014
192 Seiten
9,99 Euro
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Hinweise
Homepage von Christiane Höhmann
LovelyBooks über „Untervörde“

Das klingt richtig mies. Dabei hat der grafit-Verlag doch durchaus ein Händchen für Krimis. Ich jedenfalls keine eine solche Familie nicht, die Story klingt dementsprechend hanebüchen in meinen Ohren.