Es gibt so viele wichtige Dinge zu tun – und am Ende putzt man die Wohnung, schichtet einige Papiere um, sortiert die Plattensammlung um (Alphabetisch? Chronologisch? Welche Chronologie? Thematisch? Nick Hornby hilf!) oder liest ein Buch. Zum Beispiel „Einfach liegen lassen – Das kleine Buch vom effektiven Arbeiten durch gezieltes Nichtstun“ von John Perry, emeritierter Professor für Sprachphilosphie an der Stanford University. Und er reiht sich mit diesem Buch, „eine Art philosophischer Selbsthilfekurs für deprimierte Dauertrödler“ (seine sprachphilosophischen Werke sind sicher schwerer zu lesen), in die höchst angenehme angloamerikanische Philosophietradition ein, die gar nicht die großen Weisheiten verkünden, sondern pragmatische Lebenshilfe und kluge Einsichten in die Conditio Humana geben will, ohne eine gute Pointe, gerne auf eigene Kosten, zu vernachlässigen. Damit umschifft Perry auch elegant die Falle von fast jedem Ratgeber: den Dogmatismus, dass es nur diesen einen Weg gibt und dass deshalb alle Menschen sich danach ausrichten müssen. Zum Beispiel besonders effizient ihre Arbeit erledigen, alles in einer bestimmten Form auf dem Schreibtisch anordnen zu müssen und am Ende den Schreibtisch sauber zurückzulassen. Oder sein E-Mail-Eingangspostfach am Abend aufgeräumt zu haben. Unbedingt. Alles andere ist der Hinweis auf ein großes Defizit in der Persönlichkeitsbildung. Man leidet zum Beispiel an Prokastination. Man ist ein unorganisierter Aufschieber. Eine Last für die aus vernünftigen Menschen bestehende rationale Gesellschaft.
Nun, ja, stimmt irgendwie. Löst aber nicht das Problem und fragt auch nicht danach, ob Aufschieberitis wirklich ein Problem ist.
Für John Perry ist es, solange es im Zustand des gepflegten Nichtstun bleibt, kein Problem. Man muss halt nur mit seinen vermeintlichen Defiziten so umgehen, dass am Ende doch einiges geschafft wurde und man keine anderen Menschen schädigt und auch nicht die wirklich wichtigen Dinge, wie die Steuererklärung, verschlampt. Seine kurzweiligen und amüsanten Überlegungen sind natürlich von seinem Alltag an der Universität geprägt, die eine ganz eigene Subkultur ist. Davon abgesehen gelten sie vor allem für Berufe, in denen man sich seine Arbeit ziemlich frei einteilen kann. Ein Busfahrer wird während seiner Arbeit nicht mit dem Problem konfrontiert werden, weil er einen Fahrplan hat. Aber jeder Büromensch kann sich von Perrys Buch anregen lassen. So hat Perrys Idee, die ganze Arbeit auf einer großen runden Platte abzulegen und dann, durch Drehen sich die nächste wichtige Arbeit auszusuchen, ihren Charme, aber sie erfordert einen großen Raum, in dem man ungestört arbeiten kann. Das dürften die Wenigsten haben, aber auch ich lege meine Arbeit gerne so hin, dass ich sie sehe und sie besser nebeneinander als übereinander liegt; was natürlich den angenehmen Effekt hat, dass man am Anfang unglaublich viel Arbeit vor sich hat und am Ende unglaublich viel getan hat. Ein großer Schreibtisch, viel freier Boden und sonstige weitere Ablegeflächen sind da gut. Es darf allerdings kein Windhauch oder ein anderes Wesen (Frauen, Kinder, Hunde haben den gleichen katastrophalen Effekt) durch das Zimmer gehen.
Perry verrät uns auch, wie er seine E-Mails bearbeitet (weil der erfahrene Aufschieber seine E-Mails niemals effektiv sortieren will), wie man sich die richtigen Arbeitspartner aussucht und es gibt, immerhin ist Perry Philosoph, auch einige philosphische Gedanken. Einmal gebündelt am Ende des Büchleins mit den hochtrabenden Namen, einmal nebenbei ausgebreitet im gesamten Buch.
Und dann hilft noch eine klug geführte Prioritätenliste. Dieses „Aufschieben nach Plan“ funktioniert auf den ersten Blick wie eine gewöhnliche Prioritätenliste (die wichtigste und dringenste Aufgabe steht oben und muss als erstes erledigt werden), aber der erfahrene Aufschieber sucht sich, so Perry, dafür die richtigen Projekte vor: „Die idealen Projekte weisen zwei Eigenschaften auf: Erstens muss es so aussehen, als wäre eine bestimmte Frist einzuhalten (obwohl das in Wirklichkeit gar nicht stimmt). Zweitens muss es so aussehen, als wären sie unheimlich wichtig (was genauso wenig stimmt). Zum Glück wimmelt es in unserem Leben von solchen Aufgaben.“
Natürlich sollte man jetzt nicht den ganzen Tag an seiner Prioritätenliste arbeiten. Obwohl man sie natürlich ständig umstellen muss und natürlich betrügt man sich selbst, indem man unwichtige Projekte ganz vorne auf die Liste setzt, sie nicht bearbeitet (was man nie wollte) und stattdessen andere Aufgaben erledigt. „Aber das ist überhaupt kein Problem, sind doch so gut wie alle Aufschieber in hohem Maße mit der Gabe der Selbsttäuschung gesegnet. Und was gäbe es Eleganteres, als den einen Charakterfehler mit einem anderen auszuhebeln?“
Und jetzt meldet sich mein Magen. Das lässt sich nicht aufschieben.
John Perry: Einfach liegen lassen – Das kleine Buch vom effektiven Arbeiten durch gezieltes Nichtstun
(übersetzt von Marie Andreas)
Goldmann, 2015
128 Seiten
7,99 Euro
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Deutsche Erstausgabe
Riemann Verlag, 2012
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Originalausgabe
The Art of Procrastination – A Guide to Effective Dawdling, Lollygagging and Postponing
Workman Publishing Company, 2012
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Hinweise, mit denen man gut andere, wichtigere Aufgaben aufschieben kann
Stanford-Homepage von John Perry
Structured Procrastination (Seite von John Perry über das Aufschieben)
Philosophy Talk (eine Radiosendung von John Perry und Ken Taylor)
