In der Dokumentation „Beyond Punishment“ heißt es Restorative Justice, bei uns wird von Täter-Opfer-Ausgleich und Wiedergutmachung gesprochen und sie trifft einen Teil der in der Dokumentation angesprochenen drei Fälle. Nur in einem Fall könnten sich Täter und Opfer begegnen. Wobei hier die Opfer des Verbrechens die Hinterbliebenen sind. Denn Hubertus Siegert („Berlin Babylon“) zeigt an drei unterschiedlichen Mordfällen in drei Ländern, wie die Hinterbliebenen und die Täter, so sie bekannt sind, zu einer neuen Sicht auf die Tat kommen und damit die seelischen Folgen verarbeiten können.
Im Presseheft steht dazu: „Geleitet von der Frage, ob der Schmerz über den Verlust tatsächlich geringer wird, wenn man nicht auf Vergeltung und Strafe hofft, wird Neuland betreten. Das Konzept der Restorative Justice geht davon aus, dass es hilfreich sei die andere Seite zu verstehen, also zu erfahren, was den anderen bewogen hat, die Tat zu begehen. Oft wird angenommen, dass eine tatsächliche Begegnung zwischen den beteiligten Menschen machbar und hilfreich sei.“
Diese direkte Begegnung gibt es im Green Bay Hochsicherheitsgefängnis in Wisconsin, wo der Film beginnt, nicht. Dort gibt es seit 1997 ein ehrenamtlich durchgeführtes psychosoziales Programm, in dem Häftlinge sich mit ihren Gewalttaten, wie Mord, Vergewaltigung und Körperverletzung, und den Folgen für die Betroffenen und Hinterbliebenen auseinandersetzen müssen. Ein Teil des Programms ist ein Gesprächskreis, in dem Täter und Opfer von ihren Erfahrungen erzählen. Weil es sich bei den Tätern und Opfern um verschiedene Fälle handelt, ist hier auch kein Täter-Opfer-Ausgleich möglich ist. Aber es kann Verständnis für die andere Seite geweckt werden. Also dass der andere als Mensch wahrgenommen wird.
Zu den Teilnehmer des Gesprächskreis gehören Leola und ihre Tochter Lisa, die vor elf Jahren bei einer alltäglichen Auseinandersetzung in der Bronx ihren sechzehnjährigen Sohn und Bruder verloren. Er wurde vor ihrer Wohnung in einem Supermarkt erschossen. Der Täter wurde zu vierzig Jahren Haft verurteilt.
Der zweite Fall führt nach Norwegen. Dort ermordete Stiva seine sechzehnjährige Freundin. Ihr Vater Erik fragt sich, wie er damit umgehen soll, wenn er Stiva, der nur eine kurze Haftstrafe verbüßen muss, vielleicht in wenigen Jahren auf der Straße begegnet.
Der dritte Fall fällt aus dem bisherigen Rahmen. Denn es geht um einen politisch motivierten Mord, bei dem die Täter immer noch unbekannt ist. Patrick von Braunmühl, Sohn des 1986 von der RAF getöteten Beamten Gero von Braunmühl, möchte verstehen, warum die RAF seinen Vater ermordete. Sein Gesprächspartner ist das RAF-Gründungsmitglied Manfred Grashof, der bereits 1972 verhaftet und 1988 begnadigt wurde. Damals war er schon aus der RAF ausgestiegen, weshalb er auch nichts über die damalige Denkweise der RAF sagen kann.
„Beyond Punishment“ illustriert mit diesen Fällen ein Konzept, das in der Öffentlichkeit kaum diskutiert wird. Es würde den derzeitigen Verfahren eine weitere Dimension hinzufügen und die starren Grenzen des Strafrechts mit seinen formalen Erfordernissen überwinden. Die Grenzen des Konzepts spricht Siegert höchstens nebenbei an. So hat das in den USA praktizierte Stellvertreter-Konzept den Nachteil, dass sich nicht wirklich die Betroffenen der Tat gegenübersitzen. Daher kann es zu keiner Form der Vergebung kommen. Es kann höchstens Verständnis für andere Positionen geweckt werden; was angesichts des auch von Lisa und Leola geäußerten Straf- und Vergeltungsbedürfnisses schon ein erster Schritt wäre. Es wäre eine Abkehr von alttestamentarischen Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn-Gerechtigkeitsvorstellungen.
Außerdem lehnt der Täter in diesem Fall das Gespräch ab, weil er behauptet unschuldig zu sein und er den Hinterbliebenen daher nicht das geben könne, was sie gerne hätten. Doch auch wenn er zustimmen würde, käme es zu keinem Gespräch, weil die US-Justiz ein solches Treffen ablehnt. Nur Siegert durfte mit ihm sprechen.
Bei dem deutschen Fall sitzen sich letztendlich zwei Stellvertreter gegenüber, was etwas von einer TV-Talkrunde hat. Außerdem, und das ist ein Problem unseres Strafrechts, würden die Täter, wenn sie ihre Tat gestehen, gleichzeitig ein Gerichtsverfahren mit anschließender Haftstrafe gegen sich in Gang setzen. Denn Mord verjährt nicht.
In dem norwegischen Fall wäre so eine Vergebung möglich. Aber Erik, der Vater, lehnt am Ende das Gespräch mit dem sich inzwischen wieder in Freiheit befindendem Täter ab, weil er durch die Arbeit an der Dokumentation für sich mit dem Tod seiner Tochter abschließen konnte.
Diese Abschlüsse der drei Fälle zeigen auch schon eine Grenze der Restorative Justice auf: die Betroffenen müssen freiwillig miteinander reden. Das wird nicht in jedem Fall möglich sein. Und ist, vor allem wenn es um sexuelle und häusliche Gewalt geht, auch nicht in jedem Fall erwünscht.
„Beyond Punishment“ zeigt in einem ruhig-distanzierten, sensationslüsterne Zuspitzungen vermeidenden Stil wie Hinterbliebene und Täter mit den Folgen ihrer Tat, die hier in zwei Fällen eine Affekttat war, umgehen und auch wie sie versuchen, mit dieser Tat zu leben. Der Film, der sich auf die Täter und wenige direkte Hinterbliebene, insgesamt sieben Personen, konzentriert, liefert keine fertigen Antworten, sondern er regt anhand einiger Schicksale zum Nachdenken an. Auch über verschiedene Rechtssysteme, staatliche Gerichsverfahren, ihre Grenzen und was es vielleicht noch zusätzlich geben muss. Und er zeigt, wie wichtig es ist, miteinander darüber zu reden. Auch wenn dieses ‚miteinander‘ nicht unbedingt Täter und Hinterbliebene und nicht unbedingt zur gleichen Zeit im gleichen Raum bedeutet.
Beyond Punishment (Deutschland 2015)
Regie: Hubertus Siegert
Drehbuch: Hubertus Siegert
Länge: 105 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Hinweise
Deutsche Homepage zum Film
Filmportal über „Beyond Punishment“
Film-Zeit über „Beyond Punishment“
Moviepilot über „Beyond Punishment“
Wikipedia über „Beyond Punishment“
