Cixin Liu blickt in „Spiegel“

Spiegel“ ist ein Etikettenschwindel, der allerings gut als Überbrückung dienen kann zwischen Cixin Lius Science-Fiction-Romanen „Die drei Sonnen“ und „Der dunkle Wald“ (ungefähr jetzt erschienen), dem zweiten Band seiner breit abgefeierten und mit vielen Preisen ausgezeichneten Trisolaris-Trilogie. Der abschließende Band ist noch nicht angekündigt.

Spiegel“ kann auch als Appetitanreger funktionieren. Denn die mit dem Galaxy Award, dem chinesischen Science-Fiction-Preis, 2004 ausgezeichnete Geschichte erhielt in der Kategorie „Beste Erzählung des Jahres“ den Preis. Sie umfasst in dem großzügigen Layout des Buches hundert Seiten. Außerdem gibt es, um auf 192 Seiten zu kommen, Anmerkungen, ein Nachwort von Sebastian Pirling und, im letzten Viertel des Buches, Ausschnitte aus Lius Romanen „Die drei Sonnen und „Der dunkle Wald“.

Und die Geschichte, die Cixin Liu erzählt, dient vor allem dazu, als Gedankenspiel, verschiedene Theorien anzusprechen, zu illustrieren und zu problematisieren. Vor dem Hintergrund der Gesellschaft, in der er lebt.

Es geht um einen Mann, der eine Computersimulation erschaffen hat, die auf einem Computer, der in einen gewöhnlichen Aktenkoffer passt, mühelos angesehen, gestartet und ausgeführt werden kann. Der Erfinder Bai Bing, Ingenieur im Zentrum für Wettersimulation, weiß so alles, was jemals auf der Welt geschah. Er weiß auch alles, was jetzt geschieht. Mit diesem Wissen kann er jederzeit einer Verhaftung entgehen und er kann mühelos Verbrechen aufdecken, verhindern oder verüben.

Er besucht den inhaftierten jungen Beamten Song Cheng. Song nahm an einem Regierungsprogramm, das Akademiker in Provinzverwaltungen teil. Bei seiner Arbeit deckte er ein korrumptives Geflecht auf, in das auch sein Vorgesetzter, der Kommandant der Provinz, verwickelt ist.

Im Gefängnis erklärt Bai Song und drei hochrangigen Staatsvertretern seine Erfindung und wie sie funktioniert. Letztendlich ist es ein Superstringcomputer, der verschiedene Weltverläufe berechnen kann. Die Simulation ist ein Spiegel der realen Welt. Auch der Welt, in der Bai und Song jetzt gerade leben. Wer den Computer hat, weiß alles. Auch über die illegalen Geschäfte des Kommandanten.

Mit dieser Erfindung sind natürlich zahlreiche Fragen der verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen verbunden. Zum Beispiel die Idee des Determinismus. Ist wirklich alles vorherbestimmt? Hat der Mensch wirklich keine Handlungsfreiheit?

Aber es geht auch um die Frage, wie eine Gesellschaft mit so einer Entdeckung umgehen soll. Gerade eine Überwachungsgesellschaft wie China, die eigentlich alles über seine Bürger wissen möchte und die Gesellschaft steuern möchte, fällt einem sofort ein. „Spiegel“ ist, auch weil die Geschichte in einem sehr gegenwärtigem China spielt, unverkennbar eine Geschichte über das heutige China. Das Computerprogramm ist der feuchte Traum jedes Apparatschiks. Und damit wird „Spiegel“, wenn die Männer in der Gefängniszelle darüber philosophieren, wem das Programm gehören solle, zu einer Kritik der Überwachungsgesellschaft in seiner totalitären Form.

Wobei es auch keinen Grund gibt, warum nur eine Person über ein solches Gerät verfügen soll. Dann hätte sie ja eine unumschränkte, von niemandem kontrollierte Macht.

Selbstverständlich stellt sich auch die Frage, was ein solches Programm mit der Menschheit macht. Das Programm zeigt, dass es keinen freien Willen gibt. Außerdem kann jederzeit jedes noch so kleine Vergehen geahndet werden. Es könnte eine Gesellschaft ohne Verbrechen entstehen. Nur: zu welchem Preis?

Und, wenn es Bai gelingt, mit dem Programm weit in die Zukunft zu blicken, stellen sich noch ganz andere Fragen.

Spiegel“ ist eine Kurzgeschichte, die diese Fragen und die zugrunde liegenden Theorien vor allem anhand der Idee eines Computerprogramms anspricht und dabei auf hundert Seiten erstaunlich tiefgründig, vielschichtig und leicht verständlich thematisiert. Es ist eine lohnende, zum Nachdenken anregende Lektüre, die auch viel über die Welt verrät, in der Cixin Liu lebt. Denn ein US-Autor hätte, ausgehend von Cixin Lius „Was wäre wenn“-Frage, eine vollkommen andere Geschichte erzählt.

Cixin Liu: Spiegel

(übersetzt von Marc Hermann)

Heyne, 2017

192 Seiten

9,99 Euro

Originalausgabe

Jingzi

2004

(enthalten in dem Sammelband „Shíjian yimin“)

Hinweise

Blog/Homepage von Cixin Liu (laut Wikipedia und wer…)

Phantastik Couch über Cixin Liu

Die Zukunft über Cixin Liu

Wikipedia über Cixin Liu (deutsch, englisch)

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