Neu im Kino/Filmkritik: „Tokat – Das Leben schlägt zurück“ – früher Gangster, heute?

Das ist ein Dokumentarfilm, den viele Menschen sehen sollten. Dabei porträtieren Andrea Stevens und Cornelia Schendel in ihrem mit überschaubarem Budget und Crowdfunding-Hilfe gedrehten „Tokat – Das Leben schlägt zurück“ nur drei mittelalte Männer, die in ärmlichen Verhältnissen leben. Teilweise, weil sie ihr Leben verpfuscht haben, teilweise weil die Gesellschaft sich nicht um sie kümmerte.

Sie heißen Hakan, Dönmez und Kerem und sie erzählen ihre Geschichte.

In den neunziger Jahren gehörten sie zu den in Frankfurt am Main berüchtigten Jugendbanden, die wie Filmgangster auf großem Fuß lebten, Geld durch den Schornstein jagten, Drogen nahmen, kleine und große Verbrechen begingen und die Stadt in Atem hielten.

Heute ist von diesem Lebensstil nichts mehr übrig.

Kerem war bei den „Turkish Power Boys“. Seine zahlreichen Straftaten verschafften ihm im Milieu den Status einer Legende. Er dealte, er war drogensüchtig und wurde 1997 wegen Totschlags zu elf Jahren Gefängnis verurteilt.

Heute lebt er als Frührentner in Frankfurt. Er ist krank und muss starke Schmerzmittel nehmen. Mit dem Film möchte er Jugendliche vor einem Leben als Verbrecher bewahren.

Hakan kam mit sechzehn Jahren nach Deutschland. Er sprach kaum Deutsch, schwänzte die Schule und wurde der Organisator eine Jugendbande, de aus Jugendlichen aus seinem Heimatdorf bestand. Nach einer Lehre blieb er arbeitslos. Er erhielt keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, wurde in die Türkei abgeschoben, verweigerte den Militärdienst und ihm wurde die Staatsbürgerschaft entzogen.

Seitdem ist er staatenlos und quasi ohne Rechte. Er lebt als Feldarbeiter in ärmlichsten Verhältnissen in seinem Geburtsort Bayat in Ostanatolien.

Der Frankfurter Dönmez ging bis zur 9. Klasse zur Schule, schloss sich einer Jugendbande an, dealte mit Heroin, war süchtig und wurde zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Danach ließ er sich mit 26 Jahren zwangsausweisen nach Igdir, der ihm vollkommen unbekannten Heimat seiner Eltern.

Heute arbeitet er in einer Apfelsaftfabrik, ist verheiratet und hat einen Sohn.

Kerem und Kakan sind gescheiterte Existenzen. Dönmez hat es zwar etwas besser. Aber wenn man sich ihr heutiges Leben ansieht, taugt keiner von ihnen zum Idol für Jugendliche. Und keiner von ihnen ist heute eine Gefahr für die Gesellschaft.

Das ist in „Tokat – Das Leben schlägt zurück“ ein Punkt, weshalb der kinventionell gestaltete Dokumentarfilm beruhigend ist. Die große Panik, die damals über die verbrecherischen Jugendlichen herrschte, wirkt angesichts des ärmlichen Lebens der Ex-Gangster wie ein Sturm im Wasserglas. Diese Panik bestand und besteht beim Auftauchen von Jugendbanden auch in anderen Städten. Sie ignoriert, wie sehr jugendliches Delinquententum eine oft vorübergehende Phase ist, auf die richtig reagiert werden sollte.

Tokat“ ist allerdings auch ein bitterer Film. Denn Hakan, Dönmez und Kerem hatten nie wirklich eine Chance. Teils weil sie in ihrer Jugend die falschen Dinge taten. Teils weil die Gesellschaft sich nicht genug um sie kümmerte mit Bildung, Ausbildung und Arbeit. Stattdessen wurden die Problemfälle abgeschoben oder ausgesessen.

Tokat“ ist auch ein Film, der in möglichst vielen Jugendzentren und Schulen gezeigt werden sollte. Damit Schüler sehen, was aus den ‚coolen Typen‘ wird, wenn sie älter werden. Dönmez, Hakan und Kerem hatten keinen großen Filmgangster-Tod, wie zum Beispiel Al Pacino in „Scarface“.

Tokat – Das Leben schlägt zurück (Deutschland 2016)

Regie: Andrea Stevens, Cornelia Schendel

Drehbuch: Andrea Stevens, Cornelia Schendel

Länge: 78 Minuten

FSK: ?

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Tokat“

Moviepilot über „Tokat“

 

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