China Miéville erzählt über „Die letzten Tage von Neu-Paris“

In diesem Fall ist es keine schlechte Idee, vor der Lektüre den Klappentext zu lesen. Denn wer einfach so mit China Miévilles „Die letzten Tage von Neu-Paris“ beginnt, wird sich fragen, was das soll. Schon auf der ersten Seite fahren zwei Frauen auf einem Tandem auf eine Barrikade zu. Hinter ihr haben sich auf sie schießende Wehrmachtssoldaten verschanzt. Die eine Frau ist ein aus dem Fahrrad wachsender Torso. Es ist ‚das Vélo‘.

Das Vélo ist die zur Realität gewordene Zeichnung „I am an Amateur of Velocipides“ (Ich bin eine Liebhaberin von Velocipeden) von Leonora Carrington, einer Surrealistin. Ihre zur Realität gewordene Zeichnung ist nur eine der zahlreichen surrealistischen Manifestationen, die es 1950 in Paris nach der 1941 erfolgten Explosion der S-Bombe gibt. Seitdem ist Neu-Paris ein von der restlichen Welt abgeschotteter Ort, an dem sich in einem Guerilla-Krieg Nazis und Résistance-Kämpfer bekämpfen. Thibaut, der besonders gut surrealistische Werke erkennt, kämpft gegen die Nazis und Dämonen, die man als bösartige Manifestationen begreifen kann. Da trifft er auf die amerikanische Fotografin Sam, die für ein Buchprojekt Bilder von allen Manifestationen machen will. Gemeinsam machen sie sich auf der Suche nach weiteren Manifestationen auf den Weg durch ein sich ständig änderndes, surreales Neu-Paris.

Wobei es in Miévilles neuem Roman nicht um die Abenteuer von Thibaut und Sam geht. Die sind nur ein vernachlässigbarer Rahmen für das Ausmalen einer surrealistischen Welt, in der surrealistische Kunstwerke (andere Kunstwerke fristen ihr bekanntes Dasein), Dämonen, Nazis, Widerstandskämpfer und was es sonst noch zwischen Kunst, fehlgeleiteter Kunst, Himmel und Hölle gibt, gegeneinander kämpfen. Oder, manchmal, auch einfach nur da sind.

Das ist ein kurzweiliger und auch sehr kurzer Spaß. Denn „Die letzten Tage von Neu-Paris“ hat, wenn man das Nachwort (das man als Teil des Romans sehen kann) und die Erklärungen zu den im Roman auftauchenden Kunstwerken abzieht, keine zweihundert Seiten. Für gestandene Science-Fiction-Fan ist das ungefähr die Länge eines Kurzromans.

Miéville ist vor allem für „Perdido Street Station“ und „Die Stadt und die Stadt“ bekannt. Seine SF-Romane erschienen bei Bastei-Lübbe und Heyne. Einige seiner Romane sind nicht mehr, andere nur noch als E-Book erhältlich. Als Einstieg in Miévilles Welt sind diese deutlich umfangreicheren Romane besser geeignet. Denn „Die letzten Tage von Neu-Paris“ ist als durchgedrehte, kunstbeflissene Alternativweltgeschichte ein ziemlich schräges Nebenwerk.

Das gesagt, ist „Die letzten Tage von Neu-Paris“ ein lesenswertes Porträt einer Welt in der eine sehr verspielte, teils sehr witzige, teils sehr bedrohliche Kunstrichtung sich in Realität manifestiert.

China Miéville: Die letzten Tage von Neu-Paris

(übersetzt von Andreas Fliedner)

Golkonda, 2019

252 Seiten

18 Euro

Originalausgabe

The last Days of New Paris

Del Rey, 2016

Hinweise

Wikipedia über China Miéville (deutsch, englisch)

Blog von China Miéville

Meine Besprechung von China Miévilles „Die Stadt & Die Stadt“ (The City & The City, 2009)

One Response to China Miéville erzählt über „Die letzten Tage von Neu-Paris“

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