Elf Jahre sind seit Emanuele Crialeses letztem Film „Terraferma“, einem Drama über afrikanische Flüchtlinge in Lampedusa, vergangen. Für seinen neuen Film „L’immensita – Meine fantastische Mutter“ ließ er sich von seinen Erinnerungen an seine Kindheit in den Siebzigern in Rom inspirieren.
Im Mittelpunkt steht die fünfköpfige Borghetti-Familie. Sie sind am Stadtrand von Rom gerade in ein großzügiges Apartment gezogen, das in einem der damals bei Stadtplanern beliebten großen Wohnblöcke ist. Auf den ersten Blick sind die Borghettis eine glückliche, vorbildliche Familie. Doch der Schein trügt.
Die älteste Tochter, die zwölfjährige ‚Adri‘ Adriana, hadert mit ihrer sexuellen Identität. Viel lieber wäre sie ein Junge. Die Haare sind schon schön kurz geschnitten. Ihr Körper ist jungenhaft stämmig. Wenn sie gefragt wird, sagt sie, sie heiße Andrea. Ihre neuen Freunde, vor allem Sara, die hinter einen Schilffeld in einer temporären Barackensiedlung für Hilfsarbeiter leben, halten Adri deshalb für einen Jungen.
Adris Mutter Clara, eine angeheiratete Spanierin, hat psychische Probleme. Sie ist der in der Siedlung, der Wohnung und der Ehe eingesperrte, sich immer wieder kindlich benehmende Paradiesvogel. Bei ihr artet das Decken des Esstisches schon einmal zu einer veritablen Gesangs- und Tanznummer zu italienischen Schlagern aus. Ihre Kinder singen und tanzen mit. Ihr Ehemann Felice würde das niemals tun. Er ist ein klassischer Patriarch der alten Schule: streng, fordernd, humorlos, auch gewalttätig und fremd gehend. Entsprechend wenig hält er von Adris Zweifel an ihrem Geschlecht. Clara ist da viel verständnisvoller.
Crialese entwirft in seinem neuen Film das letzendlich enttäuschende Soziogramm einer dysfunktionalen Familie. Anstatt sich für eine Perspektive, eine Geschichte und einen Konflikt zu entscheiden, reiht er weitgehend zufällige und unverbundene Episoden aneinander, die sich innerhalb weniger Sommerwochen in Rom und, bei einem längerem Ausflug nach Ansedonia, auf den am Meer gelegenen Landsitz von Felices Mutter ereignen. Es geht um Adris und Claras Probleme und ihre Beziehung zueinander. Denn Clara versucht nicht, Adri zu bevormunden. Es geht auch um Rassismus, Gewalt und psychische Probleme. Jede dieser Episoden ist gut inszeniert. Meistens in Richtung Neorealismus. Es gibt auch einige pompöse Shownummern, in denen Adri und Clara sich in Schlager-TV-Shows hineinfantasieren. Die Ausstattung ist stimmig. Penélope Cruz ist gewohnt überzeugend. Sie zieht unweigerlich die Aufmerksamkeit auf sich.
Doch am Ende ist das einfach zu wenig, um wirklich zu überzeugen.

L’Immensità – Meine fantastische Mutter (L’Immensità, Italien/Frankreich 2022)
Regie: Emanuele Crialese
Drehbuch: Emanuele Crialese, Francesca Manieri, Vittorio Moroni
mit Penélope Cruz, Luana Giuliani, Vincenzo Amato, Patrizio Francioni, Maria Chiara Goretti, Penelope Nieto Conti
Länge: 99 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Hinweise
Moviepilot über „ L’Immensità – Meine fantastische Mutter“
AlloCiné über „ L’Immensità – Meine fantastische Mutter“
Metacritic über „ L’Immensità – Meine fantastische Mutter“
Rotten Tomatoes über „ L’Immensità – Meine fantastische Mutter“
Wikipedia über „ L’Immensità – Meine fantastische Mutter“ (deutsch, englisch, französisch, italienisch)
[…] Mehr in meiner ausführlichen Besprechung. […]