Wie liest sich Frank Millers „Sin City“ heute, ungefähr dreißig Jahre nachdem die Geschichten erstmals veröffentlicht und abgefeiert wurden? Sie machten Frank Miller über die Comicszene hinaus bekannt. Dort hatte er nach seiner bahnbrechenden „Batman“-Neuinterpretation „The Dark Knight returns“ bereits einen guten Ruf. Aber damals waren Comics in der öffentlichen Wahrnehmung, vor allem Superheldencomics, noch Kinderkram.
2005 verfilmten Robert Rodriguez und Frank Miller kongenial einige „Sin City“-Geschichten. „Sin City“ begeisterte die Kritiker und das Publikum. Spätestens in dem Moment war Frank Miller allgemein bekannt und, vor allem bei Noir- und Hardboiled-Fans, beliebt.
In den vergangenen Jahren lösten einige von Frank Millers öffentlichen Äußerungen und seine Werke auch bei devoten Fans ein ungläubiges Stirnrunzeln aus; verbunden mit der Frage, ob man das nicht schon alles viel früher hätte wissen können.
Mit der Cross-Cult-Neuausgabe der „Sin City“-Comics kann das jetzt überprüft werden. In den jetzt erschienenen ersten drei „Sin City“-Bänden (die nächsten vier Bände erscheinen demnächst) wurde auf das Bonusmaterial früherer Ausgaben verzichtet. Dafür ist das Format der gebundenen Ausgabe etwas größer als bei früheren Ausgaben geraten. Es kann also noch mehr in den Bildern versunken werden.
„Sin City“ ist eine gelungene Revitalisierung von Noir und Pulp, übertragen auf das Medium des Comics mit atemberaubenden und auch experimentellen SW-Panels. In den Geschichten geht es um Polizisten, korrupt und nicht korrupt, Verbrecher, Mörder, Verrückte und Femme Fatales. Den zweiten Band widmete Miller Mickey Spillane, dem Erfinder von Mike Hammer. Damals wurde Spillane immer noch als niederer Pulp-Autor betrachtet. Einer der Werke voller Sex und Gewalt, sozusagen die biblische Version von Hölle und Fegefeuer, für ein sensationsgieriges Millionenpublikum hinschluderte. Auch Millers Sin City ist ein Sündenpfuhl voller Gewalt, Sex und Gier.
In dem ersten Band „Stadt ohne Gnade“ wacht der an Wahnvorstellungen leidende Ex-GI Marv neben einer toten Frau, mit der vorher Sex hatte, auf. Er will sie rächen und mordet sich langsam zum Täter vor.
In dem zweiten Band „Eine Braut, für die man mordet“ (2014 von Miller und Rodriguez als „Sin City 2: A Dame to kill for“ verfilmt) wird der Privatdetektiv Dwight McCarthy, der für Scheidungsanwälte Seitensprünge dokumentiert, von seiner früheren großen Liebe Ava angerufen. Inzwischen ist die Femme Fatale mit dem einflussreichem Millionär Damien Lord verheiratet. Ava behauptet, in Lebensgefahr zu schweben. Wider besseres Wissen hilft Dwight ihr.
In dem dritten Band „Das große Sterben“ hilft Dwight den Frauen aus Old Town, dem Rotlichtviertel von Sin City. Sie drohen zwischen die Fronten von Polizei und organisiertem Verbrechen zu geraten. Am Ende der Nacht hat Sin City, wieder einmal, einige seiner Bewohner verloren.
Damals, als die „Sin City“-Geschichten erschienen, war die Verbindung aus Stil und Inhalt genial und traf auf den Zeitgeist. Aber ist das heute immer noch genial – oder nur noch von historischem Interesse?
„Stadt ohne Gnade“, „Eine Braut für die man mordet“ und „Das große Sterben“ spielen in einer stilisierten Parallelwelt. Millers hyperbrutale Geschichten spielen gelungen mit Hardboiled-Klischees. Ihre durchaus genreübliche (Un)moral ist nicht veraltet. Politik, politische Ideologien und die Tagespolitik spielen keine Rolle.
Beim Lesen fällt auf, dass die Welt von Sin City eine sehr weiße und heterosexuelle Welt ist. Es ist eine Welt, in der weiße Männer weiße Männer töten. Heute würde, neben dem ausführlich gezeigtem Sex zwischen Männern und Frauen, auch lesbischer und schwuler Sex gezeigt werden. Die Figuren wären diverser und sicher gäbe es mindestens eine Transgender-Figur.
Davon abgesehen die ersten drei „Sin City“-Geschichten in der aktuellen Black Edition immer noch eine extrem gelungene Hardboiled-Lektüre.

Frank Miller: Sin City: Stadt ohne Gnade (Band 1)
(übersetzt von Karlheinz Borchert)
Cross Cult, 2023
216 Seiten
25 Euro
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Originalausgabe
Frank Miller’s Sin City Volume 1: The Hard Goodbye
Dark Horse, 1991/1992
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Frank Miller. Sin City: Eine Braut, für die man mordet (Band 2)
(übersetzt von Karlheinz Borchert, Paul Scholz, Lutz Göllner)
Cross Cult, 2023
216 Seiten
25 Euro
–
Originalausgabe
Frank Miller’s Sin City Volume 2: A Dame to kill for
Dark Horse, 1993/1994
–

Frank Miller: Sin City: Das große Sterben (Band 3)
(übersetzt von Karlheinz Borchert, Paul Scholz, Andreas Mergenthaler)
Cross Cult, 2023
184 Seiten
25 Euro
–
Originalausgabe
Frank Miller’s Sin City Volume 3: The big fat Kill
Dark Horse, 1994/1995
–
Hinweise
Wikipedia über Frank Miller (deutsch, englisch) und „Sin City“ (deutsch, englisch)
Blog/Homepage von Frank Miller
Meine Besprechung von Frank Miller/Geoff Darrows „Hard Boiled“ (Hard Boiled, 1990/1992)
Meine Besprechung von Frank Millers “Holy Terror” (Holy Terror, 2011)
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