Neu im Kino/Filmkritik: Über Yorgos Lanthimos‘ Venedig-Gewinner „Poor Things“

Ich habe Tränen gelacht, als ich das Drehbuch las – es war teuflisch und voller schrägem und absurdem Humor.“

Mark Rufallo

Ich las es als Krimi, prall gefüllt mit Elementen von Horror und Märchen.“

Hanna Schygulla

Yorgos Lanthimos hat wieder zugeschlagen. Mit „Dogtooth“, „The Lobster“ und „The Killing of a Sacred Deer“ wurde der Grieche zum Kritiker- und Arthausliebling. Mit „The Favourite – Intrigen und Irrsinn“ wurde er auch beim breiteren Publikum bekannt. Mit seinem neuen Film setzt er seinen Weg konsequent fort. „Poor Things“ ist dabei sein freundlichster Film geworden.

In der wunderschön durchgeknallten, warmherzigen Steampunk-Frankenstein-Variante „Poor Things“ erzählt er die Geschichte von Bella Baxter (Emma Stone).

Sie ist das Ergebnis eines Experiments von Dr. Godwin ‚God‘ Baxter (Willem Dafoe), einem genialen Wissenschaftler, der von seinem Vater bei einem Experiment verunstaltet wurde. Er ist ein Geistesverwandter von Dr. Frankenstein und Bella ist sein ‚Monster‘. An ihr will er über den menschlichen Geist forschen. Dafür tauscht er, wie wir erst später erfahren, nach ihrem Suizid ihr totes Gehirn gegen das noch lebende Gehirn ihres noch nicht geborenen Babys. Nach der geglückten Operation beobachtet er, wie Bella laufen und sprechen lernt und die Welt innerhalb ihres Hauses erkundet. Dabei geht einiges zu Bruch und sie uriniert auf den Boden. Baxters Haushälterin Mrs. Prim (Vicky Pepperdine) räumt stoisch hinter ihr auf. Dr. Baxter versucht Bella mit väterlicher Geduld zu erziehen und er bringt ihr sprechen bei. Denn Bella ist ein Kind im Körper einer erwachsenen Frau. Diese Diskrepanz zwischen Körper und Geist, gepaart mit einem bestimmendem Temperament und einer kindlichen Sicht auf die Welt, sorgt für einige Lacher.

Zur kontinuierlichen Beobachtung von Bellas Entwicklung engagiert Baxter den Studenten Max McCandless (Ramy Youssef). Beide Männer beobachten Bella. Sie experimentieren mit ihr. Bringen ihr neue Dinge bei und sind ebenso begeistert wie erstaunt über ihre schnellen Lernfortschritte. Dabei entwickeln sie tiefere Gefühle für ihr Forschungsobjekt.

Als Bella älter wird, will sie nicht mehr im Haus bleiben. Sie will die Welt erkunden. Baxter erlaubt es.

Zusammen mit dem von sich überzeugten, besitzergreifenden Hallodri und Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) begibt Bella sich auf eine große Reise, auf der sie vom impulsiven, keine Grenzen kennendem Kind (im Kopf) zur Grenzen kennenden, aber nicht notwendigerweise respektierenden Frau (im Kopf) wird.

Auf dieser, den größten Teil des Films einnehmenden Reise, die sie zuerst nach Lissabon, dann auf einen Ozeandampfer, nach Alexandria und Paris (wo sie in einem Bordell Reisegeld verdient) und wieder zurück nach London führt, begegnet sie der unabhängigen, sehr belesenen und klugen Martha von Kurtzroc (Hanna Schygulla), Marthas Begleiter Harry Astley (Jerrod Carmichael), der Bordellchefin Swiney (Kathryn Hunter) und ihrer revolutionär-sozialistisch gesinnten Arbeitskollegin Toinette (Suzy Bemba). Auf jeder Station dieser Reise lernt Bella eine neue Lektion über ihre von ihr schon in Baxters Haushalt entdeckten Sexualität, die Wirtschaft und die Strukturen der Gesellschaft.

Zurück in London begegnet sie dem Grund für ihren Suizid am Filmanfang. Diese Begegnung führt zu einem köstlich schrägen Finale, das die Verhältnisse auf märchenhafte Weise auf den Kopf stellt. So wie der Film bis dahin schon, höchst unterhaltsam, die Verhältnisse auf den Kopf stellte. Schlließlich spielt er in einer Welt, in der es Wesen gibt, die es nicht geben dürfte.

Lanthimos erzählt die vollständig im Studio gedrehte Geschichte in betont künstlichen Kulissen mit grandiosen Schauspielern, einer konstant mild desorientierenden Kamera und unzähligen visuellen Gags, die die erfundene Steampunk-Welt zu einer glaubwürdigen Welt werden lassen. Am Ende ist „Poor Things“ sein längster, zugänglichster und auch optimistischter und freundlichster Film. Die Schwarze Komödie ist ein großer, wenn auch etwas ausufernder, teils plakativer Spaß.

Nach dem Gewinn des Goldenen Löwen in Venedig gewann „Poor Things“ weitere Preise, wie den Golden Globe als beste Komödie und für die beste Hauptdarstellerin. In den kommenden Wochen dürfte die Komödie zahlreiche weitere Nominierungen und Preise erhalten. Gestern wurde „Poor Things“ für elf BAFTAs nominiert, unter anderem als bester Film, bestes adaptiertes Drehbuch, beste Hauptdarstellerin, beste Kamera, beste Musik und beste Spezialeffekte.

Und wenn am 23. Januar 2024 die Oscar-Nominierungen bekannt gegeben werden, dürfte Lanthimos neuer Film in mehreren Kategorien nominiert sein.

Poor Things (Poor Things, USA 2023)

Regie: Yorgos Lanthimos

Drehbuch: Tony McNamara

LV: Alasdair Gray: Poor Things: Episodes from the Early Life of Archibald McCandless M.D., Scottish Public Health Officer, 1992 (Arme Dinger: Episoden aus den frühen Jahren des schottischen Gesundheitsbeamten Dr. med Archibald McBandless)

mit Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe, Ramy Youssef, Jerrod Carmichael, Hanna Schygulla, Christopher Abbott, Suzy Bemba, Kathryn Hunter, Vicki Pepperdine, Margaret Qualley

Länge: 141 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Poor Things“

Metacritic über „Poor Things“

Rotten Tomatoes über „Poor Things“

Wikipedia über „Poor Things“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Yorgos Lanthimos‘ „The Killing of a sacred Deer (The Killing of a sacred Deer, Großbritannien/Irland 2017)

Meine Besprechung von Yorgos Lanthimos‘ „The Favourite – Intrigen und Irrsinn“ (The Favourite, USA 2018)

3 Responses to Neu im Kino/Filmkritik: Über Yorgos Lanthimos‘ Venedig-Gewinner „Poor Things“

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