
Der Klappentext verspricht den Auftakt einer 1910 in Prag spielenden furiosen Krimi-Serie mit Egon Erwin Kisch, den es wirklich gab, und Lenka Weißbach, eine Erfindung des Autorenduos Martin Beck/Tabea Soergel, als Protagonisten. Das klingt doch verheißungsvoll. Kisch lebte von 1885 bis 1948. Er ist ein legendärer Reporter, der auch ‚der rasende Reporter‘ genannt wurde. Der renommierte Egon-Erwin-Kisch-Preis, der jedes Jahr die beste deutschsprachige Reportage auszeichnet, ist nach ihm benannt.
Dass er als Protagonist einer mehr oder weniger erfundenen Krimiserie fungiert, ist auch nicht schlecht. Diese Verbindung von Fact und Fiction gibt es ja öfters. Mal näher an den Fakten und tatsächlichen Ereignissen, mal weiter weg von der Realität. Und die Jahre, in denen Kisch als Reporter arbeitete, waren politisch so unruhig, dass genug Material für spannende Geschichten vorhanden ist.
Auch der Anfang – eine stimmungsvolle Nachtszene auf der Franzens-Brücke in Prag und dem Hinweis auf das vermeintlich drohende Unheil durch die Ankunft des Halleyschen Kometen – liest sich gut. Vor allem weil das erste Kapitel nach sechs Seiten mit der ersten Leiche, einem Mann, der mit entsetzt aufgerissenen Augen in den Sternenhimmel starrt, endet.
Auf den nächsten Seiten führen Martin Becker und Tabea Soergel in ihrem Roman „Die Schatten von Prag“ die beiden Protagonisten ein. Zuerst Lenka Weißbach. Sie ist eine junge Frau, die aus Berlin nach Prag zu ihrer zunehmend pflegebedürftigen Mutter zurückkehrt. Auf der Hinfahrt im Zug trifft sie die Frau, die für die bald in Prag stattfindenden Morde verantwortlich ist. Das wird auch im Roman schon so früh enthüllt, dass der gestandene Krimileser eine falsche Fährte vermutet.
In Prag trifft Lenka kurz darauf wieder auf Egon Erwin Kisch. Er ist ein nimmermüder Journalist, der für Tageszeitung „Bohemia“ über Verbrechen und das Leben in Prag schreibt. Er bietet ihr eine Stelle in der Redaktion an. Sie akzeptiert und schnell recherchieren sie in einer Mordserie, in der der Mörder seine Morde als Suizide tarnt.
Ungefähr in diesem Moment, irgendwo zwischen dem ersten und dem zweiten Mord, begibt der Roman sich in die falsche Richtung. „Die Schatten von Prag“ ist kein historischer Kriminalroman. Dafür ist die Kriminalgeschichte viel zu nebensächlich. Immer wieder, über Dutzende von Seiten wird er nicht beachtet. Über die Opfer erfahren wir nichts. Es werden keine Spuren zum Täter verfolgt und es gibt auch keine Verdächtigen. Es gibt nichts, was zu einer Kriminalgeschichte gehört.
Auch auf den letzten Seiten, wenn die Geschichte eigentlich zum Höhepunkt, zur Enttarnung des Täters, schreiten sollte, ist Zeit für längliche Abschweifungen, die die dreihundertseitige Kriminalgeschichte in keinster Weise voranbringen. Stattdessen dürfen wir auf den Seiten 241 bis 256 lesen, wie Lenka den Tag und den Abend mit ihrer Freundin verbringt. Davor verbringt Kisch mit Brodersen mehrere Seiten beim lockeren Gespräch über Banalitäten in einem Lokal.
Viel mehr als der Kriminalfall interessieren Becker und Soergel sich für Lenkas Leben und Liebesleben zwischen dementer Mutter, nicht besuchten Vorlesungen an der Universität, Bekanntschaft und vor der Mutter angekündigter Heirat mit ihrem Arbeitskollegen Heinrich Brodesser und ihrer wahren Liebe. Denn Lenka liebt nicht Brodesser, sondern Frauen. Das ist alles nicht so wahnsinnig interessant, füllt aber zuverlässig viele Seiten.
Kisch wird beschrieben als Trinker, der in seinen Reportagen bedenkenlos flunkert und lügt. Als er auf Seite 105, also am Ende des ersten Drittels des Romans, von seinem neuen Chef Gruber für den Rest der Geschichte von seinen Aufgaben als Kriminalreporter entbunden wird, sucht er nicht auf eigene Faust nach dem Täter. Schließlich ist die Suche nach dem Mörder nicht mehr seine Aufgabe. Er ertrinkt im Selbstmitleid und wird zum Vollzeittrinker. Erst kurz vor Schluss beginnt er wieder den oder die Täter zu suchen. Aber in diesem Moment ist bereits jedes Interesse an diesem Nicht-Kriminalroman, der auch über keine anderen Qualitäten verfügt, erloschen.
Für Anfang Oktober ist „Die Feuer von Prag – Kischs zweiter Fall“ angekündigt. Ich bin nicht neugierig.
P. S.: Schönes Cover.
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Martin Becker/Tabea Soergel: Die Schatten von Prag – Kischs erster Fall
Kanon Verlag, 2024
312 Seiten
24 Euro
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