Neu im Kino/Filmkritik: „The Negotiator“, ein Pflichttermin für zur Paranoia neigende Thrillerfans

Ash (Riz Ahmed) ist der titelgebende ‚Negotiator‘. Er vermittelt zwischen Whistleblowern, die kalte Füße bekommen und die belastenden Dokumente gerne an ihre Arbeitgeber zurückgeben würden, und den Arbeitgebern, die diese Dokumente gerne wieder hätten. Für die Rückgabe der Dokumente und das damit verbundene Schweigen und Untertauchen des Whistleblowers an einem unbekannten Ort müssen die Firmen etwas Schweigegeld bezahlen. Es ist sicher kein Geschäft, das die Welt besser macht – das wäre, wenn die Informationen des Whistleblowers veröffentlicht und die von ihm geschilderten Missstände abgestellt würden – aber immerhin ein Geschäft, das einen Menschen, der sein Gewissen entdeckte und der jetzt Angst um sein Leben hat, wieder ruhiger schlafen lässt.

Weil diese Verhandlungen sehr gefährlich sind, führt Ash in New York City ein anonymes Leben im Untergrund. Niemand kennt ihn. Meistens ist er allein. In Gruppen schweigt er. Immer wenn eine Kamera ihn aufnehmen könnte, verschwindet er in der Masse. Mittels modernster Technik, seit langem bewährten Methoden und, was sich zum Running Gag des Thrillers entwickelt, eines altmodischen, aber immer noch aktiven Relay-Dienstes wickelt er seine Geschäfte ab.

Die meisten Menschen werden sich jetzt fragen, was ein Relay-Dienst ist. Ein solcher Dienst hilft hör- und sehgeschädigten Menschen beim Telefonieren. Im Film gibt der eine Teilnehmer an dem Gespräch seine Texte auf einer Tastatur ein. Der Relay-Dienst liest dem anderen Teilnehmer dann die Nachricht vor. Diese antwortet, indem sie ihre Antwort eintippt und sie dem anderen Teilnehmer vorlesen lässt. So kennen die Teilnehmer die Stimme des anderen Gesprächsteilnehmers nicht. Das Gespräch kann nicht zurückverfolgt werden. Und der Relay-Dienst ist zu strikter Anonymität verpflichtet. Er gibt keine Auskunft über seine Kunden, wann sie telefonierten und noch weniger über die Gesprächsinhalte. Für Ash ist die Tri-State Relay Station das perfekte Medium zur Kommunikation mit seinen Kunden.

Sein neuester Kunde ist Sarah Grant (Lily James). Sie arbeitet für ein Biotech-Unternehmen, das eine große Schweinerei mit allen Mitteln vertuschen will. Nach einigen seltsamen Ereignissen fürchet Sarah, dass ihr Arbeitgeber sie töten will. Sie hofft, durch die Rückgabe der Dokumente ihr Leben zu retten. Aber sie weiß auch, dass sie eine Lebensversicherung braucht. Dafür engagiert sie Ash.

Ash beginnt mit den Verhandlungen, die aus dem Ruder laufen. Sie wird beobachtet. Das ist nichts ungewöhnliches und damit kann Ash gut umgehen. Ungewöhnlicher ist, dass – wie wir Zuschauer wissen – dieses Beobachterteam ihn unbedingt fangen will. Gleichzeitig entwickelt er für die ängstliche und sich immer wieder etwas ungeschickt verhaltende Sarah Gefühle. Er beginnt die Regeln, die ihm bislang ein Leben in Sicherheit verschafften, zu dehnen und zu brechen.

The Negotiater“ ist ein straffer 70er-Jahre-Paranoiathriller, der nicht im Geheimagentenmilieu, sondern in der Welt der Wirtschaft spielt, in der skrupellose Konzerne ihre Interessen mit allen Mitteln schützen.

Das ist spannend und wird von David Mackenzie, von dem auch der vorzügliche Neo-Western „Hell or high Water“ stammt, glaubwürdig erzählt; – auch wenn die Story, wenn man drüber nachdenkt, blühender Unfug ist. In der Realität dürften solche Verhandlungen, wie in „Michael Clayton“, von anzugtragenden Wirtschaftsanwälten erledigt werden. Oder das Unternehmen startet spätestens nach der Veröffentlichung der Dokumente einfach eine Schmutzkampagne gegen den Whistleblower und macht ihn mit Gerichtsverfahren mundtot.

Aber für die zwei Filmstunden glauben wir, dass es Ash gibt, er für Sarah einen Deal aushandeln will und er von einer von anynomen Konzernen bezahlten Spezialeinheit durch die Häuserschluchten von New York gejagt wird. Es ist die graue Welt der Geheimdienste, in der die Welt keine James-Bond-Actionbonanza, sondern ein Schachspiel ist, in dem geduldig die Figuren über das Spielfeld geschoben und in die richtige Position gebracht werden.

Am Ende gibt es eine gelungene Überraschung und, leider auch, einige Actionklischees und vorhersehbare Wendungen. Diese funktionieren nur, weil Ash von seinen Regeln abweicht. Denn normalerweise wäre er in dem Moment, in dem es für ihn brenzlig wird, wie ein Geheimagent im feindlichen Gebiet, einfach untergetaucht und verschwunden.

Das ist nur ein kleiner Kritikpunkt an einem insgesamt äußerst gelungenem Old-School-Thriller, der sich auf sein Drehbuch, die Locations und die Schauspieler verlässt.

The Negotiator (Relay, USA 2024)

Regie: David Mackenzie

Drehbuch: Justin Piasecki

mit Riz Ahmed, Lily James, Sam Worthington, Willa Fitzgerald, Jared Abrahamson, Victor Garber, Matthew Maher

Länge: 113 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „The Negotiator“

Metacritic über „The Negotiator“

Rotten Tomatoes über „The Negotiator“

Wikipedia über „The Negotiator“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von David Mackenzies „Hell or High Water“ (Hell or High Water, USA 2016) (nach einem Drehbuch von Taylor Sheridan)

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