Iva Procházková nimmt „Die Spur der Kälte“ auf

Am 13. Dezember wird im winterlich verschneiten Prag im Garten einer Zwischenkriegsvilla eine Frauenleiche gefunden. Während Kriminalrat Marián Holina vom Dezernat für Tötungsdelikte noch rätselt, wer die Tote ist und wer sie vor einigen Tagen ermordete, haben wir Leser von Iva Procházkovás Kriminalroman „Die Spur der Kälte“ bereits eine ziemlich gute, sich später bestätigende Idee über ihre Identität. Es handelt sich um die 22-jährige Tran Chau Anh, eine Vietnamesin mit tschechischer Staatsbürgerschaft. Sie studierte Jura, lebte in einer Wohngemeinschaft und, obwohl ihre geschiedenen Eltern vermögend sind, arbeitete sie als Pflegeassistentin von Andrej und Tamara Knotek und kellnerte in einer ‚Oben-Unten-Ohne‘-Bar. Einer der Kunden des Lokals könnte sie ermordet haben.

Ein anderes, noch besseres Motiv ergibt sich aus ihrer Arbeit als Assistentin. Nach einem schweren Unfall, bei dem der Ingenieur Andrej sich am Kopf verletzte, wurde er wieder zum Kind, das mehr oder weniger ständig beaufsichtigt werden muss. Anh erledigt diese Aufgabe an einigen Stunden in der Woche. Inclusive, und ohne dass Tamara es erfährt, kleineren sexuellen Gefälligkeiten. Er gibt ihr immer wieder Geld. Und vergisst es anschließend. Neben Anh hilft die junge Physiotherapeutin Doubravka Andrej.

Es ist eines dieser Pflegenetzwerk, in dem viele Menschen viele intime Details aus dem Leben der anderen wissen. Beispielsweise, dass die Knoteks bei der letzten Ziehung des Eurojackpots den Hauptgewinn gewonnen haben. Dummerweise ist der Wettschein, der jetzt 45 Millionen Euro wert ist, unauffindbar.

Im folgenden konzentriert Procházková sich nicht auf die polizelichen Ermittlungen. Sie entfaltet ein ausuferndes Bild, in dem sie von den vielen Verdächtigen, ihrem noch größerem Umfeld und ihrem Leben nach der Entdeckung von Anhs Leiche erzählt. Der Leser, der versucht bei der Mördersuche mitzurätseln, wird dabei genötigt, immer mehr potentiell Verdächtige aus der Liste der möglichen Täter zu streichen. Vor allem, weil sie immer noch den Lottoschein suchen. Oder keine sichtbaren Wunden haben. Denn Anh wehrte sich.

Die Spur der Kälte“ ist also kein Rätselkrimi. Er ist auch kein Polizeiroman, der sich auf die Arbeit der Polizei konzentriert. Er ist ein Mini-Mini-Gesellschaftsporträt, das den Fokus auf verschiedene Menschen lenkt, die von einem Mord betroffen sind und von denen einer der Mörder sein könnte. Procházková erzählt dies sehr kleinteilig in einem angenehm Tonfall, der sich an klassischen Erzähltugenden orientiert. Außerdem erfahren wir einiges über die kriminalliterarisch wenig erkundete tschechische Hauptstadt, die sich in diesem Fall und mit diesen Verdächtigen und ihren Problemen kaum von einer anderen westlichen Metropole unterscheidet. Besonders spannend ist das dann nicht. Die Auflösung, in der der Mörder uns in seinen Gedanken den Tathergang schildert, gerät eher unbeholfen.

Iva Procházková wurde 1953 in Olmütz, Tschechoslowakei, geboren. Sie lebte viele Jahre in Österreich und Deutschland. Seit 2001 lebt sie in Prag. Neben den Romanen für Erwachsene schrieb sie Drehbücher und Kinder- und Jugendbücher. Für diese erhielt sie, unter anderem, den Deutschen Jugendliteraturpreis, den Österreichischen Jugendbuchpreis und den Luchs des Jahres.

Iva Procházková: Die Spur der Kälte – Ein neuer Fall von Kommisaar Holina

(übersetzt von Mirko Kraetsch)

braumüller, 2025

432 Seiten

22 Euro

Originalausgabe

Dívky nalehko

Paseka, Prag 2016

Außerdem von Iva Procházková erhältlich

Iva Procházková: Der Mann am Grund – Der erste Fall von Kommissar Holina

(übersetzt von Mirko Kraetsch)

braumüller, 2018

448 Seiten

19 Euro

Originalausgabe

Muz na dne

Paseka, Prag 2014

Iva Procházková: Die Residentur

(übersetzt von Miko Kraetsch)

braumüller, 2020

576 Seiten

24 Euro

Originalausgabe

Nekomprimisme

Paseka, Prag 2019

Hinweise

Homepage der Autorin

braumüller über Iva Procházková

Perlentaucher über Iva Procházková

Wikipedia über Iva Procházková

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