Neu im Kino/Filmkritik: Über den chilenischen Western „Colonos“

Februar 15, 2024

1901 schickt der chilenische Landbesitzer José Menéndez einen kleinen Trupp los. Offiziell sollen der britische Lieutenant MacLennan, der US-amerikanische Söldner Bill und das einheimische Halbblut Segundo in Feuerland sein ihm von der Regierung zugewiesenes Land und Transportwege sichern. In Wirklichkeit sollen sie die dort lebende indigene Bevölkerung beseitigen. Die Mission wird zu einer ziemlich blutigen Angelegenheit, die nichts von dem Pioniergeist klassischer Westerngeschichten hat. Es ist ein sich in seinem gesamten inhumanen Umfang langsam entfaltender Alptraum in einem menschenleeren Land.

Felipe Gálvez erzählt in seinem Debütfilm „Colonos“ von einem vergessenen Teil der Vergangenheit Chiles, nämlich der blutigen Kolonisierung Feuerlands, als eine Mischung aus wenig Fiktion und viel historischer Wahrheit. So gab es den Landbesitzer Menéndez, MacLennan und den im Zentrum des Films stehenden Völkermord an den in Feuerland lebenden Selk’nam.

Gálvez sagt über seinen Western, er sei keine „true reconstruction of history. Rather it is a reflection on how fiction, and especially cinema, can modify and distort it, and even rewrite it.“ Dabei setzt er einiges an historischem Wissen über die Geschichte Chiles voraus.

Er erzählt seinen düsteren Western in langen, statischen Einstellungen und in zwei großen Erzählblöcken. Im ersten, knapp siebzig Minuten langen Teil erzählt er die Geschichte von MacLennan, Bill und Segundo. In der letzten halben Stunde, die sieben Jahre später spielt, untersucht Vicuna, ein Gesandter des chilenischen Präsidenten, die damaligen Ereignisse. Er unterhält sich, getrennt und in deren Häusern, mit Menéndez und Segundo.

Colonos“ ist ein sperriger Arthaus-Western (mit der Betonung auf Arthaus) für ein begrenztes Publikum.

Colonos (Los Colonos, Argentinien/Chile/Dänemark/Deutschland/Frankreich/Schweden/Taiwan/Großbritannien 2023)

Regie: Felipe Gálvez

Drehbuch: Felipe Gálvez, Antonia Girardi

mit Mark Stanley, Camilo Arancibia, Benjamin Westfall, Alfredo Castro, Mishel Guana, Agustin Rittano, Sam Spruell, Marcelo Alonso

Länge: 100 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Internationler Titel: The Settlers

Hinweise

Filmportal über „Colonos“ (die Freuden internationaler Filmfinanzierung)

Moviepilot über „Colonos“

Metacritic über „Colonos“

Rotten Tomatoes über „Colonos“

Wikipedia über „Colonos“ (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: Der gar nicht so ehrenwerte „El Club“

November 9, 2015

Vier Männer leben in einem unauffälligem Haus. Eine Hausdame umsorgt sie mit liebevoller Strenge und, als ein neuer Hausbewohner kommt, erklärt sie ihm erst einmal die Hausregeln, die, so kryptisch sie auch sind, verdeutlichen, dass die Bewohner katholische Geistliche sind und sie für verschiedene, weitgehend im Dunkeln bleibende Taten in diesem Haus sozusagen inhaftiert sind. Ausgang haben in den Morgen- und Abendstunden, wenn niemand auf der Straße ist und selbst wenn sie jemand begegnen, dürfen sie nicht mit ihm sprechen.

Solche Häuser gibt es wirklich und die katholische Kirche hat eine lange Tradition, Probleme auf ihre Art (und damit abseits jeglicher irdischen Justiz) zu beseitigen. Dass dieses Totschweigen von Problemen sie nicht löst, zeigt „El Club“ allerdings auch sehr deutlich. Denn kurz nachdem der neue Gast aufgenommen ist, beginnt vor dem Haus ein Mann zu pöbeln und wilde Anklagen auszustoßen. Der neue Gast sieht nur einen Ausweg: er bringt sich um. Gegenüber der Polizei wird eine geschönte Version der Tat erzählt und die Kirche schickt einen Inquisitor, der prüfen soll, ob das Haus weiter existieren oder geschlossen werden soll. Er unterhält sich mit den schweigsamen Bewohnern, die alle keine Einsicht in ihre Taten haben, sie leugnen oder verklären. Auch wenn es nicht immer um Missbrauch von Kindern geht, ist diese kollektive Vertuschung durch die Täter, denen von der Kirche nicht geholfen wird, und ihrer gesichtslosen Vorgesetzten, die nur an den guten Ruf der Kirche denken, der wirklich erschreckende Teil von „El Club“. An die Opfer wird nicht gedacht. Es wird auch nicht nach einer Lösung gesucht.

Weil Pablo Larrain („No“) in seinem neuen Film vieles in der Schwebe lässt und vieles nur andeutet, kann „El Club“ auch als Metapher auf jedes System mit Allmachtsanspruch und ohne externe Kontrolle gesehen werden. Das ist die Stärke und auch die Schwäche des kargen Films, der Fragen stellt, ohne Antworten zu geben, es noch nicht einmal versucht und der seine nur angedeutete Geschichte so allgemeingültig erzählt, dass die Anklage gegen die Kirche, – jedenfalls für uns Westeuropäer, die schon seit Jahrhunderten in säkularisierten Gesellschaften leben und in denen die Kirche in den vergangenen Jahrzehnten viel von ihrer Macht einbüßte -, so zahm ausfällt, dass sie reichlich zahnlos und deshalb fast schon ärgerlich ist.

Denn die Geistlichen sind wegen verschiedener Vergehen (vulgo Sünden) in dem Haus. Der eine wegen sexuellen Missbrauchs; der andere wegen krummer Geschäfte bei der Adoptionsvergabe von Säuglingen; der andere wegen seiner Arbeit als Militärgeistlicher während der Diktatur (und jetzt haben einige mächtige Leute Angst, dass er gegen das Beichtgeheimnis verstoßen könnte) und der Vierte, ein sprachloser, pflegebedürftiger Greis, ist aus inzwischen vollkommen unbekannten Gründen in dem Haus; – was in seinem Fall natürlich etwas kafkaesk anmutet. Diese nur in ein, zwei Halbsätzen vorgestellten Fälle sind dann zu unterschiedlich, um sie als gleichartig zu behandeln. Entsprechend abstrakt und stumpf fällt die Anklage gegen die Kirche aus. Es sind einfach zu viele verschiedene Themen und Probleme, die nur angedeutet werden und die sich nicht gegenseitig befruchten. Auch die Frage des kirchlichen Machtanspruchs und weshalb die Männer sich ihm während des gesamten Films so willig unterordnen, wird nur angedeutet.

Da war, zum Beispiel „Philomena“, der seine Geschichte an einem konkreten Fall entlang und aus der Sicht eines Opfers erzählte, wesentlich klarer in seiner Anklage gegen die katholische Kirche, die Mütter von ihren unehelichen Kindern trennte und in die USA verkaufte.

Auch der verquere deutsche Film „Verfehlung“ über einen pädophilen Geistlichen, bei dem, wie in „El Club“ die Täter und Vertuscher im Mittelpunkt stehen, wurde hier konkreter.

Auf der diesjährigen Berlinale erhielt Pablo Larraíns Drama „El Club“ den Silbernen Bären.

El Club - Plakat - 4

El Club (El Club, Chile 2015)

Regie: Pablo Larraín

Drehbuch: Guillermo Calderón, Daniel Villalobos, Pablo Larraín

mit Alfredo Castro, Roberto Farías, Antonia Zegers, Jaime Vadell, Alejandro Goic, Alejandro Sieveking, Marcelo Alonso, José Soza, Francisco Reyes

Länge: 97 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Film-Zeit über „El Club“

Moviepilot über „El Club“

Rotten Tomatoes über „El Club“

Wikipedia über „El Club“