Kurz vor dem Kinostart von “Anselm – Das Rauschen der Zeit” durfte die Kriminalakte mit Wim Wenders über sein bildgewaltiges Künstlerporträt und seinen nächsten, in Japan spielenden wundervollen Film “Perfect Days” (Kinostart: 21. Dezember 2023) reden.
Anselm Kiefer ist einer der, vielleicht sogar der größte lebende deutsche Künstler. Er beschäftigt sich in seinem Werk immer wieder mit der deutschen Vergangenheit und deutschen Mythen. Über die überschwängliche Anerkennung im Ausland wurde er in den achtziger Jahren auch in Deutschland anerkannt. Die Verleihung des Wolf-Preises 1990 sorgte für eine weitere Revision der bundesdeutschen Kiefer-Rezeption. Gleichzeitig erweiterte Kiefer seinen Themenkreis von der deutschen Geschichte hin zu orientalischen Kulturen, jüdischer Mystik, Astronomie und Kosmogonien.
Seine Werk umfasst Fotografie, Künstlerbuch, Holzschnitt, Malerei, Skulptur, Bühnenbild, Installation und Architektur. Seine Werke sind oft sehr groß. In Barjac, das sich grandios als Kulisse für eine Spielfilm-Dystopie eignet, gibt es mehrstöckige Häuser, ein Amphitheater und viele weitere Installationen, die – wenn man nicht das Freilichtmuseum besuchen will – auf einer großen Kinoleinwand überwältigend gut aussehen. Wim Wenders zeigt das in „Anselm – Das Rauschen der Zeit“.
Wim Wenders ist ebenfalls Jahrgang 1945 und er ist einer der wenigen weltweit anerkannten und bekannten deutschen Regisseure. Zu seinen bekanntesten und wichtigsten Filmen gehören “Alice in den Städten”, “Im Lauf der Zeit”, “Der amerikanische Freund”, “Paris, Texas” und “Der Himmel über Berlin”. Noir-Fans lieben auch seine Joe-Gores-Verfilmung “Hammett”. Neben den Spielfilmen inszenierte er zahlreiche Dokumentarfilme, wie “Tôkyô-ga“, “Pina“, “Das Salz der Erde” und, zuletzt, “Papst Franziskus – Ein Mann seines Wortes“.
Wim Wenders über die erste Begegnung mit Anselm Kiefer und wie es zu „Anselm“ kam:
Das war im Februar 1991. Ich war damals in Berlin und habe einen meiner Filme geschnitten. Abends bin ich immer zu Fuß in mein Lieblingsrestaurant, das „Exil“, gegangen. Anselm hat zur gleichen Zeit mehrere Wochen lang seine Ausstellung in der Nationalgalerie vorbereitet. Eines Tages kam er in das „Exil“. Es war ihm wohl empfohlen worden. Es gab nur einen Tisch mit einem freien Platz. Das war meiner. Er hat sich zu mir hingesetzt. Ich wusste, wer er ist. Und er wusste wohl auch, wer ich war. Wir haben, etwas schüchtern, angefangen, uns zu unterhalten. Wir verstanden uns gut. Er bot mir sogar eine seiner Zigarren an. In der Zeit war das „Exil“ immer unglaublich verqualmt.
Am Ende des Abends verabredeten wir uns für den nächsten Abend. Das haben wir fast zwei Wochen lang gemacht und viel über uns erfahren.
In den zwei Wochen kam dann irgendwann der feste Plan für einen Film auf. Ich wusste, dass Anselm ein Maler war, der auch eigentlich Filme machen wollte. Er wusste, dass ich ein Filmemacher war, der eigentlich Maler werden wollte. Wir dachten, dass wenn wir zwei was machen würden, daraus etwas Interessantes entstehen könnte.
Das hat dann Gott sei Dank dreißig Jahre gedauert. Ich weiß nicht, was damals aus unserer Idee geworden wäre.
Über seinen ersten Besuch in Barjac, die Dreharbeiten und den Schnitt:
Vor dreißig Jahren wäre es jedenfalls ein völlig anderer Film geworden. Ich habe ja erst langsam die Möglichkeiten des Dokumentarfilm entdeckt. Dass ich „Anselm“ in 3D drehen würde, wusste ich nach meinem ersten Besuch in Barjac. 2019 lud mich Anselm dorthin ein. Er gab mir eine Karte vom Gelände und hat mich allein gelassen.
Das mache ich sehr gerne, dass mir niemand was erklärt und ich alles allein erkunde. Im Museum nehme ich keine Audioguides mit. Städte erkunde ich lieber mit einem Stadtplan als mit einem Navi. Ich möchte einfach gucken. Und wenn ich dann was verpasse, dann ist das völlig egal.
Ich verbrachte dann den ganzen Tag auf dem Gelände. Zehn Stunden. Es war ein schöner Sommertag. Ich habe mich in den Gängen verloren und musste manchmal wieder zurückgehen, um den Weg rauszufinden. Ich sah das Amphitheater, die ganzen Häuser und die Himmelspaläste.
Am Abend haben wir uns wieder gesehen. Und dann habe ich eigentlich gleich, als wir uns hingesetzt haben, gesagt: „Ich weiß, warum du mich eingeladen hast.“ Er sagte: „Ich werde älter und möchte nicht, dass wir den Film erst machen, wenn ich sowieso alles vergessen habe.“ Danach versprachen wir uns, dass wir bald mit dem Film anfangen würden.
Als ich das erste Mal in Barjac drehte, wusste ich noch nicht, wie der Film am Ende aussehen sollte. Ich sagte ihm, wann ich wo drehte. Beim Dreh im Odenwald war er nicht dabei. In Rastatt nur am Schluss. In Barjac haben wir sieben Mal gedreht. Während des zweieinhalbjährigen Drehs schnitten wir den Film. Der Rohschnitt hat dann beeinflusst, was wir drehten. So wussten wir irgendwann, dass auch Anselms Zeit im Odenwald und seine Kindheit in den Film gehörten.
Ganz am Schluss bemerkten wir, dass wir Anselm noch nicht in einer Ausstellung gezeigt hatten. Da erzählte er mir von seiner geplanten Ausstellung im Dogenpalast in Venedig. Diese Ausstellung war der letzte Dreh. Kurz danach war der Film fertig.
Im Nachhinein ist vielleicht einiges zu kurz gekommen. Aber ich wollte nicht alles zeigen. Ich will die Zuschauer mitnehmen in dieses Universum von Anselm Kiefer.
Über die Zusammenarbeit mit Anselm Kiefer:
Anselms Ästhetik ist in jedem seiner Gebäude und all seinen Werken, die in Barjac stehen. Barjac ist ein großes Gesamtkunstwerk, unter und oberirdisch.
Er arbeitet gerne alleine und mitten in der Nacht, wenn keine Seele mehr wach ist. Dann steigt er in seine Schluppen und zieht den Bademantel an. Er malt dann bis die Sonne aufgeht. Danach geht er wieder schlafen.
Auf die Gestaltung des Films hat er keinerlei Einfluss gehabt. Er wollte das auch absolut nicht. Er sagte mir: „Du sagst mir, was du drehen willst und dann bin ich da.“
Der einzige Widerspruch von ihm war, als er bei einem langen Gespräch sagte: „Findest du nicht auch, dass es das Langweiligste ist, einen Maler beim Malen zu sehen?“ Ich sagte ihm, dass ich ihm gerne dabei zusähe. Dann hat er ein bisschen gegrummelt, aber weil er mir ja vorher gesagt hatte, ich könne machen, was ich wolle, hat er letztlich zugestimmt.
Vor den Dreharbeiten: Gespräche mit Anselm Kiefer und die Bedeutung des Rheins für Kiefer und Wenders:
Zur Vorbereitung des Films haben Anselm und ich erst einmal lange geredet. Wir haben uns an zehn Tagen getroffen und für jeden Tag ein Thema gehabt. Wir haben uns ziemlich gut an das für den Tag vorgegebene Thema gehalten und in allen Facetten, auch mit Beispielen aus seinen Arbeiten, beleuchtet. Wir haben alles aufgenommen. Daraus wurden allen Ernstes 1200 Transkriptseiten, die mein Büro schreiben musste.
Aber es war gut, denn so musste ich ihn später nicht mehr über sein Leben und seine Ansichten befragen. Ich habe ihn auch beobachtet. Wenn man sich genauer kennenlernt, merkt man auch, wie viel Kind in jemand übrig geblieben ist. Ich habe dafür einen besonderen Blick. Ich will in einem Erwachsenen eigentlich immer das Kind erkennen, das er oder sie mal war. Manchmal sieht man nichts. Bei vielen Menschen sieht man es nicht mehr. Ich weiß nicht, wie das bei mir selbst ist, aber es liegt auch an anderen, das zu sehen. In Anselm habe ich das Kind gut gesehen.
Damals habe ich nicht gedacht, dass seine Kindheit im Film vorkommen würde. Ich wollte nur, dass wir über alles, was mir wichtig schien, reden.
Nachdem wir schon einige Male gedreht hatten, bemerkte ich, dass ich das Thema Kindheit nur über Text behandelte. Dabei wollte ich im Film nichts sagen. Ich wollte auch nicht, dass Anselm im Film viel redet.
Da habe ich gedacht: dann muss ich es inszenieren. In dem Moment hat mir geholfen, dass ich zu dem Zeitpunkt das Haus entdeckte, in dem Anselm als Kind lebte, und das er zurückgekauft hatte. Sein Vater unterrichtete an dieser Grundschule. Anselm wohnte in einem Zimmer unter dem Dach, das immer noch so erhalten ist.
Seine Kindheit habe ich dann in dem Zimmerchen unter dem Dach und dem nahen Rhein inszeniert. Ich wusste, dass er viel Zeit am Rhein zugebracht hat.
Das verband mich mit ihm. Der große Abenteuerplatz meiner Kindheit war der Rhein. In Düsseldorf gab es auch nichts anderes. Da gab es den Rhein und die Rheinwiesen. Vieles war verboten. Trotzdem sind wir als Kinder dann doch in die Ruinen reingegangen. Wir waren immer in den Trümmern.
Aber der Rhein und der Geruch des Rheins sind meine allertiefste Erinnerung. Der Rhein hat Anselm und mich verbunden. Außerdem unser Aufwachsen in einem Land, das es nicht mehr gab und das nach dem Krieg erst wieder neu erfunden werden musste.
Über Daniel Kiefer (Sohn von Anselm Kiefer) und Anton Wenders (Großneffe von Wim Wenders), die Anselm Kiefer als jüngeren Mann und Jungen spielen:
Wir haben Daniel Kiefer als jungen Anselm genommen, ohne Anselm zu fragen. Das wollte er so. Er hat mir vorher gesagt: „Ich will nicht wissen, was du drehst. Du drehst, was du willst. Solange du mich überraschst, kannst du drehen, was du willst. Von mir kriegst du keinen Input.“
Daniel war für mich wichtig, weil er mein einziger Zeitzeuge für die fünfzehn Jahre war, in denen Anselm niemand traf. Nur seine Frau und seine Kinder wussten, wie er gelebt hat. Es gibt ein paar Fotos, aber es hat ihn dort im Odenwald niemand besucht. Da war kein Galerist, da war kein Kunsthändler, da war kein Kunstgeschichtler, Anselm ist fünfzehn Jahre in völliger Anonymität als Maler großgeworden und hat vieles von dem, was sein Schaffen ausmacht, in den Grundzügen schon im Odenwald in Hornbach in seinem Atelier in der Dorfschule geschaffen. Er hat da ganz allein gearbeitet und war völlig unbekannt. Der einzige, der ein bisschen was von seinem Werk kannte, war Joseph Beuys. Zu ihm ist er, mit ein paar aufgerollten Leinwänden, hin und wieder gefahren. Kiefers Frau arbeitete als Lehrerin. Anselm beaufsichtigte die Kinder. Er hat gekocht, viel im Haushalt gemacht und er malte. Daniel saß dann oft auf dem Dachboden-Atelier bei ihm. Sie unternahmen auch viele gemeinsame Fahrradtouren.
Erst von Daniel erfuhr ich, dass Anselm fast jeden Tag die Landschaft fotografierte. Bis heute gehen viele seiner Bilder zurück auf diese Fotos. Anselms gesamte Malerei ist nach wie vor realitäts- und fotobezogen.
Daniel war für diese Zeit mein Kronzeuge. Nachdem er mir so viel über seinen Vater erzählt hatte, habe ich ihn gefragt, ob er sich, wenn wir die richtigen Drehorte fänden, zutrauen würde, seinen Vater zu spielen. Er war einverstanden.
Nach den Aufnahmen mit Daniel, in denen wir einen Maler zeigen, den niemand kennt, entschloss ich mich, auch Anselms Kindheit in Ottersdorf zu zeigen.
Wir suchten in der Gegend von Karlsruhe nach Kindern, die den dortigen Akzent beherrschen. Anselm hat als Junge richtig fett badisch gesprochen. Den Akzent hat er immer noch. Beim Casting überzeugte mich niemand und ich überlegte schon, wie ich diesen Abschnitt aus Anselms Leben anders zeigen könnte.
Als ich das nächste Mal bei meiner Familie in München war, hat mein Großneffe Anton mir mal wieder die Welt erklärt. Das kann er gut. Er will Wissenschaftler werden. Er weiß wirklich sehr viel über Physik, Biologie und Chemie. Er programmiert auch Computer. Ich habe ihm nur zugehört und zugeguckt und dachte: „Warum suchst du denn groß? Er hat alles, was du suchst.“
(Den zweiten Teil des Interviews gibt es im Dezember zum Start von „Perfect Days“. Foto: Axel Bussmer)
Anselm – Das Rauschen der Zeit (Deutschland/Frankreich 2023)
Wim Wenders erkundet Städte und Museen gerne auf eigene Faust. Er läuft los und lässt sich überraschen. Auch Barjac erkundete er so. Anselm Kiefer hatte ihm einen Plan der Anlage gegeben und ließ den gleichaltrigen Wenders losziehen. Das war 2019. Danach wusste Wenders, dass er jetzt endlich den schon seit Ewigkeiten geplanten Film mit und über Anselm Kiefer machen musste.
Der am 8. März 1945 in Donaueschingen geborene Kiefer ist einer der, vielleicht sogar der größte deutsche Künstler. Er beschäftigt sich immer wieder mit der deutschen Vergangenheit und deutschen Mythen. Erst über die Anerkennung im Ausland wurde er in den achtziger Jahren auch in Deutschland anerkannt. Die Verleihung des Wolf-Preises 1990 sorgte für eine weitere Revision der bundesdeutschen Kiefer-Rezeption. Gleichzeitig erweiterte Kiefer seinen Themenkreis von der deutschen Geschichte hin zu orientalischen Kulturen, jüdischer Mystik, Astronomie und Kosmogonien.
Seine Werk umfasst Fotografie, Künstlerbuch, Holzschnitt, Malerei, Skulptur, Bühnenbild, Installation und Architektur. Seine Werke sind oft sehr groß. In Barjac, das sich grandios als Kulisse für eine Spielfilm-Dystopie eignet, gibt es mehrstöckige Häuser, ein Amphitheater und viele weitere Installationen, die – wenn man nicht das Freilichtmuseum besuchen will – auf einer großen Kinoleinwand überwältigend gut aussehen.
Ob das unbedingt in 3D sein muss, ist dagegen eher Geschmacksache. Ich empfand die 3D-Bilder, wieder einmal, als zu dunkel und unnatürlich.
Diese Idee des ziellosen Erkundens überträgt Wenders auf seinen Dokumentarfilm „Anselm – Das Rauschen der Zeit“. Er erkundet, was oft begeht bedeutet, die Werke von Kiefer. Er zeigt ihn bei der Arbeit in seinem riesigen Atelier mit seinen Assistenten und seinem Fahrrad, das er wegen der Größe seines Ateliers benötigt. Daneben taucht Wenders in die Vergangenheit von Kiefer und die damit verbundene Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik ein. Dabei nennt er, notgedrungen, die biographischen Eckdaten.
Trotzdem ist „Anselm“ kein konventioneller Dokumentarfilm mit vielen Informationen über die porträtierte Person. Das war, um einen anderen großen deutschen Künstler zu nennen, „Beuys“ von Andres Veiel.
„Anselm“ ist, auch für Wenders‘ Verhältnisse, ein Experimentalfilm, der einen ersten Eindruck von Kiefers Werk vermittelt. Er macht neugierig auf das Werk, die Person, seine Themen und die mit ihm verbundene Rezeptionsgeschichte.
Anselm – Das Rauschen der Zeit (Deutschland/Frankreich 2023)