Neu im Kino/Filmkritik: Über Bertrand Bonellos verrätselten Science-Fiction-Film „The Beast“

Oktober 11, 2024

The Beast“, der neue Film von Bertrand Bonello (Nocturna) ist kein leichter Film, aber ein faszinierender und auch zäher Film, in dem sich erst gegen Ende alles so halbwegs zusammenfügt. Es ist eine sich Zeit nehmende Arthaus-Literaturverfilmung, die ihre besten Momente hat, wenn sie zu einem Slow-Mo-Arthaus-David-Lynch-Film mit etwas David-Cronenberg-Body-Horror wird.

Wobei Bonello von Henry James‘ Kurzgeschichte „Das Tier im Dschungel“ nur einen Teil der Idee übernimmt und dann diese und das Ende bis zur Unkenntlichkeit verändert. Bonello sagt, sein Film sei „frei nach“. Aber eigentlich führt der Hinweis auf die Literaturvorlage mehr in die Irre als dass er hilft.

Das war vor einem Jahr bei Patric Chihas überzeugender Interpretation der Geschichte anders. In „Das Tier im Dschungel“ (La bête dans la jungle, Frankreich/Belgien/Österreich 2023) verlegte er die sich über Jahrzehnte erstreckende Geschichte in die jüngere Vergangenheit nach Paris in eine Discothek. Am Ende konnte man darüber nachdenken, ob man jetzt leben oder auf ein irgendwann in der Zukunft liegendes großes, das eigene Leben veränderndes Ereignis warten möchte.

In Bonellos Film geht es um Gabrielle (Léa Seydoux). 2044 begibt sie sich auf eine Reise in ihre Vergangenheit. Dabei soll eine die Gesellschaft kontrollierende Künstliche Intelligenz ihre DNA von überflüssigen Gefühlen und Ängsten reinigen. Auf ihrer Reise, die sie vor allem in die Jahre 1910 und 2014 führt, trifft sie immer wieder Louis (George MacKay). Zu ihm hat sie eine besondere Verbindung irgendwo zwischen Liebe und absoluter Geistesverwandschaft.

1910 ist sie in Paris eine Konzertpianistin, die auf den geheimnisvollen Louis trifft. Sie scheint den charmanten Mann von früher zu kennen. Auch wenn sie sich gut verstehen, sind sie unsicher darüber, woher sie sich kennen.

Während diese ‚Vergangenheit‘ ein typisches Kostümdrama ist, ist die 2014 in Los Angeles spielende, deutlich von David Lynch inspirierte ‚Vergangenheit‘ wesentlich interessanter. Gabrielle ist ein Fotomodel, das in Hollywood Karriere machen will. Sie hütet das Haus eines vermögenden Mannes, der sie immer wieder anruft, wenn in seinem Haus ein Alarm ausgelöst wird oder etwas Ungewöhnliches passierte. Louis ist ein prototypischer Incel. Der junge Mann postet Online-Videos über sein Leben. Der Endzwanziger ist noch Jungfrau und hasst alle Frauen, weil sie keinen Sex mit ihm haben wollen. Deshalb will er Gabrielle, mit der er sich noch nicht einmal unterhalten hat, umbringen.

Eingebettet sind diese Erinnerungen an frühere Leben, die auch falsche Erinnerungen oder pure Fantasiegebilde sein können, in eine in der Filmgegenwart (2044) spielenden Rahmengeschichte, die einen ordentlichen David-Cronenberg-Body-Horror-Touch hat.

Auf jeder Zeitebene, am wenigsten in der 1910 spielenden Erinnerung, gelingen Bonello mit minimalen Mitteln beeindruckend beunruhigende Bilder. Manchmal genügt eben ein Hollywood-Anwesen mit riesigen Fenstern und einer einsamen Frau oder ein leeres Tanzlokal mit einem höflichem Barkeeper. Manchmal sind es Bildaussetzer und ruckelige Wiederholungen, manchmal Greenscreen-Aufnahmen, in die irgendwann verschiedene Monster hineinkopiert werden.

Wie das alles miteinander zusammen hängt, bleibt sehr lange absolut rätselhaft. Entsprechend zäh wirkt „The Beast“ über weite Strecken. Über epische 146 Minuten mäandert der sich im Kopf der Protagonistin abspielende Film mit durchaus starken Bildern, Szenen und Subplots, aber auch viel Leerlauf vor sich hin.

Als Cyberspace-Science-Fiction-Film, sozusagen als „Matrix“ ohne Action, hat er beim Entwerfen seiner zukünftigen Welt, bei der unklar ist, ob es eine Dystopie, eine Utopie oder nur ein Blick in Gabrielles Kopf ist, seine Momente und eine interessante, wenn auch rätselhafte Auflösung.

Wenn nur der Weg zum Ende nicht so lang wäre.

The Beast (La bête, Frankreich 2023)

Regie: Bertrand Bonello

Drehbuch: Bertrand Bonello (basierend auf einem Treatment von Bertrand Bonello, Benjamin Charbit und Guillaume Bréaud)

LV: Henry James: The Beast in the Jungle, 1903 (Kurzgeschichte, Erstveröffentlichung in dem Sammelband „The Better Sort“)

mit Léa Seydoux, George MacKay, Guslagie Malanda, Dasha Nekrasova, Martin Scali, Elina Löwensohn, Marta Hoskins, Julia Faure, Kester Lovelace, Félicien Pinot, Laurent Lacotte

Länge: 146 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „The Beast“

AlloCiné über „The Beast“

Metacritic über „The Beast“

Rotten Tomatoes über „The Beast“

Wikipedia über „The Beast“ (deutsch, englisch, französisch)

und dann muss Herr Bonello noch über andere Filme sprechen


Neu im Kino/Filmkritik: Die un(?)glücklichen Tage meiner Kindheit und Jugend: „Dídi“ & „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“

August 16, 2024

Chris Wang ist dreizehn Jahre alt. Youri ist sechzehn Jahre alt. Und wenn Sean Wang in „Dìdi“ und Fanny Liatard und Jérémy Trouilh in „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“ ohne Beschönigungen von Chris‘ und Youris Leben erzählen, bewegen sie sich immer auf Augenhöhe mit ihren Figuren. Ihre Filme sind Filme mit Kindern als Protagonisten, aber keine Kinderfilme; jedenfalls keine dieser für Erwachsene unerträglichen Kinderfilme.

In „Dìdi“ geht es um den taiwanesisch-amerikanischen Jungen Chris Wang, genannt „Wang Wang“. Er lebt 2008 in Fremont, Nordkalifornien, das normale Leben eines Teenagers. Er fetzt sich mit seiner Familie, vor allem mit seiner altklugen Schwester, die sich auf ihr im Herbst beginnendes Studium an der University of California vorbereitet, sucht Schutz bei seiner dickköpfigen Großmutter, versucht sich über sein Verhältnis zu seiner Mutter klar zu werden, treibt Unfug mit seinem besten Freund, sucht Anerkennung in Cliquen, fährt Skateboard und dreht kurze Videos, die er auf Myspace veröffentlicht.

Alltag eben, den Sean Wang in seinem autobiographisch inspiriertem Regiedebüt, ohne einen echten Plot, mit viel Sympathie für seine Figuren, ihre Gefühle und Beziehungen schildert. Er schildert auch die Probleme, die Immigranten und ihre Kinder haben, wenn sie zwischen zwei Kulturen leben und versuchen, respektiertes Mitglied einer anderen Kultur und Gemeinschaft zu werden.

Dídi ist Mandarin. Die wörtliche Bedeutung ist „kleiner Bruder“, aber chinesische Eltern verwenden es auch als Kosewort für ihre jüngeren Söhne.

Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“ hat nur insofern etwas mit dem sowjetischen Kosmonauten Yuri Gagarin zu tun, weil der Film in einem inzwischen abgerissenem Wohnkomplex spielt, der nach ihm benannt wurde. Gagarin war der erste Mensch im Weltraum. Am 12. April 1961 umrundete er einmal die Erde.

Die Gagarin-Hochhaussiedlung wurde in den frühen sechziger Jahren in der Banlieue von Paris errichtet. Damals war das die Utopie von zukunftsträchtigem Wohnen. Schnell wurden die Probleme und Defizite der Architektenutopie deutlich. Am Ende war Gagarin so heruntergekommen, dass ein Abriss günstiger als eine Renovierung des asbestverseuchten Gebäudes war. Dieser Abriss erfolgte 2019. Die Bewohner sollten in andere Wohnkomplexe in Frankreich verteilt werden.

Aber für die Bewohner ist Gagarin Heimat und Bewohner bilden eine Gemeinschaft. Trotzdem ziehen sie nacheinander weg. Nur Youri bleibt. Während um ihn herum das Gebäude langsam abgerissen wird, erbaut er sich in der Mietwohnung eine Raumstation. Er versorgt sich selbst und lebt immer mehr wie ein Weltraumreisender.

Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“ ist eine geglückte Mischung aus dokumentarischem Sozialdrama, Magischem Realismus, wunderschönen, das Gebäude, die Menschen und ihre Gemeinschaft feiernden Kinobildern und, trotz der eigentlich sehr traurigen Geschichte, ein hemmungslos positiver Film.

Die Anfänge für den Film reichen bis in das Jahr 2014 zurück. Damals nahmen Fanny Liatard und Jérémy Trouilh dokumentarische Bilder und Interviews mit den Bewohnern auf. Die Initiative dafür ging von einige Architekten aus, mit denen sie befreundet waren und die über die Möglichkeit einer Zerstörung von Gagarin nachdenken sollten. Fünf Jahre später dokumentierten sie dann die im Film zu sehende Zerstörung von Gagarin.

Gagarin“ ist eine einzige Liebeserklärung an die Siedlung und ihre aus vielen Ländern, vor allem den früheren französischen Kolonien kommenden, oft armen und arbeitslosen Bewohner. Dieser dokumentarische Teil erdet Youris immer fantastischer werdende Geschichte, während die Kamera durch das Gebäude streift und, in der ersten Hälfte des Films, die Bewohner und ihr Leben zeigt.

Dìdi (Dìdi (弟弟), USA 2024)

Regie: Sean Wang

Drehbuch: Sean Wang

mit Izaac Wang, Joan Chen, Shirley Chen, Chang Li Hua, Mahaela Park, Raul Dial, Aaron Chang, Chiron Cilia Denk

Länge: 94 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Dídi“

Metacritic über „Dídi“

Rotten Tomatoes über „Dídi“

Wikipedia über „Dídi“ (deutsch, englisch)

Gagarin – Einmal schwerelos und zurück (Gagarine, Frankreich 2020)

Regie: Fanny Liatard, Jérémy Trouilh

Drehbuch: Benjamin Charbit, Fanny Liatard, Jérémy Trouilh

mit Alseni Bathily, Lyna Khoudri, Jamil McCraven, Finnegan Oldfield, Farida Rahouadj, Denis Lavant, Cesar ‚Alex‘ Ciurar, Rayane Hajmessaoud, Hassan Baaziz, Salim Balthazard, Elyes Boulaïche, Fabrice Brunet, Jacques Cissoko, Mamadou Cissoko, Hassoun Dembele

Länge: 98 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“

AlloCiné über „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“

Metacritic über „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“

Rotten Tomatoes über „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“

Wikipedia über „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“ (deutsch, englisch, französisch)