Michael Jary, Bruno Balz und Nick Cave lebten in Berlin. Und während Cave allgemein bekannt ist (jedenfalls wenn man sich für Rockmusik interessiert), dürften die Namen Jary und Balz kaum jemand etwas sagen. Dabei komponierten sie unzählige Schlager, die von einem Millionenpublikum gehört wurden. Gassenhauer eben. Aber die Namen der Texter und Komponisten von Schlagern kennen nur die wenigen Menschen, die auch das Kleingedruckte auf der Plattenhülle oder der Schallplatte lesen. Dabei sind die Lieder von Komponist Michael Jary (24. September 1906, Laurahütte – 12. Juli 1988, München) und der offen homosexuelle Texter Bruno Balz (6. Oktober 1902, Berlin – 14. März 1988, Bad Wiessee) heute immer noch bekannt. Teils durch die Interpretationen von Zarah Leander, für die sie mehrere Lieder schrieben. Zu ihren gemeinsamen Werken gehören „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“, „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n“, „Davon geht die Welt nicht unter“, „Das machen nur die Beine von Dolores“ und „Wir wollen niemals auseinandergehn“. Ihre Lieder sind in ungefähr 250 Kinofilmen zu hören.
Ihre Karriere begann, getrennt voneinander, in den zwanziger Jahren. Ab 1937 arbeiteten sie zusammen. In Berlin bezogen sie in der Fasanenstraße 60 zwei Wohnungen. So konnten sie einfacher zu jeder Tages- und Nachtzeit zusammen arbeiten. In den sechziger Jahren endete ihre jahrzehntelange Zusammenarbeit. Sie wandten sich auch vom musikalisch zunehmend uninteressantester werdendem Schlagergeschäft ab.
In seinem Dokumentarfilm „Im Schatten der Träume“ lässt Martin Witz das Leben von Komponist Michael Jary und Texter Bruno Balz Revue passieren in einer konventionellen Mischung aus sprechenden Köpfen (u. a. unser allerliebster Unterhaltungsmusiksänger Götz Alsmann und Rainer Rother, langjähriger kundiger Leiter der Kinemathek des Deutschen Historischen Museums [Berlin]), historischen Aufnahmen und Film- und Konzertausschnitten, in denen verschiedene Künstler ihre Lieder singen. Dabei entsteht auch ein Bild von Deutschland während der Weimarer Repulik, als Jary und Balz ihre Karriere begannen, dem Nationalsozialismus, als sie erfolgreich Lieder für UFA-Filme komponierten, und dem Wirtschaftswunder-Deutschland, als sie immer noch erfolgreich waren.
Insgesamt bleibt der Film deskriptiv an der Oberfläche und er ist überschaubar informativ, aber die alten Lieder funktionieren noch immer. Und deshalb gefällt der dann doch ziemlich kurzweilige Film.
Als Nick Cave und seine damalige Band „The Birthday Party“ 1982 nach Berlin kamen, lebten Jary und Balz noch und ein imaginiertes Treffen zwischen ihnen wäre sicher interessant geworden. Aber wahrscheinlich hätten sie sich nichts zu sagen gehabt. Während die Schlagerkomponisten Jary und Balz ihr Publikum nach einem anstrengenden Arbeitstag mit leichten Melodien erfreuen wollten, waren damals die Konzerte der „Birthday Party“ Nahkämpfe zwischen Publikum und Band und die Musiker waren wütend wütend wütend.
In seinem Dokumentarfilm „Mutiny in Heaven – Nick Caves frühe Jahre“ zeichnet Ian White die Geschichte von „The Birthday Party“ nach. Die kurzlebige und inzwischen legendäre Band ging aus der Punk/Wave-Band „The Boys next Door“ hervor. Als Nick Cave (voc), Mick Harvey (git, key, sax), Phill Calvert (dr), Tracy Pew (b) und Rowland S. Howard (git) 1980 von Melbourne (Australien) nach London umzogen und die LP „The Birthday Party“ veröffentlichten, änderten sie auch ihren Namen und ihren Stil. Fortan spielten sie lauten, aggressiven, kakophonischen Post-Punk/Noise-Rock. Die Kritik lobte den Krach, aber der große finanzielle Erfolg blieb aus. 1983 lösten sie sich auf. Nick Cave gründete die Bad Seeds.
Ian White montiert in seinem Dokumentarfilm über die Band Fotos, andere Dokumente aus der Bandgeschichte, viele bislang unbekannte Konzertmitschnitte und eigens für den Film erstellte animierte Sequenzen dicht und schnell aneinander. Die Menge der dokumentarischen Aufnahmen, die Ian White gefunden hat, ist beeindruckend. Die Bildqualität der Amateueraufnahmen oft historisch. Die Animationen basieren auf Originalzeichnungen von Reinhard Kleist. Von ihm sind auch die hochgelobten Comics „Nick Cave – Mercy on me“, „Nick Cave and The Bad Seeds: Ein Artbook“ und „Starman – David Bowie’s Ziggy Stardust Years“. Bei seiner durchdachten Montage des Materials arbeitet White mit Bildfehlern und akustischen und optischen Störungen. Die so entstandene Punk-Noise-DIY-Collage fordert Augen und Ohren heraus.
Darüber legt er die Stimmen der Bandmitglieder, die auf ihre Zeit in „The Birthday Party“ zurückblicken. Wie Asif Kapadia in seiner Amy-Winehouse-Doku „Amy“ verzichtet White so, obwohl er es doch ein-, zweimal tut, auf die in Dokumentarfilmen übliche Abfolge sprechender Köpfe. Allerdings können die einzelnen Sprecher nicht immer eindeutig identifiziert werden. Und natürlich ist ein solches Vorgehen nicht im Ansatz kritisch oder analytisch. Es ist Oral History und schwelgen in Erinnerungen.
„Mutiny in Heaven – Nick Caves frühe Jahre“ ist ein Film für die Fans von Nick Cave, die mehr über die teuflisch wütenden Anfäge des zunehmend pastoralen Sängers wissen wollen, und für Musikfans die mehr über eine legendäre Noise-Band und die frühen achtziger Jahre erfahren wollen. Alle anderen sollten einen großen Bogen um dieses Werk machen.

Im Schatten der Träume (Schweiz/Deutschland 2024)
Regie: Martin Witz
Drehbuch: Martin Witz
mit Götz Alsmann, Manfred Herzer, Micaela Jary, Claudio Maniscalco, Rainer Rother, Klaudia Wick, Bibi Johns, Carol Schuler
Länge: 94 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Hinweise
Filmportal über „Im Schatten der Träume“
Moviepilot über „Im Schatten der Träume“
Wikipedia über „Im Schatten der Träume“, Michael Jary (deutsch, englisch) und Bruno Balz (deutsch, englisch)
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Mutiny in Heaven – Nick Caves frühe Jahre (Mutiny in Heaven: The Birthday Party, Australlien 2023)
Regie: Ian White
Drehbuch: Ian White
mit Nick Cave, Rowland S. Howard, Mick Harvey, Tracy Pew, Phill Calvert
Länge: 98 Minuten
FSK: ?
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Hinweise
Movieportal über „Mutiny in Heaven“
Metacritic über „Mutiny in Heaven“
Rotten Tomatoes über „Mutiny in Heaven“
Wikipedia über „The Birthday Pary“ (deutsch, englisch) und Nick Cave (deutsch, englisch)
AllMusik über „The Birthday Party“ und Nick Cave
Veröffentlicht von AxelB