Neu im Kino/Filmkritik: Über Julian Radlmaiers „Sehnsucht in Sangerhausen“

November 27, 2025

Sangerhausen ist laut dem Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung eine kleine Mittelstadt. Für Julian Radlmaier ist die in Sachsen-Anhalt liegende Stadt ein mythischer Ort mit Verbindungen in die Vergangenheit und zur deutschen Seele. Novalis, der Dichter der Romantik, wurde in der Nähe geboren. Die in einem Schloss arbeitende Magd Lotte, so fabuliert Radlmaier in seinem Film, denkt beim Leeren des von Novalis gefüllten Nachttopfs nicht an die von ihm erfundene „blaue Blume“, sondern an ihre ökonomische Situation und die Französische Revolution. Etwas später brennt sie mit einem Steineschlucker durch. Vor ihren Verfolgern versteckt sie sich in einer Höhle.

In dem Moment springt Radlmaiers neuer Film „Sehnsucht in Sangerhausen“ in die Gegenwart. Ursula arbeitet als Putzfrau und Kellnerin und bräuchte eigentlich noch einen dritten schlecht bezahlten Job. Als sie ein Klassik-Trio trifft, das ihm Rahmen des Kultursommers im Ort ein Konzert gibt, und mit ihnen einige Zeit verbringt, denkt sie daran, Sangerhausen zu verlassen. Zur gleichen Zeit dreht die aus dem Iran geflohene Influencerin Neda touristische Videoclips über die Schönheiten von Sangerhausen und der Umgebung. Als ihr schrottreifes Auto endgültig den Geist aufgibt, bleibt sie länger als geplant in Sangerhausen und trifft eine alte Bekannte. Und Sung-Nam bietet in einem klimatisiertem Kleinbus Touristentouren an. Die meiste Zeit steht er, auf Kundschaft wartend, auf dem Marktplatz.

Diese durch ihre ökonomische Situation zu einer alle anderen Unterschiede überdeckenden Klasse gehörenden Menschen treffen sich irgendwann in und um Sangerhausen. Gemeinsam begeben sie sich auf eine Geisterjagd.

Im Hintergrund des munteren Treibens ist immer, als „Relikt der sozialistischen Bergbauindustrie“ (Radlmaier), die an eine Pyramide erinnernde, alles überragende Abraumhalde zu sehen. Dieser Berg aus Schutt, auf dem kein Grashalm wächst, soll nicht bestiegen werden.

Radlmaier erzählt dieses teils normale, teils skurrile Treiben in einer durchgehend ironischen Haltung, einem nüchternen Blick auf die Merkwürdigkeiten und Trostlosigkeiten des Lebens in der Provinz, etwas magischem Realismus und in langen Einstellungen. Mehr als einmal hoffte ich für die Schauspieler, dass er nicht zu den Regisseuren gehört, der seine Schauspieler Szenen Dutzende Male wiederholen lässt.

In jedem dieser bewusst kargen Bild ist seine bürgerliche Bildung und seine Zuneigung zur marxistischen Gesellschaftsanalyse spürbar. Aber er predigt nicht, er politisiert nicht und er verurteilt seine Figuren nicht. Das Ergebnis ist ziemlich spaßig und sehr zugänglich.

Langer Rede kurzer Sinn: „Sehnsucht in Sangerhausen“ ist ein typischer Radlmaier. Und das ist gut so.

Sehnsucht in Sangerhausen (Deutschland 2025)

Regie: Julian Radlmaier

Drehbuch: Julian Radlmaier

Montage (ausnahmsweise erwähnt): Julian Radlmaier

mit Clara Schwinning, Maral Keshavarz, Paula Schindler, Henriette Confurius, Ghazal Shojaei, Kyung-Taek Lie, Buksori Lie

Länge: 90 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Sehnsucht in Sangerhausen“

Moviepilot über „Sehnsucht in Sangerhausen“

Rotten Tomatoes über „Sehnsucht in Sangerhausen“

Wikipedia über „Sehnsucht in Sangerhausen“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Julian Radlmaiers „Blutsauger“ (Deutschland 2021) (und des Buchs zum Film)