Es passiert selten, aber ab und zu: ein Jugendfilm, der für Jugendliche gemacht wurde, erhält von der FSK eine Freigabe, nach der Jugendliche den Film nicht sehen dürfen. Dabei wurde „Ellbogen“ seit seiner Premiere auf der Berlinale in der Sektion „Generation 14plus“ auf Kinder- und Jugendfilmfestivals gezeigt, von Jugendlichen diskutiert und ausgezeichnet. Unter anderem mit dem Goldenen Spatz auf dem Deutschen Kinder Medien Festival. Die Festivaljury besteht aus Kindern. Und damit aus Menschen, die jetzt „Ellbogen“ im Kino nicht mehr sehen dürfen, weil der Film ‚frei ab 16 Jahren‘ ist. Lehrer dürfen ihn in der Schule selbstverständlich auch erst verwenden, wenn die Schüler älter als 16 Jahre sind.
Die FSK schreibt in ihrer Freigabebegründung: „Der Film hat eine durchgehend angespannte Grundstimmung und stellt eine Jugendliche in den Mittelpunkt, die ihr negatives und gewalttätiges Verhalten weder hinterfragt noch bereut.“
Die Jugendliche ist Hazal. An ihrem 18. Geburtstag will sie mit ihren beiden besten Freundinnen in einer angesagten Berliner Disco feiern. Sie werden nicht hineingelassen. Als sie am U-Bahnsteig von einem gleichaltrigen betrunkenem Jungen angemacht werden, reagieren sie mit Gewalt. Am Ende ist er tot. Sie verlassen den Tatort.
Hazal flüchtet nach Istanbul und schlüpft bei ihrer ungefähr gleichaltrigen Internetbekanntschaft unter. Mehmet arbeitet in einem Callcenter und konsumiert eifrig Drogen.
„Ellbogen“ ist das auf Fatma Aydemirs Roman basierende Spielfilmdebüt von Asli Özarslan. Die Stärken des Films liegen in der Protagonistin und der Inszenierung, die immer nah an Hazal bleibt und die ihr Verhalten weder entschuldigt noch verurteilt. Das überlässt er dem Publikum.
Hazal, glaubwürdig gespielt von Melia Kara in ihrem Filmdebüt, ist eine im Wedding lebende Deutschtürkin. Sie ist vergnügungssüchtig, ichbezogen und faul. Sie möchte gerne erfolgreich sein, scheut aber die dafür notwendige Arbeit. Sie denkt, dass nicht sie, sondern die anderen Menschen und die Gesellschaft für ihre Situation verantwortlich sind. Und sie will keine Verantwortung für ihre Taten übernehmen. Stattdessen flüchtet sie.
Die Schwächen liegen im Aufbau der Geschichte und der ausschließlichen Konzentration auf Hazal. Das macht den Film zu einer Ich-Erzählung. Mit dem Abspann dauert „Ellbogen“ neunzig Minuten. Über dreißig Minuten vergehen, bis Hazal und ihre beiden Freundinnen den jungen Mann zusammenschlagen, treten und töten. In dem Moment beginnt die eigentliche Geschichte. Bis dahin geschieht eher wenig. Wir beobachten eine junge Frau zusammen mit ihrer Familie, ihren Freundinnen und, ein wenig, auf der Suche nach Arbeit. Das, was Özarslan in dieser halben Stunde erzählt, hätte ein anderer Regisseur in zwanzig oder sogar nur zehn Minuten erzählt.
Auch später, in Istanbul, geschieht eher wenig. Die Tat wird, bis auf einen Seitenaufruf im Internet, nicht weiter thematisiert. Hazal könnte, bis auf die letzten paar Minuten, genausogut einfach von zu Hause ausgerissen sein oder einen Urlaub bei ihrem Freund verbringen. Salopp sehen wir sie in der ersten halben Stunde in Berlin abhängen und danach in Istanbul abhängen. Die Tat scheint sie nur insofern zu berühren, dass sie nicht bestraft werden möchte.
Ein weiteres, damit zusammen hängendes Problem ist, dass wir wenig über ihre Gefühle und Motive erfahren. Es gibt kein Voice-Over und auch niemand, mit dem sie sich über ihre Tat und die Folgen für sie und ihr Umfeld unterhält. Sie ist eine von allen anderen isolierte Person, die stumm in die Landschaft blickt. Was sie denkt und fühlt, können wir erahnen, aber wir wissen es nicht.

Ellbogen (Deutschland/Frankreich/Türkei 2024)
Regie: Aslı Özarslan
Drehbuch: Claudia Schaefer, Aslı Özarslan (Co-Autorin)
LV: Fatma Aydemir: Ellbogen, 2017
mit Melia Kara, Jamilah Bagdach, Asya Utku, Nurgül Ayduran, Doğa Gürer, Mina Özlem Sağdıç, Jale Arikan, Ali-Emre Şahin
Länge: 90 Minuten
FSK: ab 16 Jahre
–
Hinweise
Rotten Tomatoes über „Ellbogen“
Veröffentlicht von AxelB