Neu im Kino/Filmkritik: „Fallende Blätter“ – ein Besuch im Museum Aki Kaurismäki

September 16, 2023

Sechs Jahre sind seit seinem letzten Film vergangen. Das war 2017 die Flüchtlingsgeschichte „Die andere Seite der Hoffnung“. Aber gleich mit den ersten präzise arrangierten Bildern und den ersten lakonischen Sätzen ist das alte Aki-Kaurismäki-Gefühl wieder da. Das sind die Bilder, die Sets, die Dialoge, der lakonische Humor, die Rocksongs und, auch wenn wir dieses Mal auf seine altbekannte Stammschauspieler verzichten müssen, die Gesichter, die es nur in einem Film von Aki Kaurismäki gibt.

Die Geschichte kann mühelos als Nachtrag oder Fortsetzung seiner proletarischen Trilogie gesehen werden. Sie entstand in den Achtzigern und besteht aus „Schatten im Paradies“ (1986), „Ariel“ (1988) und „Das Mädchen in der Streichholzfabrik“ (1989).

Im Mittelpunkt von „Fallende Blätter“ stehen die Verkäuferin Ansa (Alma Pöysti) und der Arbeiter Holappa (Jussi Vatanen). Beide sind einsam und ohne Perspektive. Beide leben in Helsinki einfach vor sich hin. Sie in einer dieser spärlich ausgestatteten Retro-Fünfziger-Jahre-Wohnungen, die es so nur im Film oder, seit einigen Jahren, im Museum gibt. Er in einem Mehrbettzimmer in einer abgeranzten Gemeinschaftsunterkunft für herumziehende Arbeiter. Sie wird beim Klauen von abgelaufenen Lebensmitteln erwischt und entlassen. Als nächstes arbeitet sie in einem Lokal als Tellerwäscherin. Bis ihr Chef verhaftet wird und sie wieder auf Arbeitssuche ist.

Erstmals treffen sich Ansa und Holappa während eines Karaoke-Abends. Sie verrät ihm nicht ihren Namen, schreibt ihm aber ihre Telefonnummer auf. Er verliert den Zettel sofort. Sie begegnen sich später wieder und während eines romantischen Abends im Kino – sie sehen sich Jim Jarmuschs „The Dead don’t die“ an – verlieben sie sich. Trotzdem setzt sich das Problem mit dem Nicht-Kennen ihrer Namen fort. Außerdem will sie keine Beziehung mit einem Alkoholiker beginnen. Und das ist Holappa unbestreitbar.

Kaurismäki erzählt die Geschichte von Ansa und Holappa in schlanken achtzig Minuten. Trotzdem fühlt sich der Film länger an. Jede Szene, jedes Bild wird zelebriert. Alma Pöysti muss gefühlt bewegungslos mehrere Minuten aus dem Fenster in die Nacht starren und auf ihren Freund warten. Bei einem Karaoke-Abend werden mehrere Songs ausgespielt, während die Story mal wieder pausiert und wir darüber nachdenken können, wie sehr die Figuren aus der Zeit gefallen sind. Denn die Geschichte spielt in der Gegenwart. Wenn Ansa ihr Radio einschaltet, hört sie Nachrichten über den Ukraine-Krieg und den Kampf um die belagerte ukrainische Stadt Mariupol. Diese Nachrichten sind ein für ihr Leben unwichtiges Hintergrundrauschen. Im Film stören sie, weil sie nichts zur Geschichte beitragen. Sie wirken wie ein unbeholfener und vollkommen überflüssiger Versuch, dem Film eine aktuelle Relevanz, eine Verortung in der Gegenwart, zu verleihen.

In „Fallende Blätter“ präsentiert Kaurismäki in Slow Motion wieder einmal, sorgfältig für die Nachwelt kuratiert, seine Welt, die schon lange nichts mehr mit der Gegenwart und aktuellen Diskussionen zu tun hat. Bei ihm verstehen die Männer ein „Rauchen verboten“-Schild als eine Aufforderung, sich die nächste Zigarette anzuzünden. Schnaps wird wie Wasser getrunken und es wird viel geschwiegen.

Fallende Blätter (Kuolleet Lehdet, Finnland/Deutschland 2023)

Regie: Aki Kaurismäki

Drehbuch: Aki Kaurismäki

mit Alma Pöysti, Jussi Vatanen, Janne Hyytiäinen, Nuppu Koivu

Länge: 81 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Fallende Blätter“

Moviepilot über „Fallende Blätter

Metacritic über „Fallende Blatter“

Rotten Tomatoes über „Fallende Blätter“

Wikipedia über „Fallende Blätter“ (deutsch, englisch)

Deutsche Homepage von Aki Kaurismäki (Pandora Filmverleih)

Meine Besprechung von Aki Kaurismäkis „Le Havre“ (Le Havre, Finnland/Frankreich/Deutschland 2011)

Meine Besprechung von Aki Kaurismäkis „Die andere Seite der Hoffnung“ (Toivon Tuolla Puolen, Finnland 2017)

 


Neu im Kino/Filmkritik: Aki Kaurismäki erkundet „Die andere Seite der Hoffnung“

März 29, 2017

Die andere Seite der Hoffnung“ heißt der neue Film von Aki Kaurismäki, der nach einer sechsjährigen Spielfilmpause (unterbrochen von zwei Kurzfilmen) in unsere Kinos kommt und es ist ein echter Kaurismäki. In jeder Beziehung. Von der ersten bis zur letzten Sekunde.

Der junge Syrer Khaled kommt als blinder Passagier in Helsinki an und bittet um Asyl. Während sein Asylverfahren läuft, er sich mit einem anderen Asylbewerber befreundet, sein Antrag abgelehnt wird und er untertaucht, trennt sich der Männerhemdenvertreter Wikström von seiner Frau, löst sein Geschäft auf, gewinnt bei einem Poker-Spiel genug Geld für sein neuestes Projekt: ein Restaurant. Es liegt in Helsinki in einer menschenleeren Gasse in einem Viertel, in dem die Zeit stehen geblieben ist und es wurde, – nun, wir sind in einem Kaurismäki-Film -, spätestens seit den fünfziger Jahren nicht mehr renoviert. Das Personal ist vorbildlich desinteressiert und ambitionslos, aber ehrbar. Wikström kauft das Lokal und übernimmt die eingeschworene Mannschaft.

Bis der Restaurantbesitzer und der abgelehnte Flüchtling sich treffen und Wikström ihn bei sich als Verstärkung seines Personals aufnimmt, vergeht einige Zeit.

Im Gegensatz zu seinem vorherigen Film „Le Havre“, der eine ähnliche Geschichte in Frankreich erzählte, funktioniert in „Auf der anderen Seite der Hoffnung“ die Verknüpfung einer Flüchtlingsgeschichte mit dem vertrauten Kaurismäki-Kosmos nicht so gut. Es vergeht einfach zu viel Filmzeit, bis Khaled und Wikström aufeinandertreffen. Bis dahin erzählt Kaurismäki eine 08/15-Flüchtlingsgeschichte, die sich an dem Asylverfahren entlanghangelt und letztendlich nur die bekannten Bilder von Flüchtlingen in einer fremden Umgebung wiederholt, und eine typische Kaurismäki-Geschichte, die in ihrer atemberaubenden Lakonie in ein, zwei Bildern, ein, zwei Sätzen, ganze Geschichten erzählt. Zum Beispiel: wenn Wikström sich von seiner Frau trennt, wird kein Wort gesagt. Er packt seine Sachen, gibt ihr den Ehering und geht. Sie raucht ihre Zigarette zu Ende und legt den Ring in den schon gut gefüllten Aschenbecher.

Es gibt, wie immer, wunderschöne Bilder vom Zusammenhalt der ewigen Verlierer, die von den bekannten Kaurismäki-Stars und einigen Neuzugängen gespielt werden. Es gibt einen Oldtimer und ein Plakat von Jimi Hendrix, das so gar nicht in Wikströms Lokal passt. Und es gibt, selbstverständlich, herrlich abgehangene Rockmusik, live vor der Kamera eingespielt.

Auf der Berlinale erhielt Kaurismäki für sein pathosfreies Flüchtlingsdrama den Silbernen Bären für die beste Regie.

Ich gebe offen zu, dass ‚Die andere Seite der Hoffnung‘ bis zu einem gewissen Grad das ist, was man unter einem tendenziösen Film versteht. Es ist ein Film, der ohne Skrupel die Ansichten und Meinungen seiner Zuschauer verändern will, indem er, um dieses Ziel zu erreichen, ihre Gefühle manipuliert.

Ein solcher Versuch muss natürlich scheitern. Was aber, so hoffe ich, davon übrig bleiben wird, ist eine integre und etwas melancholische Geschichte, die der Humor vorwärts trägt. Ein ansonsten fast realistischer Film über gewisse menschliche Schicksale in der Welt, in der wir heute leben.“ (Aki Kaurismäki über seinen Film)

P. S.: Am 4. April feiert er seinen sechzigsten Geburtstag.

Die andere Seite der Hoffnung (Toivon Tuolla Puolen, Finnland 2017)

Regie: Aki Kaurismäki

Drehbuch: Aki Kaurismäki

mit Sherwan Haji, Sakari Kuosmane, Ilkka Koivula, Janne Hyytiäinen, Nuppu Koivu, Kaija Pakarinen, Niroz Haji, Simon Hussein Al-Bahoon, Kati Outinen

Länge: 100 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Die andere Seite der Hoffnung“

Metacritic über „Die andere Seite der Hoffnung“

Rotten Tomatoes über „Die andere Seite der Hoffnung“

Wikipedia über „Die andere Seite der Hoffnung“ (deutsch, englisch)

Berlinale über „Die andere Seite der Hoffnung“

Deutsche Homepage von Aki Kaurismäki (Pandora Filmverleih)

Meine Besprechung von Aki Kaurismäkis „Le Havre“ (Le Havre, Finnland/Frankreich/Deutschland 2011)

Die Berlinale-Pressekonferenz