TV-Tipp für den 30. Januar: Jazzfieber – The Story of German Jazz

Januar 29, 2025

SWR, 23.35

Jazzfieber – The Story of German Jazz (Deutschland 2023)

Regie: Reinhard Kungel

Drehbuch: Reinhard Kungel

TV-Premiere. Sehenswerte Doku über den (bundes)deutschen Jazz von den zwanziger bis in die sechziger Jahre, als Freejazz und Jazzrock ein neues Publikum eroberten.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Peter Baumeister, Hugo Strasser, Max Greger, Klaus Doldinger, Rolf Kühn, Coco Schumann, Peter Thomas, Paul Kuhn, Karlheinz Drechsel, Tizian Jost, Niklas Roever, Hannah Weiss, Caris Hermes, Jakob Bänsch, Alma Naidu, Mareike Wiening

Hinweise

ARD über die Doku (bis zum 29. Juli 2025 in der Mediathek)

Homepage zum Film

Filmportal über „Jazzfieber“

Moviepilot über „Jazzfieber“

Wikipedia über Jazz in Deutschland

Meine Besprechung von Reinhard Kungels „Jazzfieber“ (Deutschland 2023)


TV-Tipp für den 4. April: MPS – Die Legende lebt

April 3, 2024

SWR, 23.35

MPS – Die Legende lebt (Deutschland 2024)

Regie: Sascha Schmidt

Drehbuch: Sascha Schmidt

TV-Premiere. Brandneue 75-minütige Doku über das legendäre Jazzlabel MPS (Musik Produktion Schwarzwald), das im Schwarzwald (in Villingen) im Tonstudio in vorzüglicher Klangqualität Langspielplatten aufnahm mit damaligen und künftigen Weltstars, wie Oscar Peterson, Duke Elllington, Jean-Luc Ponty, Jasper van ’t Hof, Rolf Kühn, Joachim Kühn, Gunter Hampel, Charly Antolini, Daniel Humair, Albert Mangelsdorff, Alexander von Schlippenbach, Joe Henderson, Chick Corea, Volker Kriegel, Elvin Jones, Eberhard Weber und [hier kannst du deinen bis jetzt nicht genannten Lieblings-MPS-Musiker eintragen]. Labeleigner Hans Georg Brunner-Schwer war dabei, wie die Namen der Jazzer verraten, musikalisch offen für verschiedene Stilrichtungen und Experimente. Zwischen 1968 und 1983 entstanden ungefähr fünfhundert Alben. Die Originale sind bei Jazzfans gesuchte Sammlerstücke. Die CD-Wiederveröffentlichungen sind noch (!) deutlich einfacher erhältlich. Vor allem seitdem die Edel AG seit 2014 den MPS-Katalog wieder veröffentlicht und auch neue Alben aufnimmt.

Sascha Schmidt erzählt in „MPS – Die Legende lebt“, mit vielen Zeitzeugen-Interviews, die Geschichte des Labels und seines kreativen Kopfes Hans Georg Brunner-Schwer nach.

Hinweise

SWR über die Doku (Pressemitteiling) und in der ARD-Mediathek (bis 2. April 2025)

Filmportal über „MPS – Die Legende lebt“

Wikipedia über MPS (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: „Jazzfieber“ in Deutschland – damals und heute

September 7, 2023

Das war keine schnelle Geburt. 2011 begann Reinhard Kungel mit den Dreharbeiten für seinen Dokumentarfilm über die Geschichte des Jazz in Deutschland. Wolfram Knauer, der überaus sympathische und kundige Leiter des Jazzinstitut Darmstadt, hatte ihm gesagt, dass es bislang keinen Film darüber gebe. Kungel ahnte damals nicht, wie lang und beschwerlich der Weg würde. Jetzt, nach zwölf Jahren, startet seine Doku „Jazzfieber“ in den Kinos.

Die ersten Aufnahmen für die Doku entstanden bei einem Konzert der SWR Big Band mit Paul Kuhn (1928 – 2013), Max Greger (1926 – 2015) und Hugo Strasser (1922 – 2016). Damals entstanden auch Backstage-Aufnahmen und einige der damals entstandenen Interviews dürften auch ihren Weg in den Film gefunden haben. Dieses Konzert und die Interviews mit den bei Älteren bekannten und beliebten Tanz- und Unterhaltungsmusikern Paul Kuhn, Max Greger und Hugo Strasser, die aus ihrem Leben erzählen, bilden eine Klammer zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart.

Die Gegenwart wird unter anderem von Jakob Bänsch, Alma Naidu, Caris Hermes, Mareike Wiening und Niklas Roever verkörpert. Im Tourbus sitzend sehen die fünf jungen Jazzmusiker sich auf einem Tablet das Konzert, die Interviews und aus den Fernseharchiven ausgegrabene TV-Mitschnitte aus den fünfziger und sechziger Jahren an und kommentieren diesen ihnen unbekannten Teil der Jazzgeschichte.

Die historischen Aufnahmen und Ausschnitte aus den Interviews ordnet Kungel dann chronologisch an. Es beginnt in den zwanziger Jahren, als der Jazz auch in Deutschland eine populäre Tanzmusik war. Während der Nazi-Zeit war er verboten. Das Schild „Swing tanzen verboten“ erlangte traurige Berühmtheit. Trotzdem wurde Swing getanzt und im deutschen Radio lief auch Jazz. Jedenfalls in dem Programm, das im Ausland gehört werden konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es weiter. Kuhn, Strasser und Greger wurden mit ihren Ensembles weithin bekannte Musiker, die das weite Feld zwischen Jazz, Tanz- und Unterhaltungsmusik beackerten. Ihre Fernsehauftritte steigerten ihre Popularität.

In den Interviews erzählen sie und ihre gleichaltrigen, ebenfalls verstorbenen Kollegen, wie Coco Schumann (ausführlicher, aber immer noch viel zu kurz), Peter Thomas und Rolf Kühn, aus ihrem Leben während des Kriegs und der Nachkriegsjahre.

Kungel erzählt das alles in neunzig Minuten formal konventionell, sehr dicht, informativ und, aufgrund seiner Interviewpartner, ihren unterschiedlichen Ansichten und Erfahrungen, facettenreich. Dabei sind die Statements der alten Jazzmusiker, die historischen Aufnahmen und der damit verbundene Rückblick auf die Zeit zwischen den Zwanzigern und Fünfzigern interessanter als die Statements der jungen Jazzmusiker. Sie müssen auch mehr über die Musik der Nachkriegsjazzer und Tanzmusiker als über ihre eigene Musik reden.

Wenn Kungel am Ende kurz auf den Freejazz, noch kürzer auf die Entwicklungen im deutschen Jazz ab den sechziger Jahren und den Jazz in der DDR eingeht, kommen wir zum schlechtesten Teil des Dokumentarfilms. Während er sich vorher Zeit ließ und mit historischen Aufnahmen und aktuellen Interviews in die Tiefe ging, fehlt genau das jetzt. Der Freejazz wird, wie schon vor sechzig Jahren, auf atonalen Krach reduziert. Alles was danach kam, findet überhaupt nicht mehr statt.

In einem zweiten und dritten Film – der DDR-Jazz sollte unbedingt, auch wegen der Geschichte seiner Förderung durch den Staat, einen eigenen Film bekommen – kann und sollte das korrigiert werden.

Bis dahin gibt es eine sehenswerte Doku über den (bundes)deutschen Jazz von den zwanziger bis in die sechziger Jahre, als Freejazz und Jazzrock ein neues Publikum eroberten.

Jazzfieber (Deutschland 2023)

Regie: Reinhard Kungel

Drehbuch: Reinhard Kungel

mit Peter Baumeister, Hugo Strasser, Max Greger, Klaus Doldinger, Rolf Kühn, Coco Schumann, Peter Thomas, Paul Kuhn, Karlheinz Drechsel, Tizian Jost, Niklas Roever, Hannah Weiss, Caris Hermes, Jakob Bänsch, Alma Naidu, Mareike Wiening

Länge: 92 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Jazzfieber“

Moviepilot über „Jazzfieber“

Wikipedia über Jazz in Deutschland


Neu im Kino/Filmkritik: Über das Musikerbiopic „Miles Davis – Birth of the Cool“

Januar 2, 2020

Weil ich keine Lust habe, einmal im Sauseschritt durch das Leben von Miles Davis zu hetzen, wird diese Kritik eher kurz.

Denn Stanley Nelson gelingt es in seinem Dokumentarfilm „Miles Davis – Birth of the Cool“ sehr gut, das Leben des Jazztrompeters Miles Davis und seine unzähligen musikalischen Häutungen zu erzählen, ohne wichtige Aspekte zu vernachlässigen und, was noch wichtiger und, angesichts des Lebens und Werks von Miles Davis noch imponierender ist, ohne falsche Schwerpunkte zu setzen. In knapp zwei Stunden erzählt Nelson, mit viel Musik, vielen gut gewählten Interviewpartnern, ebenso gut gewähltem Archivmaterial und Zitaten von Miles Davis (im Original von Carl Lumbly nah am Original heißer geflüstert), das Leben von Miles Davis von seiner Geburt am 26. Mai 1926 in Alton, Illinois, bis zu seinem frühen Tod am 28. September 1991 in Santa Monica, Kalifornien. Er wurde nur 65 Jahre alt.

Nelson erzählt das Leben des Jazztrompeters als konventionelle Mischung zwischen kurzen, eher illustrierenden Musikclips, Dokumentaraufnahmen, mal Fotos, mal Film, und sprechenden Köpfen. Wirklich beeindruckend ist, wie gut es Nelson gelingt, jede Schaffensphase von Miles Davis zu seinem Recht kommen zu lassen. Denn die Fans von „Birth of the Cool“ und seinen Bop-Aufnahmen sind nicht unbedingt die Fans von „Kind of Blue“ (seine bekannteste Platte, die auch Jazzhasser lieben) oder „Sketches of Spain“ (um nur eine Orchester-Zusammenarbeit mit Gil Evans zu erwähnen) oder von „Bitches Brew“ (und seinen darauf folgenden immer freier werdenden Fusion-Aufnahmen) oder von „You’re under Arrest“ (mit dem Cyndi-Lauper-Cover „Time after Time“ und seinen sehr poppigen Aufnahmen aus den Achtzigern) oder von seiner letzten, wenige Monate nach seinem Tod erschienen LP „Doo-Bop“, in der er Jazz mit Hip-Hop fusionierte. Diese stilistischen Wechsel dokumentieren eine immer währende musikalische Neugier, die wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse der Fans nimmt, die vor allem immer wieder das gleiche hören wollen.

In der zweistündigen Doku gibt es keine groben Auslassungen oder grob falsche Gewichtungen. Auch wenn der Davis-Fan selbstverständlich hier und da, ja nach persönlicher Davis-Lieblingsschaffensphase, gerne mehr oder weniger in die Tiefe gegangen wäre. Neben dem Werk geht Nelson auch auf Davis‘ Leben, seine durchaus problematische Persönlichkeit und seine kulturelle und auch popkulturelle Bedeutung ein.

Somit ist „Miles Davis – Birth of the Cool“ für den Davis-Fan eine Auffrischung bekannter Informationen und eine Einladung, mal wieder eine Platte von ihm aufzulegen (wobei wahrscheinlich eine CD einschieben oder eine Playlist anklicken näher an der Wirklichkeit ist). Für den Novizen ist die Doku ein glänzender und rundum gelungener Überblick über das Leben und Werk eines der wichtigsten Jazzmusiker.

Miles Davis – Birth of the Cool (Miles Davis: Birth of the Cool, USA 2019)

Regie: Stanley Nelson

Drehbuch: Stanley Nelson

mit (ohne zwischen aktuellen Interviews und Archivmaterial, ohne zwischen kurzen und langen Statements und ohne zwischen allgemein bekannten und unbekannteren Gesprächspartnern zu unterscheiden) Miles Davis, Carl Lumbly (im Original: Stimme von Miles Davis), Reginald Petty, Quincy Troupe, Farah Griffin, Lee Annie Bonner, Ashley Kahn, Benjamin Cawthra, Billy Eckstine, Walter Cronkite, Jimmy Heath, Jimmy Cobb, Dan Morgenstern, Charlie Parker, Greg Tate, Gerald Early, Quincy Jones, Wayne Shorter, Tammy L. Kernodle, Juliette Gréco, Vincent Bessières, George Wein, Eugene Redmond, Thelonious Monk, Carlos Santana, Herbie Hancock, Marcus Miller, Cortez McCoy, Sandra McCoy, Jack Chambers, Frances Taylor, Johnny Mathis, René Urtreger, Joshua Redman, John Coltrane, James Mtume, Lenny White, Vincent Wilburn Jr., Archie Shepp, Stanley Crouch, Gil Evans, Cheryl Davis, Ron Carter, Sly and the Family Stone, Clive Davis, Betty Davis, Marguerite Cantú, Mark Rothbaum, Erin Davis, Mike Stern, Mikel Elam, Jo Gelbard, Prince, Wallace Roney

Länge: 115 Minuten

FSK: ab 0 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Miles Davis: Birth of the Cool“

Metacritic über „Miles Davis: Birth of the Cool“

Rotten Tomatoes über „Miles Davis: Birth of the Cool“

Wikipedia über Miles Davis (deutsch, englisch)

Homepage von Miles Davis

AllMusic über Miles Davis


Wunderschöne Mitternachtsmusik mit Bill Frisell und Thomas Morgan

August 16, 2018

Für ECM nahmen Gitarrist Bill Frisell und Kontrabassist Thomas Morgan die CD „Small Town“ auf. Vor einem Jahr stellten sie im Paste Studio einige Stücke von der CD vor und beantworteten sehr, sehr zögerlich einige Fragen:


„I got Rhythm“ – die Comic-Biographie von Coco Schumann

September 22, 2014

Vor wenigen Wochen, am 14. Mai, feierte Coco Schumann seinen neunzigsten Geburtstag, was keine große Meldung wäre, wenn Schumann nicht Berliner (immerhin halten die Berliner sich dank Geburt für den Nabel des Universums), Musiker und Jude wäre. Genaugenommen Halbjude oder in der Nazi-Sprache „Geltungsjude“, weshalb er dann auch im KZ landete.
Davor, wie der schöne, aber auch etwas didaktische Comic „I got Rhythm – Das Leben der Jazzlegende Coco Schumann“ von Autorin Caroline Gille und Zeichner Niels Schröder zeigt, war er ein typischer Berliner Junge, dem vor allem die Musik in den Vergnügungslokalen gefiel und weil er schon früh seine Liebe zur Musik entdeckte, spielte er als Gitarrist in etlichen Bands mit. Beim Alter schwindelte er oft. Und nach 1933 auch bei seiner Herkunft.
1943 kam er nach Theresienstadt, dem Propaganda-KZ, in dem jüdische Künstler arbeiteten und für ausländische Besucher und den Film „Theresienstadt – Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“ (auch bekannt als „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“) immer wieder eine Charade aufgezogen wurde. Schumann war auch Mitglied der „Ghetto Swingers“, die für Gäste gute Laune verbreiten durften. 1944 kam er dann nach Auschwitz.
Diese Jahre, über die Coco Schumann lange nicht sprach, stehen auch im Zentrum von „I got Rhythm“. Sein Leben nach dem Krieg wird dann eher flott abgehandelt: er heiratete Gertraud Goldschmidt, die ebenfalls im KZ war, sie zogen 1950 nach Australien und 1954 wieder zurück nach Berlin. Während seines ganzen Lebens war Schumann Musiker, Jazzgitarrist mit einer Liebe zum Swing, der aber Unterhaltungsmusik spielte, unter anderem zusammen mit Helmut Zacharias. Also die Schlager der fünfziger und sechziger Jahre, die nichts mit den heutigen Schlagern zu tun haben. Er begleitete auch verschiedene US-Stars bei ihren Berlin-Konzerten, wie Dizzy Gillespie und Louis Armstrong, und in dem Heinz-Erhardt-Film „Witwer mit fünf Töchtern“ war er auch dabei.
Einem jüngeren Publikum wurde er 1997 bekannt, als er seine Biographie „Der Ghetto-Swinger“ und Trikont mehrere CDs unter seinem Namen veröffentlichte.
Caroline Gille und Niels Schröder erzählen dieses Leben in ihrem Comic chronologisch nach. Die Panels sind Aquarelle, die gelungen die Atmosphäre der Geschichte wiedergeben. Der Text liest sich weitgehend wie eine mit historischen Fakten angereichterter Lexikonartikel, weshalb der Comic auch gut in der Schule oder der Bildungsarbeit eingesetzt werden kann.
Das ist deutlich braver als Will Eisners biographischer Comic „Zum Herzen des Sturms“ (To the Heart of the Storm, 1992) oder Art Spiegelmans „Maus – Die Geschichte eines Überlebenden“ (Maus – A Survivor’s Tale, 1991), die sich ebenfalls mit Fragen jüdischer Identität und dem Nationalsozialismus befassen.
Aber „Ghetto-Swinger“ Coco Schumann war auch nie ein Konventionen umstürzender Musiker. Insofern ist die Beschreibung „Jazzlegende“ doch arg hoch gegriffen und „I got Rhythm“ reflektiert treffend Coco Schumanns musikalisches Ideal.

Gille - Schröder - I got Rhythm - 2

Caroline Gille/Niels Schröder: I got Rhythm – Das Leben der Jazzlegende Coco Schumann
be.bra Verlag, 2014
160 Seiten
19,95 Euro

Hinweise

Homepage von Niels Schröder (Informatives zum Comic)

be.bra verlag über „I got Rhythm“

Trikont über Coco Schumann (viel Material)

Wikipedia über Coco Schumann


Miles Davis rockt 1985

Juni 19, 2014

Für die Mittagspause

Die Band
Miles Davis: Trompete, Keyboard
Bob Berg: Tenor-, Sopransaxophon
John Scofield: Gitarre
Robert Irving III: Keyboards
Darryl Jones: Bass
Vincent Wilburn: Schlagzeug
Steve Thornton: Percussion
aufgenommen am 28. Juli 1985 in Tokio
Die LPs, die Miles Davis damals aufnahm, waren alle mehr oder weniger enttäuschend. Aber das Konzert knüpft an den Miles Davis der siebziger Jahre an.
Fantastisch!

Das „Rolling Stone“-Totaldesaster „Die 100 besten Jazz-Alben aller Zeiten“

September 26, 2013

 

Lieber Rolling Stone,

 

als ich das neue Heft in der Hand hielt, jauchzte ich vor Freude. Eine DVD mit Aufnahmen vom Jazzfest Montreux und – obwohl ich kein großer Freund von Listen bin – eine Liste mit den „100 besten Jazz-Alben aller Zeiten“.

Und dann das:

Auf der DVD ist der echte Jazz eher rar. Immerhin sind Charles Mingus, Miles Davis, Ella Fitzgerald und Etta James dabei. Aber auch Van Morrison, James Brown (beide okay), Talk Talk und die Stray Cats. Das ist dann doch arg poppig.

Naja, Montreux hatte auch immer eine starke Popschiene.

Aber die Liste der „100 besten Jazz-Alben aller Zeiten“ ist eine Frechheit. Von den hundert gelisteten Alben erschienen null (!!!) Platten vor 1950 (auch Charlie Parker fehlt) und zwanzig nach 1970, davon fünf nach 1980. Wobei man ehrlicherweise die beiden bereits in den Sechzigern aufgenommenen Live-Aufnahmen von John Coltrane rausrechnen muss.

Sehen wir uns mal die Post-1970-Aufnahmen an:

Nach 1970

Miles Davis: Bitches Brew (1970, Platz 12)

Carla Bley: Escalator over the hill (1971, Platz 19)

Alice Coltrane: Journey in Satchidananda (1970, Platz 25)

Herbie Hancock: Sestant (1973, Platz 28)

Sun Ra: Space is the place (1973, Platz 35)

Herbie Hancock: Head Hunters (1973, Platz 37)

Archie Shepp: Attica Blues (1972, Platz 44)

Charles Mingus (1972, Platz 67)

Sun Ra: Lanquidity (1978, Platz 68)

Duke Ellington: Afro-Eurasian Eclipse (1971, Platz 70)

Mahavishnu Orchestra: The inner mounting flame (1971, Platz 75)

Ornette Coleman: Dancing in your heads (1977, Platz 78)

Keith Jarrett: The Köln Concert (1975, Platz 85)

Om: Om with Dom Um Romao (1978, Platz 90)

John Coltrane: Sun Ship (1971, Platz 97 – eine Live-Aufnahme von 1965)

Yeah, nach 1975 wird die Luft merklich dünner.

Nach 1980

Matana Roberts: Coin Coin Chapter One: Gens de couleur libres (2011, Platz 48)

Allan Toussaint: The bright Mississippi (2009, Platz 82)

John Coltrane: The Olatunji Concert (2001, Platz 88 – also 2001 veröffentlicht. Das Konzert war 1967)

Nils Petter Molvar: Khmer (1998, Platz 92)

Miles Davis: Tutu (1986, Platz 96 – Ehrlich? Hat Miles Davis seit „Bitches Brew“ wirklich nichts besseres eingespielt?)

Und jetzt die ersten fünf Plätze

John Coltrane: A love supreme (1965)

Miles Davis: Kind of Blue (1959)

Charles Mingus: Mingus Ah Um (1959)

Pharoah Sanders: Karma (1969)

Eric Dolphy: Out to lunch! (1964)

Gute Alben. Die bekannten Klassiker eben.

Dieses Mal werden sogar die Jurymitglieder genannt. Ausgewiesene Jazzmusiker und -kritker sind kaum dabei. Gleiches gilt für Labelbetreiber und Veranstalter. Von den bekannten Jazz-Zeitschriften ist niemand dabei. Die Jury ist eher ein Strauß Buntes.

Was fehlt? Salopp gesagt alles ab 1970 und fast alles, was nicht aus den USA kommt. Also Musiker wie – ohne irgendeinen Anspruch auf Vollständigkeit: Ray Anderson, Django Bates, Tim Berne, Steve Coleman, Gary Thomas, Bill Frisell, John Scofield, Pat Metheny, John Abercrombie, John McLaughlin (abgesehen von der „Mahavishnu Orchestra“-Platte), Brad Mehldau, John Zorn, Dave Douglas, Jim Black, Kenny Garrett, Don Byron, Louis Sclavis, David Murray, Geri Allen, Paul Motian, Joe Lovano, Joey Baron, Art Ensemble of Chicago, Charles Lloyd, Joshua Redman, James Carter, Wynton Marsalis, Branford Marsalis, Cassandra Wilson, Michael Brecker und die Brecker Brothers, Courtney Pine, Jan Garbarek, Rabih Abou-Khalil, Wolfgang Dauner, Dollar Brand, Randy Weston, Matthew Shipp, Cecil Taylor, Anthony Braxton, Marty Ehrlich, Bobby Previte, Gerry Hemingway, Mark Helias, Ellery Eskelin, Mark Dresser, Ken Vandermark, Julius Hemphill, Vernon Reid, Han Bennink, Irene Schweizer, Alexander von Schlippenbach, Joe Zawinul und Weather Report, Kölner Saxophon Mafia, das Zentralquartett (und der gesamte DDR- und Ostblock-Jazz) undundund und ihre Platten.

Und das sind nur die Jazzer, die mir spontan einfallen.

Da gäbe es unendlich viel zu entdecken.

Aber die „Rolling Stone“-Liste befriedigt wieder einmal nur den Mythos, dass Jazz eine total tote Musik sei, gemacht von einer Handvoll Musiker. Für eine Musikzeitschrift ist diese Liste ein Armutszeugnis, das höchstens mit einer Liste: „Die 100 besten Jazz-Alben der letzten vierzig Jahre“ wieder gutgemacht werden kann.

Bis dahin empfehle ich einfach mal die eben genannten Musiker.

 

Mit freundlichen Grüßen

 

Ein enttäuschter Jazzfan