TV-Tipp für den 21. Dezember: Wo in Paris die Sonne aufgeht

Dezember 20, 2023

Servus TV, 22.15

Wo in Paris die Sonne aufgeht (Les Olympiades, Frankreich 2021)

Regie: Jacques Audiard

Drehbuch: Céline Sciamma, Léa Mysius, Jacques Audiard

LV: Adrian Tomine: Amber Sweet, Killing and Dying, Hawaiian Getaway (3 Comics)

TV-Premiere. Wunderschöner SW-Ensemblefilm im Stil der Nouvelle Vague. Jacques Audiard verfolgt vier junge Menschen, die zutiefst verunsichert über sich und ihre Lebenspläne sind, in Paris durch das 13. Arrondissement stolpern und sich dabei immer wieder begegnen.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Lucie Zhang, Makita Samba, Noémie Merlant, Jehnny Beth, Camille Léon-Fucien, Océane Cairaty, Anaïde Rozam, Pol White, Geneviève Doan

Wiederholung: Freitag, 22. Dezember, 01.50 Uhr (Taggenau!)

Hinweise

Homepage zum Film

AlloCiné über „Wo in Paris die Sonne aufgeht“

Moviepilot über „Wo in Paris die Sonne aufgeht“

Metacritic über „Wo in Paris die Sonne aufgeht“

Rotten Tomatoes über „Wo in Paris die Sonne aufgeht“

Wikipedia über „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ (deutsch, englisch, französisch)

Meine Besprechung von Jacques Audiards „The Sisters Brothers“ (The Sisters Brothers, Frankreich/Spanien/Rumänien/USA/Belgien 2018)

Meine Besprechung von Jacques Audiards „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ (Les Olympiades, Frankreich 2021)


Neu im Kino/Filmkritik: Unfall, Suizid oder Mord? Machen wir die „Anatomie eines Falls“

November 4, 2023

Ein Whodunit ist „Anatomie eines Falls“ (schön doppeldeutiger Titel) nicht. Dafür steht, jedenfalls für die Polizei, die Täterin viel zu schnell fest. Es war die Ehefrau.Es gibt auch keine Spur zu einem anderen möglichen Täter, der Samuel Maleski aus dem Fenster des einsam gelegenen Hauses gestoßen haben könnte. Einen Suizid hält seine Frau Sandra Voyter für unwahrscheinlich. Sie ist eine erfolgreiche Schriftstellerin, die in ihren Werken Wahrheit und Fiktion miteinander verschmilzt. Seit zwei Jahren lebt sie zurückgezogen mit ihrem Mann und ihrem elfjährigem, stark sehbehinderten Sohn Daniel in der Nähe von Grenoble in den Bergen in einem Haus.

Nach einem Spaziergang mit seinem Hund entdeckt Daniel im Schnee die Leiche seines Vaters. In der Stunde vor der Entdeckung der Leiche war Sandra allein mit Samuel. Davor sie stritten sich; – vor einer Studentin, die Sandra für ihre Doktorarbeit interviewte. Anschließend verhinderte er mit lauter und extrem nerviger Musik das Interview.

Alle Beweise sprechen, so stellt auch Sandras Anwalt und Freund Vincent Renzi fest, gegen sie. Das wird auch bei der ungefähr zwei Drittel des Films einnehmenden, im Detail beschriebene Gerichtsverhandlung deutlich. Zeugen sprechen über Sandra, Samuel, die Beziehung von Sandra und Samuel, ihre Beziehung zu ihrem Sohn und wie sich alles in den vergangenen Jahren veränderte. Sandra, die nicht möchte, dass diese intimen Details vor Gericht und damit in der Öffentlichkeit verhandelt werden, steht vor der Frage, welche weiteren Details sie über ihr Leben preisgeben soll.

Als Justine Triets Film dieses Jahr in Cannes die Goldene Palme erhielt, klang es fast so, als habe „Anatomie eines Falls“ nur einen Trostpreis erhalten. Denn Sandra Hüller, die Sandra Voyter spielt, begeisterte in Cannes die Kritik noch in einem weiteren Wettbewerbsfilm. Nämlich Jonathan Glazers Martin-Amis-Verfilmung „The Zone of Interest“. Für die Kritik wurde sie die Schauspielerin des Festivals. Und Sandra Hüller ist auch gewohnt gut als Schrifstellerin, Mutter und Ehefrau, die versucht ihr Privatleben und das ihrer Familie zu schützen. Sie spielt hier, nicht wie in den vergangen Jahren öfters, eine überspannte Frau am Rande des Nervenzusammebruchs, sondern eine normale Frau, die ihre Intimsphäre wahren und ihre Familie beschützen möchte.

Der Film selbst konzentriert sich auf den Kriminalfall. Er zeigt in teils quälender Länge die einzelnen Schritte eines Kriminalfalls vom Anfang bis zum Ende. Also von der Tat über die polizeilichen Ermittlungen, die Besprechungen der Verdächtigen mit dem Anwalt, die einzelnen Verfahrenschritte (wozu hier die Frage, wie die Tatverdächtige, die Mutter, mit dem einzigen Zeugen, der zugleich ihr Sohn ist, zusammenleben kann, ohne dessen Aussage zu beeinflussen) und dem Gerichtsverfahren bis hin zum Urteilsspruch.

Dabei ist dieses Gerichtsverfahren im Vergleich zu den uns aus US-Filmen bekannten Gerichtsverfahren und auch aus anderen französischen Filmen bekannten Gerichtsverfahren erstaunlich wenig formalisiert. Eher schon wirkt es wie ein Kneipenstreit. Das steigert die Spannung und geht auf Kosten der Glaubwürdigkeit.

Gleichzeitig wird deutlich, wie komplex so ein kleiner Fall sein kann. Und wie sehr vergangene Ereignisse in die eine oder in die andere Richtung interpretiert werden können. Auch weil die Zuhörenden nie die ganze Geschichte kennen. Sie fragen sich in dem Moment, ob der Streit unter Eheleuten das Vorspiel für einen Mord war. Oder nur ein lautstarker Streit, der einen Tag später vergessen war.

Diese Konzentration auf einen Fall und das Gerichtsverfahren macht „Anatomie eines Falls“ zu einem Kriminalfilm, der seine Spannung über zweieinhalb Stunden halten kann. 

Anatomie eines Falls (Anatomie d’une chute, Frankreich 2023)

Regie: Justine Triet

Drehbuch: Justine Triet, Arthur Harari

mit Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado Graner, Antoine Reinartz, Samuel Theis, Jehnny Beth

Länge: 151 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

 

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Neu im Kino/Filmkritik: Jacques Audiard verrät „Wo in Paris die Sonne aufgeht“

April 7, 2022

Nein, das ist nicht das 13. Arrondissement, das wir aus Léo Malets Nestor-Burma-Roman „Die Brücke im Nebel“ kennen. Der Roman spielt in den Fünfzigern und Nestor muss den Mord an einem alten Freund, den er während seiner Zeit als Anarchist kennen lernte, aufklären. In Jacques Audiards, fast siebzig Jahre später, ebenfalls in diesem Pariser Viertel spielendem Film „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ geht es um die Liebe und die Gefühle von Thirty-Somethings auf der Suche nach dem Sinn des Lebens.

Émilie hat die Elite-Schule Sciences Po erfolgreich abgeschlossen. Aber anstatt jetzt ihre berufliche Karriere zu beginnen, treibt sie von einem Gelegenheitsjob zum nächsten.

Sie wohnt im 13. Arrondissement in einer Wohnung, die sie sich leisten kann, weil sie ihrer im Heim liegenden Großmutter gehört. Um die Kosten weiter zu senken, nimmt sie regelmäßig Untermieter bei sich auf.

Ihr neuester Untermieter ist Camille. Der von seiner Arbeit frustrierte Literaturlehrer wird ihr Liebhaber. An einer längerfristigen Beziehung haben beide zunächst kein Interesse.

Da lernt er, inzwischen als heillos überforderter Immobilienmakler arbeitend, Nora kennen. Sie hat ihre Arbeit als Immobilienmaklerin in der Provinz aufgegeben. Sie will ihr Studium fortsetzen. Aber als Anfang-Dreißigjährige fremdelt sie mit dem Studienbetrieb und ihren jüngeren Mitstudierenden.

Als sie für eine Party eine Perücke aufzieht, wird sie von ihren Kommilitonen für das Cam-Girl Amber Sweet gehalten. Verstört verläßt sie die Party und nimmt später, via Webcam, Kontakt zur echten Amber Sweet auf.

Jacques Audiards neuer Film ist das Gegenteil von seinem Western „The Sisters Brothers“. „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ ist nämlich ein kleiner SW-Film im Nouvelle-Vague-Stil. Audiard erzählt seinen lockeren Reigen von Liebe, Verlassenwerden, Enttäuschungen, Erwartungen und Verunsicherungen als einen lyrischen Ensemblefilm, in dem sich die Wege der vier jungen Menschen immer wieder kreuzen. Sie sind alle immer noch nicht Erwachsen, sondern zutiefst verunsichert über sich und ihre Lebenspläne. Sie stolpern von einer kurzen Beziehung zur nächsten. Sie wechseln ziellos zwischen Jobs und Studium. Nur Amber Sweet scheint ihren Platz gefunden zu haben. Deshalb ist das mit viel Humor gewürzte Drama auch ein Film über das Erwachsenwerden im 21. Jahrhundert. In der Großstadt.

Wo in Paris die Sonne aufgeht (Les Olympiades, Frankreich 2021)

Regie: Jacques Audiard

Drehbuch: Céline Sciamma, Léa Mysius, Jacques Audiard

LV: Adrian Tomine: Amber Sweet, Killing and Dying, Hawaiian Getaway (3 Comics)

mit Lucie Zhang, Makita Samba, Noémie Merlant, Jehnny Beth, Camille Léon-Fucien, Océane Cairaty, Anaïde Rozam, Pol White, Geneviève Doan

Länge: 106 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

AlloCiné über „Wo in Paris die Sonne aufgeht“

Moviepilot über „Wo in Paris die Sonne aufgeht“

Metacritic über „Wo in Paris die Sonne aufgeht“

Rotten Tomatoes über „Wo in Paris die Sonne aufgeht“

Wikipedia über „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ (deutsch, englisch, französisch)

Meine Besprechung von Jacques Audiards „The Sisters Brothers“ (The Sisters Brothers, Frankreich/Spanien/Rumänien/USA/Belgien 2018)


Neu im Kino/Filmkritik: „Swans – Where does a body end?“ – and does it matter?

Januar 13, 2020

Die Swans sind das, was man gemeinhin Kultband nennt. Es gibt sie schon seit Jahrzehnten, sie haben eingeschworene Fans, bekannte Bewunderer und sind beim Mainstream-Publikum weitgehend unbekannt. Das liegt an der Musik, mit der sie in den frühen achtziger Jahren bekannt wurden. Sie spielten Noise-Rock, was man am einfachsten als eine infernalisch laute Mischung aus Punk und Heavy Metal, nur noch lauter und schlechter gespielt, beschreiben kann. Wobei die Lautstärke ein integraler Teil der Performance ist. Dieser brutale. kakophonische Lärm, garniert mit nihilistischen, schwarzhumorigen Texten ist eine Reaktion der Musiker auf ihre Umwelt und ihre persönlichen Lebensumstände. Bei den Swans, wie auch bei anderen Noise- und No-Wave-Bands, war das das New York der frühen achtziger Jahre, als die Stadt in Müll und Verbrechen versank. Sänger und Gitarrist Michael Gira verarbeitet das in seiner Musik.

Später veränderte die Band ihre musikalische Richtung, wurde aufgelöst und wieder neu gegründet. Inzwischen ist Gira der alles bestimmende kreative Kopf der Swans.

Für seine sehenswerte Doku „Swans – Where does a body end?“ begleitete Marco Porsia Michael Gira und seine Band über fünf Jahre. Er konnte auch Giras Archiv sichten und er interviewte, neben Gira und früheren und aktuellen Bandmitgliedern, wie die in den Achtzigern für den Bandsound und Gira sehr wichtige Sängerin Jarboe, Fans und Freunde der Band, wie Amanda Palmer (The Dresden Dolls), Blixa Bargeld (Einstürzende Neubauten, Nick Cave and The Bad Seeds), Thurston Moore und Lee Ranaldo (beide Sonic Youth und frühe Wegbegleiter der Swans).

In einer formal konventionellen Mischung aus Bildern, Konzertausschnitten und Interviews erzählt Porsia chronologisch die Geschichte der Swans und ihrer radikalen musikalischen Wandlungen von 1982, als sie eine Noise-Rock-Band waren, bis zur Gegenwart, die melodiöser und folkiger ist. Dabei ist vor allem der Rückblick auf die frühen Jahre in das New York der achtziger und neunziger Jahre und ihren immer am Existenzminimum kratzenden Tourneen sehr interessant.

Gerade weil die Swans so eine extreme Musik machen, dürfte sich „Swans – Where does a body end?“ vor allem an Fans der Band und ihrer Musikrichtung richten. Sehenswert ist die gut gemachte und informative Musikdoku trotzdem.

Swans – Where does a body end? (Where does a body end?, Kanada 2019)

Regie: Marco Porsia

Drehbuch: Rodney Ascher, Marco Bresba, David Hyde, Pedro Orrego, Marco Porsia

mit Michael Gira, Devendra Banhart, Blixa Bargeld, Jehnny Beth, Jarboe, Thurston Moore, Amanda Palmer, Lee Ranaldo, Jim Sclavunos, J.G. Thirlwell

Länge: 123 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Swans – Where does a body end?“

Wikipedia über die Swans (deutsch, englisch)

Homepage der Band

Allmusic über die Swans und Michael Gira