Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: Über Kirill Serebrennikovs Olivier-Guez-Verfilmung „Das Verschwinden des Josef Mengele“

Oktober 23, 2025

Nach einem in der Gegenwart spielendem Prolog, in dem Studierende während eines Anatomieseminars die Knochen von Josef Mengele gezeigt bekommen, springt Kirill Serebrennikov zurück in die fünfziger Jahre. In schönster Film-Noir-Manier und selbstverständlich in Schwarz-Weiß flüchtet ein Mann tagsüber durch Buenos Aires. Er fühlt sich verfolgt. Und wie wir ziemlich schnell erfahren, ist seine Sorge nicht vollkommen unberechtigt.

Seit 1949 lebt der Mann als Helmut Gregor in Südamerika. In Wirklichkeit ist es Josef Mengele. Mengele wurde 1911 in Günzburg an der Donau als ältester Sohn des vermögenden Fabrikbesitzers Karl Mengele geboren. Später studierte er Medizin und Anthropologie, war Assistent bei dem Rassenhygieniker Otmar von Verschuer und von Mai 1943 bis Januar 1945 Lagerarzt im KZ Auschwitz-Birkenau. Später wurde er als Todesengel und Monster von Auschwitz bekannt. Zum Mythos wurde er, weil er der Polizei immer wieder entkommen konnte und, auch in fiktionalen Geschichten, alle möglichen Geschichten über ihn verbreitet wurden. Rückblickend hatten sie nichts mit Mengeles Leben in Südamerika zu tun. Der Polizei konnte er über viele Jahre entkommen, weil sie sich nicht für ihn interessierte.

In seinem neuen Film „Das Verschwinden des Josef Mengel“ erzählt Kirill Serebrennikov, unterbrochen von einigen Rückblenden in das KZ Auschwitz, Josef Mengeles Leben in Südamerika und wie er zunehmend paranoid, isoliert und verbittert wird. Bis zu seinem Tod unterstützt ihm seine Familie finanziell. Weitere Unterstützung erhält er in Argentinien unter dem Diktator Perón von weiteren Nazis und einem breiten Netz von Sympathisanten. Serebrennikov zeigt – und das dürften die erschreckensten Szenen des Films sein – wie die Alt-Nazis in Argentinien unbehelligt von jeder Verfolgung und unter den Augen der Öffentlichkeit in ihren Villen ihr Nazitum ungehindert ausleben. Sie müssen sich nicht verstecken und tun es auch nicht.

Für Mengele ist Buenos Aires nur eine Station in Südamerika.

1977 besucht ihn sein Sohn Rolf in der Nähe von Sao Paulo. Er will mehr über seinen Vater erfahren und trifft einen einsamen, in einer heruntergekommenen Wohnung lebenden, verbitterten, die Welt hassenden Mann. Zwei Jahre später hat Mengele in dem brasilianischen Badeort Bertioga beim Schwimmen im Meer einen tödlichen Schlaganfall. Er wird unter falschem Namen beerdigt. 1985 bestätigt eine forensische Untersuchung die Identität von Mengele.

Diese Biographie eines verachtenswerten Mannes faszinierend vor allem in den Szenen, in denen Serebrennikov Mengeles Leben in den fünfziger Jahren in Argentinien und wie er 1956 kurz nach Deutschland zu seiner Familie zurückkehrt und seinen zwölfjährigen Sohn Rolf trifft, erzählt. Später wird „Das Verschwinden des Josef Mengele“ zunehmend zäh. Das gilt vor allem für seine Begegnung mit seinem Sohn 1977 in Sao Paulo. Sie zieht sich in sich wiederholenden Gesprächen endlos hin. Schon davor wird immer deutlicher, dass Mengele kein besonders interessanter oder komplexer Mensch ist. Er ist auch kein Mensch, für den man Mitleid oder Empathie empfinden könnte

Er ist ein Mitläufer, der nicht weiter nachdenkt, ein Rassist und ein Feigling, der nicht einsehen möchte, dass er grausame Verbrechen begangen hat. Er fühlt sich von allen ungericht behandelt. Dankbarkeit, bespielsweise gegenüber seiner ihn finanziell unterstützenden Familie, kennt er nicht. Er ist unfähig zur Reflektion über sich und seine Taten. Er wird zunehmend einsam und paranoid.

August Diehl, der Mengele kongenial spielt, sagt, Mengele „war einfach ein kleiner spießiger Arzt in einem Lager“.

Olivier Guez, der Autor der Romanvorlage, ergänzt im Presseheft: „Jeder andere Mensch, der im Film zu sehen ist, ist wertvoller. Denn er [Josef Mengele] ist unbelehrbar und komplett flach. Er verkörpert die Mediokrität des Bösen“.

Die Vorlage für Kirill Serebrennikovs Noir ist „Das Verschwinden des Josef Mengele“ von Olivier Guez. Guez schrieb auch das Drehbuch für Lars Kraumes „Der Staat gegen Fritz Bauer“. Sein Roman „Das Verschwinden des Josef Mengele“ ist ein Tatsachenroman, der ein strikt an den bekannten Fakten entlangerzählter Bericht ist. Guez reportiert einfach die Ereignisse nacheinander. Das Ergebnis ist eine angesichts des Materials eine erstaunlich dröge lexikalische Lektüre.

Dagegen ist Serebrennikovs etwas lang geratene Verfilmung als gnadenlose Demontage des Übermenschen ein spannender Noir mit satirischen Elementen, Wut auf Mengele, die Nazis und ihre Unterstützer und einem mitleidlosen Blick auf den gefürchteten Auschwitz-Arzt, der zunehmend zum lächerlichen Mann wird.

Das Verschwinden des Josef Mengele (Frankreich/Monaco/Deutschland/Mexiko/USA/Großbritannien/Serbien/Lettland 2025)

Regie: Kirill Serebrennikov

Drehbuch: Kirill Serebrennikov

LV: Olivier Guez: La disparition de Josef Mengele, 2017 (Das Verschwinden des Josef Mengele)

mit August Diehl, Max Bretschneider, David Ruland, Friederike Becht, Mirco Kreibich, Dana Herfurth, Karoly Hajdyk, Falk Rockstroh, Burghart Klaußner

Länge: 135 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

auch bekannt als „The Disappearance“ und „La disparition de Josef Mengele“

Die Vorlage

Olivier Guez: Das Verschwinden des Josef Mengele

(übersetzt von Nicola Denis)

aufbau taschenbuch, 2020

224 Seiten

12 Euro

Deutsche Erstausgabe

Aufbau Verlag, 2018

Originalausgabe

La disparition de Josef Mengele

Éditions Grasset & Fasquelle, Paris 2017

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Das Verschwinden des Josef Mengele“

Moviepilot über „Das Verschwinden des Josef Mengele“

Rotten Tomatoes über „Das Verschwinden des Josef Mengele“

Wikipedia über „Das Verschwinden des Josef Mengele“ (deutsch, englisch) und Josef Mengele (deutsch, englisch)

Perlentaucher über Olivier Guez‘ „Das Verschwinden des Josef Mengele“

Meine Besprechung von Kirill Serebrennikows „Leto“ (Leto, Russland/Frankreich 2018)

Meine Besprechung von Kirill Serebrennikows Alexei-Salnikow-Verfilmung „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“ (Petrovy v grippe, Russland/Frankreich/Deutschland/Schweiz 2021)


TV-Tipp für den 12. Mai: Antonina Tschaikowsky

Mai 11, 2025

Arte, 22.15

Antonina Tschaikowsky (Zhena Chaikovskogo, Russland/Frankreich/Schweiz 2022)

Regie: Kirill Serebrennikov

Drehbuch: Kirill Serebrennikov

TV-Premiere, nachdem der Film, der in Cannes im Wettbewerb lief, hier nur digital in der Originalfassung mit Untertiteln veröffentlicht wurde.

Serebrennikov konzentriert sich auf Pjotr Tschaikowskis Frau Antonia Miljukova, die von 1877 bis 1893 mit dem Komponisten, der sich lieber mit Männern umgab, unglücklich verheiratet war.

Indem der Film in Miljukowas Innenleben eintaucht, macht er einen großen Schmerz greifbar, verharrt aber gleichzeitig in reaktionären Bildern von Weiblichkeit, sodass sich eine spannende, mitunter aber auch arg befremdliche Mischung ergibt.“ (Lexikon des Internationalen Films)

mit Alyona Mikhailova, Odin Lund Biron, Miron Fedorov, Nikita Elenev, Philip Avdeev

Streaming-Titel: Madame Tschaikowski bzw. Madame Tchaikovsky

Hinweise

Rotten Tomatoes über „Antonia Tschaikowsky“

Wikipedia über „Antonia Tschaikowsky“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Kirill Serebrennikows „Leto“ (Leto, Russland/Frankreich 2018)

Meine Besprechung von Kirill Serebrennikows Alexei-Salnikow-Verfilmung „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“ (Petrovy v grippe, Russland/Frankreich/Deutschland/Schweiz 2021)


Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“ in Kirill Serebrennikovs Alexei-Salnikow-Verfilmung

Januar 26, 2023

Erstens: Kirill Serebrennikovs neuer Film beginnt mit dem Hinweis, in dem Film seinen Szenen, in denen geraucht und Alkohol getrunken werde. Nun, ob diese zutreffende Warnung für Sechzehnjährige (der Film ist hier „frei ab 16 Jahre“) wirklich nötig ist, bezweifle ich ernsthaft. Außerdem, wenn es schon gut gemeinte Warnungen gibt, hätten die Macher auch gleich auf die teils sehr graphisch gezeigte Gewalt, längere Nacktszenen, vulgäre Sprache und die konstante Reizüberflutung hinweisen können. Und da sind wir noch lange nicht beim Inhalt angelangt. Vor dem könnte auch noch gewarnt werden. Denn dieser ist ziemlich verstörend. Jedenfalls für alle, die glauben, Russland sei ein Paradies, in dem jeder gerne leben möchte.

Aber wahrscheinlich ist die Warnung nur ein Witz über idiotische Triggerwarnungen – oder bei russischen Filmen eine Auflage, die erfüllt werden muss, um den Film dort im Kino zeigen zu dürfen.

Zweitens: Kirill Serebrennikov ist Russe und einer der wichtigsten zeitgenössischen russischen Regisseure.

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine vor einem knappen Jahr wird ja darüber diskutiert, ob deswegen auch russische Künstler und Kunst boykottiert werden sollten. Wer dies etwas differenzierter tut, muss zur Kenntnis nehmen, dass Serebrennikov kein Putin-Freund, sondern schon seit Jahren ein wortstarker Putin-Kritiker ist. Mit offensichtlich fingierten Beschuldigungen wurde er angeklagt und verurteilt. Er stand jahrelang unter Hausarrest und er durfte das Land nicht verlassen. Seine Arbeiten wurden, wenig überraschend, von der Regierung als systemkritisch eingestuft.

Selbstverständlich kritisiert Serebrennikov den völkerrechswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine. Seit April 2022 lebt er in Berlin.

In dem Moment hatte er seinen neuen Film bereits abgedreht. In Cannes wurde „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“ bereits 2021 im Wettbewerb gezeigt.

Im Mittelpunkt der schwarzhumorigen Satire steht, naja eher taumelt und schneuzt Petrow sich in den ruhigen Tagen zwischen Weihnachten und Silvester durch Jekaterinburg. Er fährt Bus. Er trifft seinen alten Freund Igor und gemeinsam begeben sie sich in einem Leichenwagen, in dem gerade in einem Sarg eine Leiche befördert wird, auf eine ausgedehnte Sauftour.

Währenddessen schlägt sich Petrows Frau, eine Bibliothekarin, mit einem Lesekreis herum, kocht und verletzt ihren Sohn. Auch sie erkrankt und fantasiert.

Ihrem Sohn ergeht es nicht besser. Aber er will unbedingt ins Theater zum Jolkafest, dem sowjetischen und jetzt russischen Äquivalent zu einer hiesigen Weihnatsshow.

Petrov’s Flu“ ist wie ein Fiebertraum, in dem die Figuren sich immer wieder an vergangene Ereignisse erinnern, fantasieren und durch die Stadt stolpern. Im Film und in Alexei Salnikows Roman „Petrow hat Fieber“, den Serebrennikov verfilmte, bewegen Petrow und Petrowa sich zwar ständig durch die Stadt, aber eine konventionelle Geschichte ergibt sich daraus nicht. Ihre Bewegungen sind eher ziellos und immer wieder verändern Zufälle ihren ursprünglich geplanten Weg. Es wird munter vor sich hin assoziiert. Einige Figuren und Themen tauchen öfter auf. Einige Ereignisse werden zu einem späteren Zeitpunkt aus einem anderen Blickwinkel betrachtet.

Dabei folgt Serebrennikov Salnikows Roman ziemlich präzise. Auch wenn er einiges weglässt und einige Episoden verschiebt. Der größte Unterschied ergibt sich aus seiner Erzählweise. Der sehr russische Roman ist doch etwas langsam und fast schon langweilig realistisch erzählt. Obwohl die Geschichte in der Gegenwart spielt und es zahlreiche Anspielungen auf die US-Popkultur gibt (so werden „Matrix“ und „Fight Club“ erwähnt), könnte sie genausogut vor vierzig, fünfzig oder sogar hundert Jahren spielen. Der trinkfreudige Petrow und seine ebenso trinkfreudigen Freunde verkörpern genau das Bild, das wir von Russland haben. Die unhöfliche, die Fahrgäste beleidigende Schaffnerin und die abgeranzten Wohnungen strahlen genau den autoritätshörigen Mief aus, den wir mir der untergegangenen Sowjetunion und ihrer konstanten Mangelwirtschaft verbinden.

Im Film wird daraus eine Dystopie, die ein Land lange nach seinem Zerfall in einem Zustand hysterischer Ohnmacht zeigt. Serebrennikov zeigt diesen rasenden Stillstand in oft extrem langen Takes als eine konstante Reizüberflutung. Das gilt sogar für die wenigen ruhigen Szenen.

Das ist ein ziemlich furioser und die Sinne überwältigender Trip. Auch ohne Alkohol und Rauschwaren. Mit zweieinhalb Stunden ist diese kaum verhüllte Zustandsbeschreibung eines im Chaos vor sich hin taumelnden Reiches aber deutlich zu lang geraten. Eine halbe Stunde weniger wäre mehr gewesen.

Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber (Petrovy v grippe, Russland/Frankreich/Deutschland/Schweiz 2021)

Regie: Kirill Serebrennikov

Drehbuch: Kirill Serebrennikov

LV: Alexei Salnikow: Petrovy v grippe i vokrug nego, 2016 (Petrow hat Fieber)

mit Semyon Serzin, Chulpan Khamatova, Yulia Peresild, Yuri Kolokolnikov, Yuriy Borisov, Ivan Dorn, Aleksandr Ilyin, Sergey Dreyden, Olga Voronina, Timofey Tribuntsev, Semyon Steinberg, Georgiy Kudrenko

Länge: 152 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Die Vorlage

Alexei Salnikow: Petrow hat Fieber – Gripperoman

(übersetzt von Bettina Kaibach)

Suhrkamp, 2022

368 Seiten

25 Euro

Originalausgabe

Petrovy v grippe i vokrug nego

AST/Redakcija Elena Subina, 2016

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“

Moviepilot über „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“

Metacritic über „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“

Rotten Tomatoes über „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“

Wikipedia über „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“ (deutsch, englisch)

Perlentaucher über den Roman „Petrow hat Fieber“

Meine Besprechung von Kirill Serebrennikovs „Leto“ (Leto, Russland/Frankreich 2018)