Neu im Kino/Filmkritik: „Sunset“, der zweite Film von „Son of Saul“-Regisseur László Nemes

Juni 15, 2019

Für sein Debüt „Son of Saul“ erhielt László Nemes den Auslands-Oscar. Neben etlichen anderen Preisen. Das intensive Drama wurde von der Kritik breit abgefeiert. Es ist einer der Feelbad-Filme, die man unbedingt einmal gesehen haben muss. Nemes erzählt die Geschichte von Saul Ausländer, der im KZ Auschwitz-Birkenau verzweifelt seinen Sohn (den er wahrscheinlich niemals hatte) nach jüdischem Ritus beerdigen möchte. Anhand dieser Geschichte schildert Nemes eine Odyssee durch das KZ. Dabei verfolgt er Saul in langen Plansequenzen mit der Handkamera. Der Schrecken findet am Bildrand, im Bildhintergrund und auf der Tonspur statt.

Sein neuester Film „Sunset“ erzählt auf den ersten Blick eine ganz andere Geschichte. Im Mittelpunkt des Historiendramas steht die junge Irisz Leiter, die 1913 in Budapest in dem edlen Geschäft anfangen möchte, das einst ihren Eltern gehörte und das noch immer ihren Namen trägt. Seit ihrer jüngsten Kindheit, als ihre Eltern bei einem Brand starben, ist Irisz eine Waise. Der neue Inhaber des Geschäfts, Oskar Brill, weist sie brüsk ab. Die ausgeschriebene Stelle sei schon lange besetzt.

Schon in diesem Moment zeigen die harschen und seltsamen Reaktionen von Brill und seinen Angestellten auf ihre Bewerbung, dass es um den Tod ihrer Eltern und den jetzigen Inhaber des Geschäftes ein Geheimnis gibt. Auch Irisz‘ Begehren, ausgerechnet diese Stelle zu bekommen, ist etwas seltsam. Auch sie verbirgt ihre wahren Absichten. Denn ihre Erklärung, dass sie als Leiter unbedingt in dem Geschäft arbeiten müsse, das ihren Namen trägt und das ihren Eltern gehörte, ist nicht sonderlich glaubwürdig. Außer sie möchte die künftige Inhaberin werden.

Etwas später erfährt Irisz Leiter, dass sie einen Bruder hat, über den nichts genaues bekannt ist. Er könnte als untergetauchter Revolutionär für verschiedene Anschläge verantwortlich sein.

Zunehmend wahnhaft versucht Irisz herauszufinden, was ihr verschwiegen wird.

Damit wird „Sunset“, wie „Son of Saul“, schnell zur Geschichte einer Person, die wahnhaft ein Ziel verfolgt, während unklar ist, ob sie dabei von einem Wahngebilde ausgeht. Also ob überhaupt irgendeine ihrer Grundannahmen stimmt. In dieser Beziehung ist Irisz eine Schwester von Saul.

Auch die Inszenierung gleicht der von „Son of Saul“. „Son of Saul“-Kameramann Mátyás Erdély inszeniert wieder beeindruckende und beeindruckend lange Plansequenzen. Wieder wird die Hauptperson unerbittlich in den Bildmittelpunkt gerückt und wieder verfolgt die Kamera sie unerbittlich, während wichtige Ereignisse am Bildrand und außerhalb des Bildes stattfinden.

Aber hier funktioniert dieses Stilmittel nur bedingt. Der KZ-Horror ist wesentlich bekannter. Seit Jahrzehnten wird darüber diskutiert ob und wie man ihn darstellen kann. „Son of Saul“ knüpft natürlich auch an diese Diskussion an und Nemes hat eine überzeugende Lösung gefunden. Über das Leben in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie kurz vor dem Ausbruch des I. Weltkriegs ist dagegen weniger bekannt. Nemes rekurriert hier auf ein historisches Wissen, das nicht vorhanden ist. Entsprechend schwierig sind die historischen Anspielungen zu entschlüsseln.

Gleichzeitig ist die Mystery-Geschichte sehr nebulös gehalten. Regisseur Nemes wollte das so, damit die Zuschauer selbst Dinge hineininterpretieren können.

Bei mir führte das dazu, dass ich den Ereignissen in „Sunset“ zunehmend distanziert und auch gelangweilt folgte. Zu unverständlich sind die Handlungen von Irisz Leiter. Zu viele Rätsel werden angehäuft, ohne wirklich aufgeklärt zu werden. Und in der letzten Minute wird das alles auf eine ganz andere Ebene gehoben, die auf mich wie ein fehlgeschlagener Witz wirkte.

Das ändert nichts daran, dass „Sunset“ technisch beeindruckend ist und er ein intensives, ziemlich alptraumhaftes Bild der Vorkriegszeit zeichnet.

Beim Venedig Film Festival 2018 gewann „Sunset“ den FIPRESCI Preis.

Im Gegensatz zu ‚Son of Saul‘, der sehr akribisch und fast dokumentarisch aufgebaut ist, erinnert ‚Sunset‘ an ein Märchen, ein Mysterium in sich. Es lädt den Zuschauer ein, zusammen mit der Protagonistin einen Weg durch einen Irrgarten aus Fassaden und Ebenen zu finden. Von Anfang an habe ich mir vorgestellt, dass der Film den Zuschauer in ein persönliches Labyrinth stürzt, während er Iris auf der Suche nach ihrem Bruder begleitet und mit ihr herauszufinden versucht, was sich in der Welt verbirgt, die sie erkennen will. Hinter jedem Hinweis, den sie zu entdecken scheint, gibt es widersprüchliche Informationen. Unter jeder Schicht kommt eine neue zum Vorschein, und die Hauptfigur mag sich selbst nicht einmal darüber im Klaren sein, welch ein tiefgehender Prozess sich in ihr vollzieht. Iris ist ein Charakter, der zwischen Licht und Dunkelheit gefangen ist, zwischen Schönheit und Gefahr, unfähig mit den Grauzonen zurechtzukommen. In diesem Sinne ist ‚Sunset‘ auch die Geschichte eines Mädchens, des Aufblühens einer seltsamen Blume.“

László Nemes über seinen Film

Sunset (Napszállta, Ungarn/Frankreich 2018)

Regie: László Nemes

Drehbuch: László Nemes, Clara Royer (Ko-Autor), Matthieu Taponier (Ko-Autor)

mit Juli Jakab, Vlad Ivanov, Susanne Wuest, Evelin Dobos, Marcin Czarnik, Levente Molnár

Länge: 142 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Sunset“

Metacritic über „Sunset“

Rotten Tomatoes über „Sunset“

Wikipedia über „Sunset

Meine Besprechung von László Nemes‘ „Son of Saul“ (Saul fia, Ungarn 2015)


TV-Tipp für den 23. Mai: Son of Saul

Mai 23, 2018

Arte, 22.10

Son of Saul (Saul fia, Ungarn 2015)

Regie: László Nemes

Drehbuch: László Nemes, Clara Royer

Saul Ausländer ist 1944 einer der Juden im Sonderkommando im KZ Auschwitz-Birkenau. Als ein Junge zunächst die Gaskammer überlebt, möchte er ihn später nach jüdischem Ritus beerdigen.

Beeindruckendes, aufwühlendes Drama, das zahlreiche Preise erhielt: unter anderem den FIPRESCI und den Großen Preis der Jury in Cannes und den Bafta, Golden Globe und Oscar als bester ausländischer Film. „Son of Saul“ gelingt es das Grauen des KZ zu zeigen, ohne es zu zeigen.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Géza Röhrig, Levente Molnár, Urs Rechn, Todd Charmont, Sándor Zsótér, Marcin Czarnik, Jerzy Walczak

Hinweise
Englische Homepage zum Film
Moviepilot über „Son of Saul“
Metacritic über „Son of Saul“
Rotten Tomatoes über „Son of Saul“
Wikipedia über „Son of Saul“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von László Nemes‘ „Son of Saul“ (Saul fia, Ungarn 2015)


Neu im Kino/Filmkritik: Der Oscar-Gewinner „Son of Saul“

März 12, 2016

Oscar als bester ausländischer Film – das ist nach den zahlreichen Preisen, die „Son of Saul“ seit dem Großen Preis der Jury in Cannes erhielt, der Höhepunkt an Ehrungen für den bedrückenden und nicht unumstrittenen Film. Denn es geht auch um die Frage, ob man den Holocaust zeigen kann und wie man ihn zeigt, ohne zum Voyeur zu werden. Dass László Nemes‘ Debütfilm jetzt endlich, mit dem Oscar-Gewinn als Rückenwind, in einigen Kinos bei uns anläuft ist, nun, eine glückliche Fügung, die hoffentlich für mehr Aufmerksamkeit und auch mehr Zuschauer sorgt. Denn „Son of Saul“ ist wirklich kein einfacher Film und auch kein Film, den man sich als Feierabendvergnügen ansieht. Dafür gibt es ja genug andere Filme, die man teilweise schon Stunden nach dem Abspann vergisst. „Son of Saul“ ist da anders.
Im Mittelpunkt steht Saul Ausländer. Er gehört im Oktober 1944 im KZ Auschwitz-Birkenau zum Sonderkommando und was er und die anderen Häftlinge, die zu diesem Arbeitskommando tun, sehen wir in den ersten Minuten in einer langen, komplizierten Plansequenz: er treibt die neu angekommenen jüdischen Häftlinge von den Bahngleisen in das Gebäude, in die Umkleidekabine und in die Gaskammer. Danach schrubben sie hastig die Böden, zerren die Leichen zur Verbrennung und plündern sie.
Nemes, der bei drei Filmen von Béla Tarr dessen Assistent war (unter anderem bei „Der Mann aus London“), schildert dieses Grauen vor allem über die Tonspur und am Bildrand. Oft verschwommen, aber immer deutlich genug erkennbar, um den Blick auf genau diese Ränder zu lenken, die man genauer erkennen will und die man aufgrund seines Vorwissens entziffern kann. Im Mittelpunkt des Bildes ist dabei immer Géza Röhrig, der Saul Ausländer spielt. Mal von vorne, mal von hinten. Entsprechend subjektiv ist der Blick des Films, der auch den zunehmenden Tunnelblick Ausländers spiegelt.
Denn Ausländer glaubt, dass einer Toten, ein Kind, aus seinem Heimatort kommt und sein Sohn ist. Er will ihm ein richtiges jüdisches Begräbnis verschaffen. Dafür benötigt er einen Rabbi.
Ausgehend von dieser Prämisse schickt Nemes seinen Protagonisten auf eine Reise durch das KZ, die er durchgehend in bis zu zehn Minuten langen Szenen erzählt, die, neben dem Bildformat und dem Ton, eine bedrückende Qualität entwickeln. Es ist eine Welt ohne Hoffnung. Und Ausländers Suche nach einem Rabbi für ein ordentliches jüdisches Begräbnis wird, angesichts des um ihn herum tobenden Wahnsinns, zunehmend irrational. Unabhängig davon, ob es sein Sohn ist oder nicht. Es ist der Strohhalm, an den er sich klammert, während gleichzeitig einige KZ-Häftlinge einen historisch verbürgten Aufstand planen.
Der Aufstand scheiterte.

Son of Saul - Plakat

Son of Saul (Saul fia, Ungarn 2015)
Regie: László Nemes
Drehbuch: László Nemes, Clara Royer
mit Géza Röhrig, Levente Molnár, Urs Rechn, Todd Charmont, Sándor Zsótér, Marcin Czarnik, Jerzy Walczak
Länge: 107 Minuten
FSK: ab 16 Jahre

Hinweise
Englische Homepage zum Film
Moviepilot über „Son of Saul“
Metacritic über „Son of Saul“
Rotten Tomatoes über „Son of Saul“
Wikipedia über „Son of Saul“ (deutsch, englisch)

DP/30 unterhält sich mit Lászlo Nemes, dem Regisseur des Films, und Mátyás Erdély, dem Kameramann

und, wieder mit dem Regisseur und Hauptdarsteller Géza Röhrig