Neu im Kino/Filmkritik: „Köln 75“: Vera Brandes organisiert ein Konzert, Keith Jarrett konzertiert solo

März 12, 2025

Von mindestens zwei Seiten, nämlich der der Organisatorin und der des Künstlers, nähert Ido Fluk sich in seinem Film „Köln 75“ einem Konzert, das später als Doppel-LP veröffentlicht wurde.

Die siebzehnjährige Vera Brandes (Mala Emde) lebt in den siebziger Jahren in Köln und geht aufs Gymnasium. Ihr Vater ist Zahnarzt und ein Tyrann. Sie ist musikverrückt. Aber sie liebt nicht die Rock- und Popmusik, die Gleichaltrige hören, sondern Jazz. Neben der Schule organisiert sie Konzerte. Als sie in Berlin bei den Jazztagen Keith Jarrett erlebt, ist sie begeistert. Sie will eines seiner Solo-Konzerte in Köln präsentieren. Diese vollkommen frei improvisierten Konzerte spielt Jarrett seit 1972. Seit 1971 veröffentlicht Manfred Eicher, der Gründer des legendären Jazzlabels ECM, bis heute fast alle Aufnahmen von Jarrett in teils umfangreichen Boxsets, die ganze Konzerte und Reihen dokumentieren. Jarretts erste ECM-LP war die 1971 aufgenommene, 1972 veröffentlichte Solo-Piano-LP „Facing You“, die gleichzeitig Jarretts erste Solo-LP war.

Und damit wären wir, wenn wir den Film als klassische LP betrachten, bei der ersten und zweiten Seite von Ido Fluks „Köln 75“. Der süffige Musikfilm beginnt während des fünfzigsten Geburtstag von Vera Brandes. Immer wieder meldet sich der fiktive Jazzkritiker Michael Watts (Michael Chernus) zu Wort. Er vermittelt kurzweilig Hintergrundwissen über verpatzte Anfänge bei Aufnahmen und die Musikgeschichte.

Als während der Geburtstagsfeier die Ansprache von Vera Brandes‘ Vater (Ulrich Tukur) in einem Eklat endet, erinnert Brandes sich an ihre Anfänge als Konzertveranstalterin. Diese Erinnerungen bilden den ersten Teil des Films. Als Sechzehnjährige organisiert sie eine Tour für den Jazzsaxophonisten Ronnie Scott. Weitere von ihr organisierte Konzerte mit anderen Künstlern folgen.

Der zweite Teil des Films konzentriert sich dann auf Keith Jarrett (John Magaro). Er gibt in Lausanne ein Solokonzert. Zusammen mit Manfred Eicher (Alexander Scheer) als Fahrer und Watts, der Jarrett interviewen möchte, fahren sie in einer klapprigen Kiste nach Köln. In diesem Teil geht es um die künstlerischen Vorstellungen und Marotten von Jarrett. Eicher toleriert Jarretts Eigenheiten, weil er den Pianisten für ein Jahrhundertgenie hält, dessen musikalisches Geschenk an die Menschheit alles andere aufwiegt.

Im dritten Teil, bzw. der dritten LP-Seite, treffen dann Vera Brandes und Keith Jarrett aufeinander. Sie hat das Konzert am 24. Januar 1975 in der Kölner Oper organisiert und sich dafür mit 10.000 DM, was damals sehr viel Geld war, verschuldet. Am Nachmittag stellt sie in der menschenleeren Kölner Oper erschrocken fest, dass auf der Bühne der falsche Flügel steht und Jarrett sich weigert, auf ihm zu spielen. Zusammen mit ihren treuen Freunden, dicken Telefonbüchern, geduldigen Klavierstimmern und viel Lauferei versucht sie das geplante Konzert zu retten. Und auch wenn wir wissen, wie die Geschichte endet, fiebern wir mit.

Ido Fluk („The Ticket“) erzählt in seinem neuen Film „Köln 75“ mitreißend eine Hintergrundgeschichte, die interessant ist, bislang aber auch Jazzfans nicht so wahnsinnig interessierte. Normalerweise ist bei einzelnen Konzerten und sogar bei Festivals nichts über die teils chaotische Organisation des Konzertes bekannt. Schließlich steht das Geschehen auf der Bühne, – die Künstler und ihre Konzerte -, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Etwas seltsam ist, dass in einem Film, in dem es um Jazz, Keith Jarrett und das „Köln Concert“ geht, sehr wenig Jazz und überhaupt nichts von Keith Jarrett und dem „Köln Concert“ zu hören ist. Sie durften die Musik nicht verwenden. Fluk sagt dazu: „Die Wirkung dieser Musik würde sich in einem Film niemals entfalten können. Man könnte bestenfalls einen kleinen Ausschnitt wiedergeben. Und der würde nichts aussagen. Es ist das ganze Werk oder nichts. Das Köln-Konzert ist kein Popsong. Es ist ein langes, ambitioniertes, auch forderndes Stück Jazzmusik, das man am besten in Ruhe in Gänze anhört. Ich vermute, selbst Keith Jarrett würde mir zustimmen. Es ist eher so, dass man sich den Film ansieht und deshalb Lust bekommt, sich das Konzert zuhause anzuhören. Man geht heim und legt die Platte auf. Unabhängig vom Film. Denn in ‚Köln 75‘ geht es nicht um das Konzert. Es geht um Vera Brandes.“

Und Vera Brandes ist nicht einfach nur ein Mädchen, das einmal ein Konzert organisierte und später Hausfrau wurde. Wer zu den wenigen Menschen gehört, die sich bei Schallplatten und CDs auch für das Kleingedruckte interessieren, und wer zu den noch weniger Menschen gehört, die sich dafür interessieren, wer Tourneen und Konzerte organisiert, las öfter den Namen Vera Brandes. Sie organisierte Konzerte von Oregon, Pork Pie, Dave Liebman und Gary Burton; alles legendäre Jazzmusiker und Jazzgruppen. Sie gründete die Labels CMP, VeraBra und Intuition und veröffentlichte über 350 Alben, unter anderem von Nucleus, Charlie Mariano, Theo Jörgensmann, Mikis Theodorakis, Barbara Thompson, Andreas Vollenweider und den Lounge Lizards.

Der am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania (USA), geborene Keith Jarrett ist heute einer der bekanntesten und wichtigsten Jazzpianisten. Sein „Köln Concert“, von Eicher 1975 als Doppel-LP in der normal-spartanischen ECM-Ausstattung veröffentlicht, wurde zum Bestseller. Es ist die meistverkaufte Jazz-Soloplatte, die meistverkaufte Klavier-Soloplatte und Jarretts meistverkaufte und bekannteste Veröffentlichung. Es ist die Jazz-Platte, die auch Nicht-Jazzfans in ihrem Plattenschrank stehen haben.

Die Hintergründe des Konzerts waren lange unbekannt. Später wurde einiges darüber geschrieben, aber im Mittelpunkt der Rezeption der Aufnahme steht immer noch die Aufnahme und nicht die Umstände der Aufnahme. In Ido Fluks Film „Köln 75“ erfahren wir jetzt mehr über diese Umstände.

Fluks kurzweiliger und sehr stimmiger Rückblick in die Bundesrepublik Deutschland Mitte der siebziger Jahre ist eine Liebeserklärung an den Jazz als Musik und als Lebenshaltung und den jugendlichen Aufbruchsgeist, der ohne helfende Hände in mittleren Katastrophen enden kann. Denn ohne ihre Freunde und andere Helfer hätte Vera Brandes, die treibende Kraft bei der Organisation und der Werbung für das Konzert in der ausverkauften Oper, das Konzert nicht veranstalten können.

Und ohne Martin Wieland gäbe es keine Aufnahme von dem Konzert.

Köln 75 (Deutschland/Belgien/Polen 2025)

Regie: Ido Fluk

Drehbuch: Ido Fluk

mit Mala Emde, John Magaro, Michael Chernus, Shirin Eissa, Enno Trebs, Leo Meier, Leon Blohm, Ulrich Tukur, Jördis Triebel, Susanne Wolff, Daniel Betts, Alexander Scheer

Länge: 112 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Kinostart: 13. März 2025

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Filmportal über „Köln 75“

Moviepilot über „Köln 75“

Rotten Tomatoes über „Köln 75“

Wikipedia über „Köln 75“ (deutsch, englisch), „The Köln Concert“ (deutsch, englisch), Keith Jarrett (deutsch, englisch) und Vera Brandes (deutsch, englisch)

Berlinale über „Köln 75“

AllMusic über Keith Jarrett

ECM über Keith Jarrett

Rick Beato unterhält sich mit Keith Jarrett (2023)

Ein kleiner Ausschnitt aus einem 2016 aufgenommenem Solokonzert von Keith Jarrett


Neu im Kino/Filmkritik: „Music for black Pigeons“ und die Kunst der Pause

September 20, 2023

Für Jazzfans genügt die Information, dass in Jørgen Leth und Andreas Koefoeds Dokumentarfilm „Music for black Pigeons“ Jakob Bro, Lee Konitz, Bill Frisell, Paul Motian (ja, die Dreharbeiten zogen sich über einige Jahre hin), Joe Lovano, Palle Mikkelborg, Andrew Cyrille, Jon Christensen, Mark Turner, Thomas Morgan, Midori Takada und Manfred Eicher befragt werden und improvisieren.

Für Nicht-Jazzfans gibt es jetzt noch einige erklärende Worte.

Diese eben genannten Musiker sind seit teils seit Jahrzehnten Stars in der zeitgenössischen Jazzszene. Sie sind improvisierende Musiker zwischen Modern Jazz, Free Jazz und Avantgarde und sie sind fast alle ECM-Musiker. Wie auf den Platten des von Manfred Eicher 1969 gegründete Labels ECM geben auch die beiden Regisseure Jørgen Leth und Andreas Koefoed den Musikern viel Zeit, ihre Gedanken zu formulieren. Das gilt für ihre Improvisationen und die Interviews mit ihnen. Anstatt, wenn der Befragte ein, zwei Sekunden schweigt, sofort die nächste Frage zu stellen, warten sie ab. Besonders bei Thomas Morgan dauert es ewig, bis er langsam versucht eine Antwort zu formulieren, die ihn befriedigt und die Frage beantwortet. Und Manfred Eicher versucht zu erklären, was eine Pause ist und warum ihn die Musik, die er gerade gehört hat, so sehr berührt.

Die ersten Aufnahmen für die Dokumentation „Music for black Pigeons“ entstanden 2008. Damals trafen sich Andreas Koefoed und der deutlich ältere Jørgen Leth, der in den 1960ern über Lee Konitz geschrieben hatte, in New York im Avatar Studio bei den Aufnahmen für Jakob Bros erste internationale Aufnahme. Bei „Balledeering“ wurde der dänische Gitarrist Bro von Lee Konitz (Altsaxophon), Bill Frisell (Gitarre), Ben Street (Bass) und Paul Motian (Schlagzeug) begleitet. In den kommenden Jahren dokumentierten Koefoed und Leth, auf Veranlassung von Bro, weitere Aufnahmen und Live-Auftritte von ihm.

Trotzdem steht Jakob Bro bei diesem Dokumentarfilm nicht im Zentrum. Der Gitarrist wirkt eher wie Randfigur, die zufällig immer wieder im Bild ist. Die anderen Musiker, wie Bill Frisell, der Bassist Thomas Morgan und der 2020 verstorbene Lee Konitz, der bis zum Schluss nie seinen Humor und seine Neugierde verliert, scheinen wichtiger. Von Konitz ist auch der Titel des Films. Konitz habe sich, so erzählt Bro, gefragt, was für Musik sie aufgenommen hatten. Als er sich in seiner Wohnung die Aufnahme anhörte, setzte sich eine schwarze Taube auf seine Fensterbank und hörte sich die gesamte Aufnahme an. Danach flog sie weg und Konitz wusste, dass sie Musik für schwarze Tauben machten.

In der zweiten Hälfte wird die Doku etwas episodischer. Einige Musiker, wie Bill Frisell, verschwinden. Andere Musiker tauchen nur kurz auf und die beiden Regisseure verzichten darauf, den Film erkennbar an Jakob Bros Leben entlang zu erzählen oder ihm eine andere klar erkennbare narrative Struktur zu geben. Wichtiger ist ihnen, auch wenn sie nur Ausschnitte aus den Songs präsentieren, die improvisierte Musik und die Begegnungen mit den Musikern.

Music for black Pigeons (Music for black Pigeons, Dänemark 2022)

Regie: Jørgen Leth, Andreas Koefoed

Drehbuch: Jørgen Leth, Andreas Koefoed, Adam Nielsen

mit Jakob Bro, Lee Konitz, Thomas Morgan, Paul Motian, Bill Frisell, Mark Turner, Joe Lovano, Andrew Cyrille, Palle Mikkelborg, Jon Christensen, Manfred Eicher, Midori Takada

Länge: 92 Minuten

FSK: ab 0 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Music for black Pigeons“

Rotten Tomatoes über „Music for black Pigeons

Wikipedia über Jakob Bro (deutsch, englisch)

Homepage von Jakob Bro

All about Jazz über Jakob Bro

AllMusic über Jakob Bro (er hat den Film ja initiiert)

und jetzt dürfen Jørgen Leth und Andreas Koefoed (und später Jakob Bro) über ihren Film reden