Was steht in „Brodecks Bericht“?

November 3, 2017

Wenige Monate nach dem Krieg in einer gottverlassenen Gegend irgendwo in Frankreich. Am Rand von Frankreich, dort, wo die Einheimischen seit Jahrhunderten unter sich sind und Neuankömmlinge misstrauisch beäugen und es für Durchreisende nichts gibt, was auch nur den kleinsten Umweg oder Rast rechtfertigt, wird eines Abends Brodeck, als er die Dorfgaststätte betritt, aufgefordert, einen Bericht zu schreiben. Denn er war als einziger bei dem Ereignis nicht dabei. Sein Bericht soll objektiv sein, nichts verschweigen und sie, die Täter, entlasten.

Brodeck macht sich, die Machtverhältnisse kennend, an die Arbeit. Er ist selbst ein Zugezogener, der im Krieg in einem Lager war. Auch wenn Manu Larcenet es in seiner bedrückenden, auf Philippe Claudels Roman basierender Graphic Novel „Brodecks Bericht“ nicht ausdrücklich erwähnt, verraten die an mittelalterliche Stiche erinnernden atmosphärischen SW-Panels sofort, dass Brodeck in einem Konzentrationslager war.

Diese Wortkargheit ist die große Stärke von Larcenets Graphic Novel: wie in einem Stummfilm verraten die Bilder alles über die düstere, bedrohliche und gottverlassene Welt, in der Brodeck und die Dorfbewohner leben. Die Dialoge sind, das zeigen schon die ersten Seiten, nur noch knappe Ergänzungen zu den Panels. Zum Beispiel wenn Brodeck die Dorfgaststätte betritt und nicht auf eine fröhlich feiernde Versammlung, sondern einen bedrohlich schweigenden Mob, der nicht über seine Tat reden will, trifft. In diesem Moment weiß Brodeck, was passiert ist und er kann sich auch schon denken, warum der Fremde ermordet wurde.

Brodeck schreibt in seinem vom Dorfvorsteher geforderten Bericht auch über seine Erlebnisse im Lager und wie er dorthin kam. Er schreibt über sein Leben auf einem Einsiedlerhof mit seiner Frau und Tochter. Er erzählt auch die Vorgeschichte der Tat. Denn der von ihnen ermordete Fremde kam zu ihnen, hörte sich um und porträtierte sie in Bildern, die ihr wahres Wesen enthüllten. Aber wer lässt sich schon gerne einen Spiegel vorhalten?

Manu Larcenet schrieb und zeichnete auch die stilistisch vollkommen anders aussehenden, ebenfalls bei Reprodukt erschienen Werke „Blast“ und „Der alltägliche Kampf“.

Seine neuestes Werk „Brodecks Bericht“ ist ein bildgewaltiger Noir über eine verschworene Gemeinschaft, die ihre Verbrechen verschweigt und von Brodeck nur eine schriftliche Rechtfertigung für ihren Mord haben will.

Manu Larcenet: Brodecks Bericht

(übersetzt von Ulrich Pröfrock)

Reprodukt, 2017

328 Seiten

39 Euro

Originalausgabe

Le Rapport de Brodeck, Tome 1 & 2

Dargaud, Paris, 2015/2016

Hinweise

Reprodukt über Manu Larcenet

Wikipedia über Manu Larcenet (deutsch, französisch)

Meine Besprechung von Manu Larcenets „Blast: Augen zu und durch (Band 3)“ (Blast 3 – La Tête la première, 2012)


Manu Larcenet erzählt sehr noir vom „Blast“

Juli 21, 2014

Larcenet - Blast 3 - 2

Zwei Polizisten verhören einen dicken Mann. Ein Monstrum, das eine so unvorstellbare Tat begangen hat, dass die Beamten bis zum Äußersten gefordert sind und das Verhör mehrmals unterbrechen müssen. Dabei wissen wir in Manu Larcenets Comic „Blast“, dessen dritter Band „Augen zu und durch“ (von vier) kürzlich erschien, lange nicht, was Polza Mancini, 38 Jahre, ohne festen Wohnsitz, Alkoholiker, mehrfache Aufenthalte in der Psychiatrie, vorgeworfen wird. Denn er besteht darauf, dass er die Geschichte in seinem eigenen Tempo erzählt. Er erzählt von seiner Jugend, seiner Karriere als geachteter Gastrokritiker, wie er dann plötzlich sein Leben aufgab, in den Wald zog, eine neue Freiheit spürte und mit anderen gesellschaftlichen Außenseitern zusammenlebte. Er erzählt auch, wie er Carole Oudinot, die er später versuchte zu töten (sie liegt in einem künstlichem Koma), kennen lernte. Und er erzählt von seiner Drogensucht. Seinen geistigen Aussetzern, die er „Blast“ nennt und die von Manu Larcenet wie ein überirdischer Drogenrausch, bei dem alle Synapsen im Gehirn explodieren, in farbigen Panels gezeichnet wurde.
Allerdings nimmt Mancini es – wie die Polizisten öfter sagen – mit der Wahrheit nicht so genau. Daher könnte seine gesamte Geschichte auch das Hirngespinst eines Wahnsinnigen sein.
Manu Larcenet erzählt die Geschichte vor allem über die atmosphärischen SW-Panels, in denen die Menschen immer wieder grotesk überzeichnet sind und so einen Blick in Mancinis derangierte Psyche liefern. Das fasziniert von der ersten Seite an und weil „Blast“, trotz der Aufteilung in vier Bände (der vierte Band soll nächstes Jahr erscheinen), eine zusammenhängende, düstere Geschichte, nämlich die Biographie Mancinis in seiner Interpretation mit Korrekturen der Beamten, erzählt, sollte man sie unbedingt chronologisch lesen.

Manu Larcenet: Blast: Augen zu und durch (Band 3)
(übersetzt von Ulrich Pröfrock)
Reprodukt, 2014
208 Seiten
29 Euro

Orignalausgabe
Blast 3 – La Tête la première
Dargaud, 2012

Das Geständnis des Herrn Mancini
Blast: Masse (Band 1) (Blast 1 – Grasse Carcasse, 2009)
Blast: Die Apokalypse des Heiligen Jacky (Band 2) (Blast 2 – L’Apocalypse selon Saint Jacky, 2011)
Blast: Augen zu und durch (Band 3) (Blast 3 – La Tête la premieère, 2012)
Blast 4 – Pourvu que les bouddhistes se trompent, 2014

Hinweise
Homepage über Manu Larcenet
Reprodukt über Manu Larcenet
Wikipedia über Manu Larcenet (deutsch, französisch) und „Blast“