Neu im Kino/Filmkritik: „Emilia Pérez“, früher Gangsterboss, jetzt Wohltäterin

November 28, 2024

Auf dem Papier kann Jacques Audiards neuer Film nicht funktionieren. Im Kino funktioniert diese Mischung aus Musical, Gangsterfilm, Drama über eine Geschlechtsumwandlung, realistischem Sozialdrama und soapige Geschichte einer Wohltäterin mit dunkler Vergangenheit dann überraschend gut.

Alles beginnt damit, dass der gefürchtete mexikanische Kartellboss Manitas del Monte aus dem Verbrecherleben aussteigen möchte. Lebendig. Dafür engagiert er die junge Anwältin Rita Mora Castro (Zoe Saldaña). Sie ist hochintelligent und als kleine Zuträgerin in einer großen Kanzlei sträflich unterfordert. Die dankbare Kundschaft der Kanzlei besteht vor allem aus Schwerverbrechern und Drogenbossen.

Rita organisiert, fürstlich bezahlt und ohne das Wissen ihrer Vorgesetzten, del Montes Ausstieg aus dem Gangsterleben. Sie ordnet Finanzen und organisiert für seine Familie ein neues Leben in der Schweiz.

Außerdem organisiert sie noch die Erfüllung eines speziellen Wunsches von del Monte. Er will sein Geschlecht ändern und so endlich die Person werden, die er schon immer sein wollte. Außerdem: wer würde vermuten, dass sich hinter dem Gesicht einer attraktiven Frau ein brutaler, allseits gefürchteter, hässlicher Macho-Gangster verbirgt? Als zusätzliche Sicherheit für seine Familie und für sich inszeniert er seinen Tod.

Nach der Geschlechtsumwandlung ist Manitas del Monte Emilia Pérez (Karla Sofía Gascón). Aber die Vergangenheit lässt sie nicht los. Sie will wieder Kontakt zu ihren Kindern und ihrer Frau Jessi (Selena Gomez) haben. Rita organisiert das.

Außerdem kehrt Emilia wieder an ihren alten Wirkungsort zurück (was ich für sehr unglaubwürdig halte) und beginnt sich als Wohltäterin für ihre Gemeinschaft einzusetzen. Das halte ich für noch unglaubwürdiger; also nicht, dass sie ihr Geld für Wohltaten ausgibt und für ihre früheren Taten büßen möchte, sondern dass sie ihr Geld für Wohltaten an dem Ort ausgibt, an dem es von alten Bekannten wimmelt und an jeder Ecke mindestens eine Person ist, die del Monte umbringen möchte.

Die Story von „Emilia Pérez“ ist reinster Pulp. Gesang und Tanz sind, auch wenn der Film dann nicht oder nur verschämt als Musical beworben wird, im Moment sehr beliebt bei Regisseuren. Aber Audiard nimmt nicht den Weg in Richtung Fantasie, sondern in Richtung Edel-Telenovela.

Seine Premiere hatte „Emilia Pérez“ im Hauptwettbewerb des 77. Filmfestivals von Cannes. Dort erhielt er unter anderem den Preis der Jury und den für die beste Schauspielerin, der in diesem Fall an Karla Sofía Gascón, Selena Gomez, Adriana Paz und Zoe Saldaña ging. Danach lief er erfolgreich auf mehreren Festivals. Aktuell ist er für mehrere Europäische Filmpreise noniniert, unter anderem als bester Film, beste Regie und beste Darstellerin. Und er ist Frankreichs Einreichung bei den Oscars als bester internationaler Film.

Emilia Pérez (Emilia Pérez, Frankreich 2024)

Regie: Jacques Audiard

Drehbuch: Jacques Audiard

LV (frei nach): Boris Razon: Ecoute, 2018

mit Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez, Adriana Paz, Mark Ivanir, Édgar Ramírez

Länge: 133 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Emilia Pérez“

AlloCiné über „Emilia Pérez“

Metacritic über „Emilia Pérez“

Rotten Tomatoes über „Emilia Pérez“

Wikipedia über „Emilia Pérez“ (deutsch, englisch, französisch)

Meine Besprechung von Jacques Audiards „The Sisters Brothers“ (The Sisters Brothers, Frankreich/Spanien/Rumänien/USA/Belgien 2018)

Meine Besprechung von Jacques Audiards „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ (Les Olympiades, Frankreich 2021)


Neu im Kino/Filmkritik: Über Miranda Julys „Kajillionaire“

Oktober 22, 2020

Sie sind keine normale Familie: Robert (Richard Jenkins), Theresa (Debra Winger) und ihre Tochter Old Dolio (Evan Rachel Wood) sind Diebe am untersten Ende der Futterleiter. Der Film beginnt mit einem ihrer Diebstähle. Old Dolio klaut äußerst gelenkig ein Päckchen, irgendein Päckchen, aus einem Postfach. Danach sind einige Geldbeutel dran. Preisausschreiben werden mitgenommen (auch wenn sie nicht über jeden Gewinn erfreut sind) und natürlich hätte man gerne einen Finderlohn für geklaute Gegenstände. Zum Einsammeln des Finderlohns wird oft die immer noch wie ein Schulmädchen in der Kurt-Cobain-Slacker-Grunge-Phase aussehende Mittzwanzigerin Old Dolio vorgeschickt.

Für ihre gewaltfreien Diebestouren betreiben die Familie Dyne angesichts des realen und des möglichen Gewinns einen absurd hohen Aufwand. Die Gesellschaft mit ihren bürgerlichen Konventionen verachten sie. Sie halten zusammen und teilen alles durch drei. Das war schon immer so; – jedenfalls seitdem Old Dolio sich erinnern kann.

Robert und Theresa sind Verbrecher, die ihre Tochter zu einer Verbrecherin ausbildeten, manipulieren, ausnutzen und ihr den normalen Umgang mit anderen Menschen verwehren. Damit verhalten sie sich wie die Oberhäupter einer Sekte. Trotzdem sind sie nicht vollkommen unsympathisch.

Sie sind einem sogar ziemlich sympathisch. Das liegt an dem offensichtlichem Unterschied zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Sie schlawinern sich durch das Leben. Sie agieren gewaltfrei und die akribische Vorbereitung ihrer kleinen Coups ist erheiternd.

Die Dynes wohnen in einem schäbigen Büro, das nur deshalb so günstig ist, weil von der Decke zu bestimmten Uhrzeiten Seifenschaum herunterfließt, den sie auffangen müssen. Mit der Miete sind sie schon einige Monate im Rückstand. Um an das Geld für die Miete zu kommen, ersinnen sie einen unglaublich komplizierten Plan mit vertauschten und verlorenen Koffern und einer Erstattung der Fluggesellschaft für verlorenes Gepäck.

Bevor sie diesen Plan ausführen, schicken Robert und Theresa Old Dolio zu einem reichen Ehepaar. Old Dolio bringt ihnen ihren ‚verlorenen‘ Geldbeutel zurück. Der Patriarch Robert erhofft sich einen satten Finderlohn. Aber Old Dolio erhält nur den Gutschein für eine Massage. Ihre Eltern sind enttäuscht. Was sollen sie mit einer Massage anfangen? Also soll Old Dolio versuchen, den Gutschein gegen Geld einzutauschen. Weil die Masseuse damit nicht einverstanden ist, erklärt sich Old Dolio bereit, sich massieren zu lassen. Obwohl sie panische Angst vor Berührungen hat.

Die darauf folgende berührungslose Massage ist der Beginn eines Prozesses, in dem Old Dolio ihr bisheriges Leben und ihre Beziehung zu ihren Eltern hinterfragt. Diese Emanzipation ist für Miranda July („The Future“) das erzählerische Rückgrat, um ihrem weitgehend episodischem und improvisiert wirkendem Film eine gewisse Struktur zu verleihen. Den zweiten, größeren Riss bekommt Old Dolios Leben, als ihre Eltern bei einem Rückflug von New York nach Los Angeles Melanie (Gina Rodriguez) kennen lernen. Sie finden sie sympathisch. Sie wird auch sofort in ihren nächsten Coup, der den Dynes das Geld für ihre Miete einbringen soll, einbezogen und in die Familie aufgenommen. Melanie ist fasziniert von dem gesetzlosen Leben der Dynes und sie zeigt Old Dolio die Möglichkeit eines normalen, eines bürgerlichen Lebens auf.

Für einen kleinen Independent-Film ist „Kajillionaire“ mit Evan Rachel Wood, Richard Jenkins, Debra Winger und Gina Rodriguez in den Hauptrollen erstaunlich hochkarätig besetzt. Denn „Kajillionaire“ sieht immer wie der kleine improvisierte Independent-Film aus, der vor allem mit Freunden des Regisseurs besetzt ist. Aber Multimediakünstlerin Miranda July ist eine bekannte Künstlerin und die Schauspieler verschwinden hinter ihren Rollen.

Kajillionaire (Kajillionaire, USA 2020)

Regie: Miranda July

Drehbuch: Miranda July

mit Evan Rachel Wood, Gina Rodriguez, Richard Jenkins, Debra Winger, Mark Ivanir, Diana Maria Riva, Adam Bartley, Michael Twaine

Länge: 105 Minuten

FKS: ab 0 Jahre (seltsame Bewertung; der Trailer ist „frei ab 6 Jahre“ und der Film ist für ein höheres Alter gedacht)

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Kajillionaire“

Metacritic über „Kajillionaire“

Rotten Tomatoes über „Kajillionaire“

Wikipedia über „Kajillionaire“ 


Neu im Kino/Filmkritik: Über Sam Garbarskis neuen Film „Es war einmal in Deutschland…“

April 8, 2017

Frankfurt am Main, 1946: die Stadt liegt in Trümmern. Die amerikanischen Besatzer überprüfen die Nazi-Vergangenheit der Deutschen. Der Jude David Bermann (Moritz Bleibtreu), der die Nazi-Zeit im KZ überlebte, will jetzt, mehr oder weiger schnell, in die USA, das gelobte Land. Dafür braucht er Geld, das er sich mit dem Handel von feinster Wäsche an deutsche Frauen verdienen will. Das hat er schon vor dem Krieg in dem seiner Familie gehörendem, noblen Wäschehaus gemacht.

Allerdings verweigert die US-Militärregierung ihm die Geschäftslizenz. Im Transitlager, in dem er lebt, bequatscht er einen anderen Juden, die Lizenz zu beantragten. Dann scharrt er einige Juden um sich, die mit ihm das Geschäft eröffnen. Als Wäscheverkäufer reisen sie, höchst erfolgreich, durch das vom Krieg zerstörte Land.

Zur gleichen Zeit muss Bermann, was er vor seinen Geschäftspartnern verschweigt, immer wieder in das US-Hauptquartier. Dort verhört ihn US Special Agent Sara Simon (Antje Traue). Sie glaubt, dass Bermann mit den Nazis zusammenarbeitete. Das würde sein Überleben im KZ, seinen Besuch auf dem Obersalzberg und seine beiden Pässe erklären

Also beginnt Bermann ihr seine Geschichte, die wir in Rückblenden sehen, zu erzählen. Und dass der Überlebenskünstler es dabei mit der Wahrheit nicht so genau nimmt, wissen wir schon bevor er seinen Mund aufmacht.

Es war einmal in Deutschland..“ hat eine schöne Idee – Juden, die nach dem Krieg in Deutschland ihr Glück versuchen -, die auf zwei semi-autobiographischen Romanen von Michael Bergmann (Jahrgang 1945) basiert. Zusammen mit Regisseur Sam Garbarski (Jahrgang 1948) schrieb er das Drehbuch, das aus der schönen Ausgangsidee wenig macht.

Die viel zu ausführlichen Rückblenden in die Nazi-Zeit, in denen Berman Simon von seinen Erlebnissen im KZ und wie er es überlebte, erzählt, stören nur die in der Gegenwart spielende Geschichte. Sie bringen sie nicht voran. Sie steigern auch nicht die Spannung. Schon bei der ersten Begegnung von Bermann und Simon ist klar, dass er ihr irgendetwas vorflunkern und so seinen Hals aus der Schlinge ziehen wird. Schließlich ist Bermann ein Schlawiner. Ein geborener Verkäufer, der aus einer Händlerdynastie stammt. Bis jetzt überlebte er, weil er, immer auch auf seinen eigenen Vorteil bedacht, den Menschen das erzählte, was sie hören wollten.

Entsprechend wenig steht für ihn während des gesamten Films auf dem Spiel. Da hilft es auch nichts, dass Moritz Bleibtreu sich hundertfünfzigprozentig in die Rolle wirft und Bermann als sympathischen Schlawiner, dem man gerne zuhört, porträtiert.

In der Gegenwart verschenkt Garbarski die wenigen Ansätze für ein Sittengemälde des Nachkriegsdeutschlands. Bermanns Verkäufer bleiben, obwohl es ein Ensemblefilm ist, austauschbare Nebenfiguren. Die Verkaufstouren und -gespräche bleiben im anekdotenhaften stecken. Und das gezeigte Kriegs- und Nachkriegsdeutschland hat immer den Flair einer sauber hergerichteten Kulisse.

Garbarski erzählt das alles recht gemütlich-bräsig mit einem biederen Fünfziger-Jahre-Humor, der niemand weh tut und sich mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner begnügt. Bekanntes wird lediglich bestätigt, während der Film, zwischen Gegenwart und Vergangenheit wechselnd, eine Anekdote an die nächste reiht.

Insofern bewegt sich der neue Film des „Irina Palm“-Regisseurs in den gleichen altmodischen Gewässern wie sein vorheriger Film „Vijay und ich“. Der war ebenfalls mit Moritz Bleibtreu und er war auch damals der Grund, sich den Film anzusehen.

Es war einmal in Deutschland… (Deutschland/Luxemburg/Belgien 2017)

Regie: Sam Garbarski

Drehbuch: Michael Bergmann, in Zusammenarbeit mit Sam Garbarski

LV: Michael Bergmann: Die Teilacher, 2010; Machloikes, 2011

mit Moritz Bleibtreu, Antje Traue, Tim Seyfi, Mark Ivanir, Anatole Taubman, Hans Löw, Pál Mácsai, Václav Jakoubek

Länge: 102 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Facebook-Seite zum Film

Filmportal über „Es war einmal in Deutschland…“

Moviepilot über „Es war einmal in Deutschland…“

Meine Besprechung von Sam Garbarskis „Vijay & ich – Meine Frau geht fremd mit mir“ (Vijay and I, Deutschland/Belgien/Luxemburg 2012)