Neu im Kino/Filmkritik: „Kein Tier. So Wild.“ – Shakespeares „Richard III.“ in Neukölln

Mai 9, 2025

1995 verlegte Richard Loncraine William Shakespeares Stück „Richard III.“ in die dreißigerJahre in ein faschistisches London. Wenige Monate später begab Al Pacino sich in „Looking for Richard“ in seiner sehr, sehr freien „Richard III“-Interpretation im gegenwärtigem Manhattan auf die Suche nach der Essenz des Stückes. Und jetzt verlegt Burhan Qurbani („Berlin Alexanderplatz“) in seinem neuen Film „Kein Tier. So Wild.“ das Shakespeare-Stück in das heutige Berlin, das weniger wie das heutige Berlin, sondern wie eine Mischung aus dystopischer „Gotham City“-Metropole und exzessiv genutzter Theaterbühne aussieht. Die Shakespeare-Sätze funktionieren auch in diesem Umfeld prächtig.

In diesem Kunst-Berlin kämpfen die in Neukölln residierenden arabischen Verbrecherclans York und Lancaster gegeneinander.

Im Mittelpunkt steht Rashida York (Kenda Hmeidan), die die Macht übernehmen möchte, keinerlei Skrupel hat und doch eine Ehe mit Ali Lancaster akzeptieren soll. Sie ist Burhan Qurbanis Richard III. Ihr Gebrechen ist ihr Geschlecht.

Qurbani und seine vom Theater kommende Co-Autorin Enis Maci interpretieren Shakespeare frei, dekonstruieren und rekonstruieren ihn – und das ist für Shakespeare-Kenner sicher aufregend. Für alle anderen ist ihre Interpretation ein immer wieder zwiespältiges Vergnügen, das von der Inszenierung und dem Schauspiel überzeugender als vom Inhalt ist. Die Story und die Konfliktlinien sind in den Details kaum nachvollziehbar. Dafür gibt es immer wieder große Auftritte, meistens in Innenräumen, expressives Spiel, sich in den Vordergrund drängende Bilder und ein dissonant-laut dröhnender Sound, der kaum Musik genannt werden kann.

In der zweiten Hälfte, nachdem der von Rashida befohlene Mord an zwei jugendlichen Thronfolgern, die im Tower sitzen, durchgeführt wurde, wird der Film zu einem an einem Ort spielendem Kammerspiel. Dieser Ort ist eine Theaterbühne in einer Lagerhalle, die zu einem Wüstenset mit einem Autowrack umgebaut und expressiv ausgeleuchtet wurde. In dem Auto fantasiert Rashida zwischen Gegenwart, Vergangenheit, Traum und wohl auch Irrsinn über ihr Leben. Ungefähr vierzig Minuten pausiert der Plot zugunsten eines, vor allem in dieser Länge, nicht weiter erhellenden, sondern todsterbenslangweiligen Aneinanderreihung von Gedanken- und Erinnerungsfetzen.

Schauspielerisch und visuell ist der Film dagegen durchgehend aufregend. Qurbani besetzte die Rollen fast ausschließlich mit unbekannten, oft vom Theater kommenden Gesichtern. So gehörte Rashida-Darstellerin Kenda Hmeidan, die auch in Tom Tykwers „Das Licht“ mitspielte, von 2016 bis 2024 zum Ensemble des Maxim-Gorki-Theaters. Diese Schauspieler können die Theatersätze unfallfrei, mit Verve und großer theatralischer Geste in oft langen Szenen präsentieren.

Qurbanis Stammkameramann Yoshi Heimrath findet dazu die passenden Bilder, die aus einem Gerichtssaal oder einem Büro eine große Bühne machen. Es sind Bilder, die an bildgewaltige französische Filme, wie zuletzt Gilles Lellouches „Beating Hearts“ oder die frühen Filme von Luc Besson, wie „Subway“ und „Nikita“, erinnern.

Kein Tier. So Wild.“ ist, wie sein vorheriger Film „Berlin Alexanderplatz“ (in dem er Alfred Döblins Roman in die Gegenwart verlegte), in jedem Fall mutiges und aufregendes Kino, das nichts mit dem Mittelmaß der meisten deutschen Filme zu tun haben will und das aus Bildern für die Kinoleinwand komponiert wurde. Allerdings ist nicht alles gelungen und gerade die zweite Hälfte, wenn die Geschichte sich in Rashidas Kopf abspielt, ist größtenteils unerträglich langweilig in einem Film der genau das nicht sein will.

Kein Tier. So Wild. (Deutschland/Frankreich/Polen 2025)

Regie: Burhan Qurbani

Drehbuch: Burhan Qurbani, Enis Maci

LV: William Shakespeare: Richard III., 1597 (erste Druckfassung) (Richard III.)

mit Kenda Hmeidan, Verena Altenberger, Hiam Abbass, Mona Zarreh Hoshyari Khah, Mehdi Nebbou, Meriam Abbas, Banafshe Hourmazdi

Länge: 142 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Kein Tier. So Wild.“

Moviepilot über „Kein Tier. So Wild.“

Rotten Tomatoes über „Kein Tier. So Wild.“

Wikipedia über „Kein Tier. So Wild.“ (deutsch, englisch)

Berlinale über „Kein Tier. So Wild.“

Meine Besprechung von Burhan Qurbanis „Berlin Alexanderplatz“ (Deutschland 2020)


Neu im Kino/Filmkritik: „Unser Fluss…unser Himmel“, unsere Stadt Bagdad

Juli 6, 2023

Gehen oder bleiben? Das fragen sich in Maysoon Pachachis „Unser Fluss…unser Himmel“ viele der im Film gezeigten Figuren. Ende 2006, nach der US-Invasion und dem Sturz von Saddam Hussein, ist die Situation in der Damals-Fünf-Millionstadt Bagdad immer noch unruhig. Straßenblockaden, Bombenanschläge, Hass, Gewalt, Intoleranz und die alltäglichen Probleme des Überlebens in einer Stadt, in der eigentlich nichts funktioniert bestimmen das Leben der dort lebenden Iraker. Pachachi begleitet in ihrer „Short Cuts“-Variante einige von ihnen einige Tage.

Zum Beispiel Sara, eine Schriftstellerin mit Schreibblockade. Die warmherzige Mutter fragt sich, ob sie mit ihrer Tochter die Stadt verlassen soll. Aber ihrer Tochter Reema scheint mit diesem Leben keine Probleme zu haben. Sie kennt auch kein anderes Leben. Um sie herum gruppieren sich andere Figuren, wie eine ehemalige Schauspielerin und Christin, ein ehemaliger iranischer Kriegsgefangener und seine schwangere Frau, eine sich mit Musik und Mode ablenkende Studentin und ein Beamter, der sich fragt, ob er sich bestechen lassen oder die Stadt verlassen soll.

Pachachi und ihre Co-Autorin Irada Al-Jubori erzählen viele kleine, in einem Stadtviertel spielende Geschichten zwischen Alltag und Alltag. Oft ohne einen richtigen Anfang und ohne ein richtiges Ende. Sie konzentrieren sich auf den Alltag der kleinen Leute. Niemand von ihnen wird den Lauf der Geschichte ändern, aber Geschichte wird nie ohne sie gemacht.

Aus diesen Vignetten entsteht das zurückhaltend inszenierte Bild einer Stadt und eines Landes im Schwebezustand.

Unser Fluss…unser Himmel“ ist der erste international produzierte Spielfilm einer irakischstämmigen Regisseurin. Die in London lebende Maysoon Pachachi studierte Philosophie am University College London und Film an der London Film School. Seit fast dreißig Jahren arbeitet sie als unabhängige Dokumentarfilmregisseurin. Viele ihrer Dokumentarfilme, wie „Iranian Journey“ (1999) und „Return to the Land of Wonders“ (2004; ihr Film über ihre Rückkehr nach Bagdad nach über 35 Jahren), beschäftigen sich mit dem Mittleren Osten.

Ihre Co-Autorin Irada Al-Jubori lehrt am College of Mass Communication der Universität Bagdad und sie ist Schriftstellerin. Sie veröffentlichte bereits einen Roman und mehrere Sammlungen mit Kurzgeschichten. Die beiden Frauen trafen sich 2006/2007 bei dem partizipativen Photoprojekt „Open Shutters Iraq“, in dem Frauen aus fünf irakischen Städten für eine Ausstellung, einen Bildband und einen Dokumentarfilm Bildgeschichten über ihr Leben erstellten. Al-Jubori war die irakische Projektmanagerin. Pachachi drehte den Dokumentarfilm „Our Feelings took the Pictures“ über das Projekt. 2011 schrieben Pachachi und Al-Jubori die erste Fassung des Drehbuch von „Unser Fluss…unser Himmel“. 2012 erhielt es beim Dubai International Film Festival den mit 100.000 US-Dollar dotierten IWC Schaffhausen Gulf Filmmaker Award. Die Dreharbeiten waren 2019 im Irak in den Großstädten Bagdad und Sulaimaniyya. Die Premiere des Films war 2021 auf dem Sarajevo Filmfestival.

Unser Fluss…unser Himmel (Our River… Our Sky [Internationaler Titel], Frankreich/Großbritannien/Deutschland/Kuwait/Vereinigte Arabische Emirate/Katar 2021)

Regie: Maysoon Pachachi

Drehbuch: Maysoon Pachachi, Irada Al-Jubori

mit Darina Al Joundi, Zainab Joda, Basim Hajar, Labwa Arab, Amed Hashimi, Meriam Abbas, Mahmoud Abo Al Abbas, Badia Obaid, Zaydun Khalaf, Suzan Muneam, Sami Al-Ali, Siham Mustafa, Kholod Mohamad, Ali El Kareem, Kameran Raoof, Mustafa Mohammed, Muslem Hassoun

Länge: 117 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Der arabische Titel ist „Kulshi Makoo“.

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Unser Fluss…unser Himmel“

Moviepilot über „Unser Fluss…unser Himmel“

Rotten Tomatoes über „Unser Fluss…unser Himmel“


TV-Tipp für den 14. Februar: Baghad in my shadow

Februar 13, 2023

3sat, 22.55

Baghdad in my shadow (Deutschland/Schweiz/Großbritannien 2019)

Regie: Samir

Drehbuch: Samir, Furat al Jamil

In London ist das Café „Abu Nawas“ für Exil-Iraker ein beliebter Treffpunkt. Als ein Geheimdienstler, der unter Saddam Hussein diente, eintrifft und sich mit einem lokalen Hassprediger, der das weltoffene Café hasst, zusammen tut, ist die fragile Gemeinschaft gefährdet.

TV-Premiere. Das „Lexikon des internationalen Films“ war nur so halb überzeugt: „Das Panorama einer postmigrantischen Gesellschaft fällt recht schematisch aus. (…) dialoglastige Dramaturgie.“

mit Haytham Abdulrazaq, Zahraa Ghandour, Waseem Abbas, Maxim Mehmet, Shervin Alenabi, Meriam Abbas, Awatif Naeem, Kerry Fox, Hazel O’Connor

Hinweise

Filmportal über „Baghad in my shadow“

Rotten Tomatoes über „Baghdad in my shadow“

Wikipedia über Samir

Meine Besprechung von Samirs „Iraqi Odyssey“ (Schweiz/Deutschland/Irak 2014)